Anja Theurer ist Vorständin im Verein Staat-up e.V. i.G., der sich u.a. für den Einzug erfolgreicher Innovationspraktiken in den öffentlichen Sektor stark macht. Zuvor verantwortete sie als Leiterin Finanzen, Organisation und Recht des Bundeswehr Cyber Innovation Hubs die Umsetzung effizienter Prozesse für die Beschaffung digitaler Technologien aus dem Start-up Sektor. Frau Theurer ist ehrenamtliche Beisitzerin bei den Vergabekammern des Bundes beim Bundeskartellamt und engagiert sich im Beirat des Deutschen Vergabenetzwerks.
Alle reden von Start-ups – sollte auch die öffentliche Hand mehr von ihnen einkaufen?
Vergabeblog: Das Thema Start-up ist derzeit politisch und medial präsent wie nie. In ihrem Corona-Konjunkturprogramm bedenkt die Bundesregierung speziell den Start-up Sektor mit einem zwei Milliarden Euro schweren Finanzierungspaket. Welchen Hintergrund hat diese besondere Aufmerksamkeit?
Anja Theurer: Start-ups stehen, gesamtwirtschaftlich betrachtet, für Zukunftsfähigkeit. Die Entwicklung im vergangenen Jahrzehnt hat gezeigt, dass zahlreiche bahnbrechende Innovationen nicht von traditionellen Unternehmen entwickelt bzw. umgesetzt wurden, sondern von Start-ups. Ausgehend von den Möglichkeiten digitaler Technologien haben Start-ups in jeweils atemberaubend kurzer Zeit weltweit Geschäftsmodelle auf den Weg gebracht, die unser aller Leben zum Teil signifikant verändert und dabei, wie etwa airbnb, ganze Branchen unter enormen Wettbewerbsdruck gesetzt haben. Traditionelle Unternehmen mit ihren überwiegend schwerfälligen organisatorischen Strukturen tun sich schwer, im gleichen Maße wie Start-ups innovativ zu sein. Das spezielle Start-up Maßnahmenpaket ist daher Ausdruck des Willens der Bundesregierung, jedenfalls einen Teil der enormen Summen aus dem Konjunkturprogramm explizit in radikal innovative Technologien und Geschäftsmodelle fließen zu lassen. Deutschland hat insoweit signifikanten Nachholbedarf – die aktuellen Hotspots der digitalen Tech-Szene befinden sich in den USA und China.
Vergabeblog: Jedenfalls bislang richteten sich viele Start-ups mit ihren Produkten und Leistungen an private Endkunden oder Geschäftskunden. Weswegen also sollten sich öffentliche Beschaffer des Start-up Themas annehmen?
Anja Theurer: Vielen digitalen Technologien ist es eigen, in mehr als einer einzigen Verwendung Nutzen stiften zu können. Man denke nur an Plattform-Technologien, über die zahlreiche verschiedene Geschäftsmodelle betrieben werden. Im militärischen Kontext nennt man diese Eigenheit eines Produktes „dual use“-Fähigkeit: entwickelt für die zivile Anwendung, aber auch nutzbar für militärische Zwecke. Übertragen auf die allgemeine öffentliche Verwaltung hieße das: entwickelt für Privat- oder Geschäftskunden, aber auch nutzbar für die Anwendung im öffentlichen Sektor. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang zwei weitere Eigenheiten digitaler Technologien aus dem Start-up Kosmos: erstens sind diese Technologien nie „fertig“, sondern werden in extrem kurzen Produktentwicklungszyklen stetig weiterentwickelt. Zweitens arbeiten Start-ups streng nutzerfokussiert. Beide Punkte zusammen führen zu der für öffentliche Beschaffer äußerst vorteilhaften Folge, dass ggf. notwendigen Produktanpassungen an besondere Anforderungen des öffentlichen Kunden für das Start-up keine außer der Reihe liegende Besonderheit darstellen, sondern „business as usual“ sind.
Darüber hinaus hat sich in jüngerer Zeit auch eine ganz eigenständige „Govtech“-Szene entwickelt. So nennt man Start-ups, die Technologien speziell für die Anwendung im öffentlichen Sektor entwickeln. Für diese Start-ups ist es im Übrigen besonders wichtig, bereits in der Konzeptphase, in der das grundlegende Geschäftsmodell ausgearbeitet wird, mit Vertretern der öffentlichen Hand in Kontakt zu kommen, idealerweise sogar in Nutzertests zusammen zu arbeiten. Andernfalls ist es schwer bis unmöglich, die für den Produkterfolg so wichtige Nutzerfokussierung umzusetzen.
Vergabeblog: Trotz der unbestreitbaren Fähigkeiten des Start-up Sektors, in kürzester Zeit anwenderorientierte technologische Lösungen bereit zu stellen, kauft der Staat, wenn es hart auf hart kommt, im Zweifel doch wieder ganz traditionell bei etablierten Großunternehmen ein, so zuletzt auch bei der Corona-Warn-App. Woran liegt das?
Anja Theurer: Wie genau die Entscheidungsfindung der Verantwortlichen im Zusammenhang mit der Corona-Warn-App ablief, entzieht sich meiner Kenntnis. Generell aber resultiert das beschriebene Phänomen in erster Linie aus dem Absicherungsgedanken: bestellt man bei demjenigen, der seit Jahrzehnten mit Erfolg einen bestimmten Produktbereich bespielt, muss man sich selbst dann nichts vorwerfen lassen, wenn die Leistung letztlich hinter dem zurückbleibt, was versprochen wurde. Die Vorteile von „groß“ und „bewährt“ einerseits werden genauso wie die Risiken von „klein“ und „neu“ andererseits systematisch überbewertet. Die Corona-Warn-App ist insoweit ein gutes Lehrstück. Die Gesamtkosten der App für Entwicklung, Betrieb, Tests und Werbung belaufen sich nach öffentlich verfügbaren Informationen bis Ende 2021 auf rund 68 Millionen Euro. Das ist eine – nicht zuletzt aus Start-up Sicht – atemberaubende Summe. Hinzu kommt, dass die App seit ihrer Einführung mit vielerlei Dysfunktionalitäten von sich reden gemacht hat. Man stelle sich vor, der Zuschlag wäre an ein unbekanntes Start-up anstatt an SAP und T-Systems gegangen – der Aufschrei, der sich spätestens beim ersten erkannten Fehler der App erhoben hätte, wäre gigantisch gewesen. So aber regt sich kaum öffentliche Kritik, jedenfalls nicht an der Art der zum Zuge gekommenen Auftragnehmer.
Ein weiterer maßgeblicher Aspekt der Bevorzugung traditioneller, größerer Marktteilnehmer gegenüber Start-ups ist, dass die zuerst genannten für den öffentlichen Auftraggeber als Generalunternehmer fungieren, ihm quasi eine schlüsselfertige Lösung liefern können, die auch jenseits der reinen Technik alle für die Leistung erforderlichen Aspekte berücksichtigt. Im Falle der Corona-Warn-App reden wir hier zum Beispiel von dem ganz zentralen Punkt des Datenschutzes. Die beauftragten Unternehmen verfügen insoweit über eigene Abteilungen mit Experten. Hätte man die Beauftragung von Start-ups ernsthaft in Erwägung gezogen, wäre es im Zweifel erforderlich gewesen, auftraggeberseitig datenschutzrechtliche Expertise zu stellen und ins Projektteam des Auftragnehmers einzubinden. Derlei Zusammenarbeit in Organisations- und Kenntnisbereiche übergreifenden Teams ist für Startups Brot- und Buttergeschäft, nicht aber unbedingt für die öffentliche Hand. Außerdem eröffnen sich auch insoweit wieder Risiken: für Fehler des auftraggeberseitig gestellten Datenschützers haftet der Auftraggeber selbst.
Vergabeblog: Die Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten des Start-up Sektors und dessen bislang geringer Beteiligung an Beschaffungen der öffentlichen Hand beschäftigt offenbar auch das Bundeswirtschaftsministerium. Im Mai und Juni des Jahres wurde eine Online-Befragung (BMWi) von öffentlichen Auftraggebern und KMU bzw. Start-ups durchgeführt, um Erfahrungen auszutauschen und Verbesserungsvorschläge zu machen. Wo hakt es in der Beziehung von Staat zu Start-up?
Anja Theurer: Die Ergebnisse der Befragung wurden bislang nicht veröffentlicht. Aus eigenen Erfahrungen sowohl mit der Auftraggeber- als auch mit der Start-up Seite weiß ich allerdings, dass letztlich immer wieder dieselben Punkte genannt werden: Auftraggeber haben Bedenken bezüglich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Start-ups sowie deren Mangel an nachweisbarer Erfahrung in der Erbringung der nachgefragten Leistung. Dementsprechend setzen sie in Vergabeverfahren aus Sicht der Start-ups deutlich zu hohe Anforderungen im Bereich der Eignung fest. Zudem dauern öffentliche Beschaffungsprozesse aus Start-up Sicht zu lange und ziehen bei der Teilnahme am Verfahren einen zu hohen Aufwand nach sich.
Aktuelle Zahlen zu diesen Befunden ergeben sich aus einer vom Bitkom e.V. durchgeführten Umfrage, deren Ergebnisse im August veröffentlicht wurden. Außerdem tendieren öffentliche Auftraggeber zu detaillierten Leistungsbeschreibungen, weil sie einen konkreten technischen Lösungsansatz vor Augen haben. Start-up Lösungen, die auf gänzlich anderen technischen Ansätzen aufbauen, aber gleichwohl zum gewünschten Leistungsziel führen, haben da von vornherein jedenfalls dann keine Chance, wenn Nebenangebote – wie häufig der Fall – nicht zugelassen sind.
Vergabeblog: Was muss getan werden, damit öffentliche Hand und Start-ups künftig häufiger miteinander arbeiten?
Anja Theurer: Auch wenn ich Juristin bin und sogar jahrelang als Lobbyistin tätig war, aber: der immer wieder laut werdende Ruf nach einer – erneuten – Änderung des Vergaberechts geht meines Erachtens fehl. Zum einen aus der Erwägung heraus, dass bislang noch keine Vergaberechtsänderung zu weniger Komplexität und damit zu den erwünschten „schlankeren“ Beschaffungsprozessen geführt hat. Ich gehe nicht davon aus, dass künftige Änderungen diesen Trend durchbrechen würden. Zum anderen bin ich der Auffassung, dass bereits die bestehenden Vergaberegeln die Beschaffung von Innovationen in innovativen Prozessen bei innovativen Unternehmen ohne Weiteres zulassen. Es muss „nur“ gemacht werden. Die Schwierigkeit dabei ist, dass die Beschaffung bewährter Produkte in bewährten Prozessen bei bewährten Unternehmen aus Sicht des betroffenen Beschaffers im Zweifel das kleinste Risiko, zum Beispiel jenes, in ein Vergabenachprüfungsverfahren verwickelt zu werden, nach sich zieht. So stellt die EU-Kommission schon 2018 in ihrem „Leitfaden für eine innovationsfördernde öffentliche Auftragsvergabe“ (EU Komm C(2018) 3051 final) fest, dass „die Überwindung risikoaversen Verhaltens […] eine Änderung der Motivation öffentlicher Auftraggeber mit finanziellen und nicht finanziellen Anreizen [erfordert]“. Das Ganze ist, mit anderen Worten, eine Führungsaufgabe. Innovation muss gewollt und in eine Strategie eingebettet werden, auf die der einzelne Beschaffer im Rahmen seiner ganz konkreten Beschaffungstätigkeit rekurrieren kann.
Hierzu gehört auch, dass dem Thema Markterkundung künftig ein gänzlich anderer Stellenwert eingeräumt wird, als das bislang vielfach der Fall ist. Gerade weil das Innovieren, also die laufende, systematisch betriebene Hervorbringung gänzlich neuer oder verbesserter Technologien oder Anwendungen, zur DNA von Start-ups gehört, sind die von Start-ups bearbeiteten Marktsegmente ständig im Fluss. Will ich also als Beschaffer die bestmögliche bzw. wirtschaftlichste Lösung für eine bestimmte Anforderung einkaufen und dabei auch das Angebotsspektrum der Start-up Szene in den Wettbewerb mit einbinden, muss ich mich kundig machen, welche potenziellen Lösungen verfügbar sind. Denn nur wenn ich einen guten Überblick über das Machbare habe, gelingt es mir, eine funktionale Leistungsbeschreibung zu entwickeln, die keine der gangbaren Lösungen von vornherein ausschließt.
Vergabeblog: Die Start-up Szene ist bekannt für ihre kernigen, englischsprachigen Slogans, die gerne auch mal zu Motivationszwecken an die unverputzten Backsteinwände der Fabriklofts, in denen programmiert wird, gehängt werden. Was ist Ihr Lieblingsspruch?
Anja Theurer: In diesen Sprüchen steckt häufig viel unternehmerische Weisheit! Mein Favorit ist „Done is better than perfect“. Der Slogan stellt übrigens keine Rechtfertigung für die Entwicklung minderwertiger Produkte oder für die Aufforderung zur Akzeptanz derselben dar. Vielmehr ist er Ausdruck einer speziellen, in der Start-up Welt angewandten Methodik, bei der es darum geht, in kürzest möglicher Zeit eine den Minimalanforderungen des Auftraggebers bzw. Nutzers voll entsprechende Lösung bereit zu stellen. Man spricht hier vom „minimum viable product (MVP), also von der ersten funktionsfähigen Entwicklungsstufe eines Produkts.
Das Gegenteil davon wäre die „Goldrandlösung“, gerne auch mal „eierlegende Wollmilchsau“ genannt. Öffentliche Beschaffer können ein Lied davon singen, dass viele Beschaffungsvorhaben nicht zuletzt daran scheitern, dass unterschiedlichste Anforderungen an den Beschaffungsgegenstand so lange „zusammengepackt“ werden, dass am Ende kein vernünftiger Wettbewerb mehr organisiert werden kann bzw. das eingekaufte Produkt letztlich keine der gewünschten Funktionalitäten voll erfüllt. Mehr „done“ anstelle von „perfect“ könnte hier Wunder wirken!
Vergabeblog: Sehr geehrter Frau Theurer, wir danken Ihnen für das Interview.
Hinweis der Redaktion
In der DVNW Akademie findet am 30.09.2020 das Webinar: „Einkauf digitaler Produkte von Startups – Online Wie funktioniert die Startup-Welt?“ mit der interviewten Frau Anja Theurer statt. Wie muss öffentliche Beschaffung organisiert werden, um „sexy“ für Startups zu sein? Finden Sie es heraus. Das Webinar zeigt Wege auf. Informationen & Anmeldung
Schon lange habe ich die Schmerzen beider Seiten, der öffentlichen Auftraggeber und der Startups, nicht mehr so gut zusammengefasst gesehen. Herzlichen Dank für diesen Beitrag!
Die richtige Incentivierung von Mitarbeitern der öffentlichen Hand wäre meines Erachtens die „prozessuale Goldrandlösung“, um hier im Bild zu bleiben. Wie seitens der EU vorgeschlagen. Aus Erfahrungen im bundesbehördlichen Umfeld würde ich hierauf aber nicht warten wollen. Ich kann auch nicht beurteilen, ob die Ablehnung eines „Bonus für innovative Beschaffung“ eher rechtlich begründet oder schlicht an der wenig ausgeprägten Offenheit für Neues kulturell scheitern würde. Jedenfalls wäre es nicht Startup-Philosophie, hierbei auf dritte Akteure zu warten.
Vielmehr muss – bis auf Weiteres – der Fokus auf der angesprochenen Markterkundung liegen. Schon in dieser Phase muss jeder Behördenmitarbeiter das Gefühl der vergaberechtlichen Sicherheit haben. Der angesprochene Absicherungsgedanke ist ausschlaggebend. Mit unserer Plattform GovRadar verfolgen wir dieses Ziel durch Anonymität. Der Auftraggeber soll sich in der Vorvergabephase in aller Ruhe „umschauen“ können, welche innovativen Software-Lösungen bereits existieren. Und diese noch vor der Vergabe anonym ausprobieren können. So entstehen, wie hier im Interview schon angedeutet, die besten Leistungsbeschreibungen. Und Startups erhalten die Aufmerksamkeit, die sie im Wettbewerb mit den Etablierten verdienen.
Wenn sich öffentliche Auftraggeber dann noch für agile Umsetzung öffnen, sich also frühzeitig und mit eng getaktetem Feedback in die Lösungsentwicklung einklinken, ist der Weg frei zu echter Innovation in der öffentlichen Beschaffung.
Danke für deine Arbeit. Es ist sehr interessant, die Meinungen und Analysen von Wirtschaftsforschern zu lesen.