Öffentliche Auftraggeber dürfen Bieter zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens ausschließen, wenn Ausschlussgründe vorliegen. Das bedeutet auch, dass sie in eine erneute Eignungsprüfung eintreten müssen, wenn sie im Laufe des Vergabeverfahrens von neuen belastenden Umständen erfahren. Ein Ausschluss wegen der nachweislichen Begehung einer schweren Verfehlung erfordert dabei keine rechtskräftige Verurteilung.
§ 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB
Sachverhalt
Ein öffentliche Auftraggeber schrieb Dolmetscherdienstleistungen in einem EU-weiten Offenen Verfahren aus. Der unterlegene Antragsteller griff die Zuschlagsentscheidung im Juni 2017 aus verschiedenen Gründen vor der Vergabekammer an. Im Laufe des langwierigen Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer machte er erstmals im Februar 2018 geltend, dass der für den Zuschlag in Aussicht genommene Mitbewerber mangels Eignung auszuschließen sei. Hintergrund dessen war, dass gegen den ehemaligen ersten Vorsitzenden des Mitbewerbers wegen der Veruntreuung von gemeinnützigen und/oder öffentlichen Mitteln ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde. Deshalb sei der Mitbewerber nach Ansicht des Antragstellers gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 123 Abs. 3 GWB als ungeeignet vom Vergabeverfahren auszuschließen.
Nachforschungen des Auftraggebers ergaben, dass der Hinweis des Antragstellers richtig war. Den Mitbewerber hielt er dennoch für geeignet. Denn ein Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB erfordert, dass der Bieter „nachweislich eine schwere Verfehlung“ begangen hat. Bloße Ermittlungen, in die der Auftraggeber keinen Einblick hat und die nicht wenigstens in einem Haftbefehl oder der Eröffnung des Hauptverfahrens münden, seien für die Nachweislichkeit nicht ausreichend.
Mitte März 2018 stellte sich heraus, dass gegen den Ersten Vorsitzenden des erstplatzierten Bieters zwischenzeitlich ein Haftbefehl erlassen wurde. Darauf wies der Antragsteller im Verfahren vor der Vergabekammer hin. Der Auftraggeber hielt auch nach Kenntnis hiervon an der Eignung des Mitbewerbers fest und lehnte einen Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB ab.
Die Vergabekammer hielt die Auslegung des Auftraggebers für zu eng und führte in ihrem Beschluss im April 2018 unter anderem aus:
„Es bedarf aber nicht in jedem Fall eines durch die Erhebung der Anklage oder sogar rechtskräftige Verurteilung erschwerten Verdachts auf das Vorliegen einer Straftat. … Vielmehr kommt es darauf an, ob der Verdacht des Vorliegens einer Straftat in dem konkreten Einzelfall bereits eine schwerwiegende berufliche Verfehlung ausreichend nahelegt.“
Im Beschwerdeverfahren vor dem OLG Düsseldorf – der Erste Vorsitzende des Mitbewerbers war nach etwa zweimonatiger Untersuchungshaft wieder auf freiem Fuß – verwies der Auftraggeber insbesondere auf die für den Mitbewerber und seinen gesetzlichen Vertreter geltende Unschuldsvermutung nach Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 6 Abs. 2 EMRK. Hiernach sei ein Ausschluss auf Grundlage der wenigen bekannten Tatsachen unzulässig.
Die Entscheidung
Ohne Erfolg! Der Vergabesenat folgte dem Antragsteller und hielt die Eignungsprüfung des Auftraggebers für unzureichend. Denn spätestens nach Kenntnis von der Inhaftierung hätte sich der Auftraggeber erneut ausführlich mit dem Ausschlusstatbestand des § 123 Abs. 1 Nr. 3 GWB und gegebenenfalls auch mit einer Selbstreinigung nach § 125 GWB befassen müssen (der Erste Vorsitzende wurde zwischenzeitlich abberufen und der Verein kooperierte mit den Ermittlungsbehörden und dem Finanzamt zur Aufdeckung möglicher Verfehlungen).
Hinsichtlich der Nachweislichkeit einer schweren Verfehlung bestätigte der Vergabesenat die Auffassung der Vergabekammer und führte aus:
„Voraussetzung für die Nachweislichkeit im Sinne des § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB ist, dass konkrete, z.B. durch schriftlich fixierte Zeugenaussagen, sonstige Aufzeichnungen, Belege oder Schriftstücke nachweisbare objektivierte Anhaltspunkte für die in Rede stehenden Verfehlungen bestehen … Eine bereits rechtskräftige Feststellung der Pflichtverletzung oder die Verurteilung wegen einer Straftat ist nicht erforderlich“
Die Auffassung des Auftraggebers, wonach die Unschuldsvermutung einem Ausschluss des Mitbewerbers vom Vergabeverfahren entgegenstehe, wies der Vergabesenat ebenfalls zurück. Hierzu heißt es in dem Beschluss weiter:
„Die Tatsache, dass sich der ehemalige erste Vorsitzende des Beigeladenen über einen Zeitraum von mindestens zwei Monaten in Untersuchungshaft befunden hat, könnte nahelegen, dass nachweisbare objektivierte Anhaltspunkte für die vorgenannten Verfehlungen bestehen. Untersuchungshaft setzt voraus, dass die Staatsanwaltschaft und das die Haft anordnende Gericht aufgrund der vorliegenden Beweise einen dringenden Tatverdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO bejahen. Dringender Tatverdacht besteht, wenn nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis in seiner Gesamtheit die hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer eine Straftat begangen hat und deshalb verurteilt werden wird.“
Zwar vermied der Vergabesenat eine Aussage dazu, ob der Nachweis der schweren Verfehlung letztlich erbracht sei. Schließlich handelt es sich dabei um eine allein dem Auftraggeber obliegende Entscheidung. Der Senat beanstandete aber, dass sich der Auftraggeber mit den neuen Tatsachen nicht ausreichend auseinandergesetzt habe. Ein genereller Rückzug auf die Unschuldsvermutung und den fehlenden Nachweis einer schweren Verfehlung sei nicht ausreichend.
Bewertung
In seinem Beschluss vom 17.01.2018 (VII-Verg 39/17) führte der Vergabesenat noch aus, dass § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB („wettbewerbswidrige Absprachen„) der einzige Ausschlussgrund sei, bei dem ein Verstoß nicht feststehen müsse. Nunmehr soll es nach Ansicht des Vergabesenats auch für den Ausschluss eines Bieters nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB ausreichen, wenn „nachweisbare objektivierte Anhaltspunkte“ mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ für eine nachweislich schwere Verfehlung sprechen. Eine rechtskräftige Feststellung oder die Verurteilung wegen einer Straftat sollen dafür entgegen des Wortlauts („nachweislich“) nicht mehr erforderlich sein.
Besteht kein Interesse daran, einen Bieter von einem Vergabeverfahren auszuschließen oder weiß der öffentliche Auftraggeber schlicht nicht, was der Wahrheit entspricht, macht es ihm die Entscheidung künftig schwerer: Ein Verweis auf die Unschuldsvermutung wird nicht ausreichen, wenn zumindest deutliche Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten vorliegen. Ein Haftbefehl kann schon genügen, um eine schwere Verfehlung anzunehmen. Verfassungsrechtlich ist das bedenklich. Denn der Bieter bzw. sein Vertreter gilt strafrechtlich als unschuldig. Vergaberechtlich wird er aber schon so behandelt, als wäre die Verfehlung begangen worden, obwohl eine abschließende Klärung noch aussteht. So wird die Einheit der Rechtsordnung zum Nachteil des betroffenen Bieters durchbrochen.
Soweit öffentliche Auftraggeber über erhebliche gesicherte Erkenntnisse von Verfehlungen verfügen, werden sie die Entscheidung hingehen begrüßen. Denn sie eröffnet ihnen Spielräume und zwingt sie nicht dazu, das Vergabeverfahren auszusetzen, bis eine rechtskräftige Entscheidung vorliegt, wo erheblich belastende Tatsachen vorliegen. Angesichts möglicher Rechtsmittel in Strafverfahren könnte dies schließlich leicht zu langen Verzögerungen führen und wäre kaum praktikabel.
Fazit
Die Prüfung von Ausschlussgründen in laufenden Vergabeverfahren ist vergaberechtlich anspruchsvolles Terrain. Einerseits müssen öffentliche Auftraggeber beachten, dass Ausschlussgründe grundsätzlich eng auszulegen sind. Im Zweifel tragen sie die Beweislast für deren Vorliegen. Andererseits dürfen an das Vorliegen von Ausschlussgründen auch keine überhöhten Anforderungen gestellt werden, wenn erhebliche Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten vorliegen.
In jedem Fall bleibt es dabei, dass öffentliche Auftraggeber bei der Entscheidung über das (Nicht-)vorliegen von Ausschlussgründen einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Ermessens- und Beurteilungsspielraum haben. Setzt sich ein Auftraggeber mit allen bekannten Tatsachen eingehend auseinander und kommt er auf dieser Grundlage zu einer fundiert begründeten Entscheidung, stehen die Chancen gut, dass diese einer gerichtlichen Überprüfung standhält.
Herr Dr. Daniel Soudry ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner der Sozietät SOUDRY & SOUDRY Rechtsanwälte (Berlin). Herr Soudry berät bundesweit öffentliche Auftraggeber und Unternehmen bei Ausschreibungen, in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren und im Öffentlichen Wirtschaftsrecht. Darüber hinaus publiziert er regelmäßig in wissenschaftlichen Fachmedien zu vergaberechtlichen Themen und tritt als Referent in Fachseminaren auf.
Das „nachweislich“ ist natürlich fraglich, aber wieso wird „die Einheit der Rechtsordnung zum Nachteil des betroffenen Bieters durchbrochen“ wenn ein fakultativer (!) Ausschlussgrund es dem öffentlichen Auftraggeber ermöglicht, keinen Vertrag mit einem Unternehmen abschließen zu müssen, dessen Verantwortlicher einer für das Verfahren relevanten Straftat dringend verdächtig ist? Genau so könnte man doch argumentieren, dass es gerade für die Einheit der Rechtsordnung spricht, wenn die staatliche Feststellung von dringendem Tatverdacht und Haftgrund auch im Recht der öffentlichen Auftragsvergabe bestimmte Wirkungen zeitigt.
Hallo Herr Mahn,
danke für Ihren Kommentar, so kann man natürlich auch argumentieren.
Entgegen halten möchte ich Folgendes:
Die Unschuldsvermutung hat Verfassungsrang. Nach ihr hat in der gesamten Rechtsordnung eine Person so lange als unschuldig zu gelten wie ihre Schuld nicht bewiesen ist. Demnach ist auch das Institut der Untersuchungshaft eine Durchbrechung dieses Grundsatzes. Sie wird aber aus übergeordneten Interessen der Strafverfolgung hingenommen und akzeptiert.
Ob das Vergaberecht von dieser engen Ausnahme abgesehen eine weitere Durchbrechung verlangt, darf durchaus bezweifelt werden. So können Ausschlüsse von Vergabeverfahren zu irreparablen Folgen führen.
Auch Art. 57 Abs. 4 S. 1 it. c) der Richtlinie 2014/24/EU spricht von „nachweisen“. Der Begriff ist eindeutig und dass aus einem „Nachweis“ im Wege der Richterauslegung „nachweisbare objektivierte Anhaltspunkte“ werden, sollte kritisch hinterfragt werden, zumal die Ausschlussgründe nach ständiger Rechtsprechung nicht analogiefähig und im Grundsatz eng auszulegen sind.
Es gilt wie so oft: Wenn es „den Richtigen“ trifft, wird man Ihnen leicht zustimmen. Es gibt aber eben auch immer wieder Fälle, in denen Ermittlungen den Tatverdacht nicht erhärten. Die prozessualen Grundrechte sind insoweit als Abwehrrechte zu denken. Als solche haben sie ihren Wert vor allem in ihrer Bedingungslosigkeit – auch und gerade dann, wenn es „weh tut“.
Beste Grüße
Daniel Soudry
Die öffentliche Hand hat an sich den Anspruch und muss an sich den Anspruch haben, jeden Anschein einer Billigung von Straftaten oder Zusammenarbeit mit Straftätern und Straftäterinnen zu vermeiden. Dazu gehört es auch, Unternehmen nicht zu beauftragen, bei denen ein ausreichend erhärteter Verdacht besteht.
Wenn man eine rechtskräftige Verurteilung als Voraussetzung ansieht, öffnet das ungesunden Entwicklungen Tür und Tor.
Fänden Sie es korrekt, wenn eine Gemeinde ein durch Frau Beate Zschäpe geführten oder getragenes Unternehmen mit der Bewachung eines Flüchtlingsheims beauftragt? Rechtskräftig verurteilt ist sie nicht – die Unschuldsvermutung gilt damit weiterhin. Eine Inhaftierung führt nicht notwendigerweise zu einem Mangel an Eignung. Aber dieser Extremfall wäre möglich, wenn man auf die Verurteilung abstellt.
Ermittlungs- und Strafverfahren dauern oft Jahre oder sogar Jahrzehnte an. Häufig wird dabei nur noch um die Strafhöhe gestritten oder darum, welche Strafnorm erfüllt wurde, aber die Tat an sich ist vielleicht sogar gestanden. Da noch die Rechtskraft des Urteils abwarten zu müssen, wäre nicht überzeugend.