Verträge, die direkt im Wege eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb und somit ohne vorherige Bekanntmachung an ein Unternehmen vergeben werden, bedürfen einer besonderen vergaberechtlichen Rechtfertigung. Direkte Beschaffungen im Rahmen des konkreten Krisenmanagements der Corona-Pandemie sind grundsätzlich aus äußerst dringlichen zwingenden Gründen nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zulässig. Die Vergabekammer des Bundes sieht dabei nicht nur die eigentliche Beschaffung, sondern auch die Abwicklung der daraus resultierenden Verträge als äußerst dringlich an und bestätigt den vom Bundesministerium für Gesundheit an Ernst & Young vergebenen „Betreibervertrag“ für die Schutzmasken als vergaberechtskonforme Direktvergabe.
§ 135 Abs.1 Nr. 2 GWB; § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV
Sachverhalt
Das Bundesministerium für Gesundheit hat am 15. Mai 2020 im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb einen Vertrag mit Ernst & Young über eine Laufzeit von sechs Monaten mit einem Pauschalhonorar von 9,5 Mio. Euro geschlossen. Der Vertrag beinhaltet – als Folge der im Wege der Corona-Pandemie im Open-house-Verfahren beschafften Schutzmasken und Atemgeräte – die
„Durchführung des operativen Geschäfts unterhalb des Beschaffungsstabes bei der Durchführung der Verträge über die Beschaffung von Schutzausrüstung (im Wesentlichen die technische Vertragsprüfung, die Qualitätssicherung, das Vertragsmanagement, die Qualitätssicherung, die Steuerung der gesamten Lieferkette und der Logistikdienstleister, die Überprüfung von Eingangsrechnungen und die Bearbeitung von Leistungsstörungen)“.
Aufgrund eines Presseberichts hat im Juni 2020 eine – aus ihrer Sicht ebenfalls für den Auftrag geeignete – mittelständische Kanzlei aus Hessen von der unmittelbaren Beauftragung erfahren und diese als vergaberechtswidrig gerügt. Nachdem der Rüge nicht abgeholfen und der Auftrag am 8. Juli 2020 europaweit in der Rubrik „Bekanntmachung vergebener Aufträge“ veröffentlicht wurde, hat die Kanzlei zusammen mit einer Steuerberatungsgesellschaft Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer des Bundes gestellt.
Im Wesentlichen beruft sich die Kanzlei auf folgenden Aspekt: Das Ministerium musste mit Einleitung des offen gestalteten und für die Unternehmen preislich attraktiven Open-house-Verfahrens für die Beschaffung der Schutzmasken damit rechnen, dass es zu umfangreichen Vertragsabschlüssen und damit zu erheblichem Dienstleistungsbedarf auch im Hinblick auf die nachfolgend Lieferungen und Abwicklung der Verträge kommen werde. Seit dem Beschluss des Krisenstabs Anfang März 2020 sei bekannt gewesen, dass außerordentliche zusätzliche Verwaltungsleistungen auf das Bundesministerium für Gesundheit zukommen würden. Mit Planung der Open-house-Vergabe sei zumindest optional mit einer „Flut von Einzelaufträgen“ zu rechnen gewesen.
Auch die Leitlinien der Europäischen Kommission (s. auch ) zur Nutzung des Rahmens für die Vergabe öffentlicher Aufträge in der durch die COVID-19-Krise verursachten Notsituation würde keine unmittelbare Beauftragung rechtfertigen. Denn nach Ziffer 2.3.1 der Leitlinien liegt ein Fall von äußerster Dringlichkeit, der ein Verhandlungsverfahren ohne Veröffentlichung rechtfertigt, nur bei Ereignissen vor, die die öffentlichen Auftraggeber nicht voraussehen konnten. Genau dies sei aber vorliegend nicht gegeben. Aufgrund der frühen Vorhersehbarkeit hätte eine Ausschreibung für die Durchführung der Verträge bereits vor Mai 2020 mit verkürzten Fristen erfolgen können und müssen, in der auch im Sinne einer wirtschaftlichen Beschaffung der „gängige“ Marktpreis ermittelt hätte werden können. Ein Alleinstellungsmerkmal von Ernst & Young liege insofern nicht vor.
Die Beratungsleistungen im Zusammenhang mit der Abwicklung der beschafften Schutzmasken seien deswegen keine unmittelbare Auswirkung der COVID-19-Krise, sondern eine Folge des Unvermögens der Organisation im Gesundheitsministerium.
Die Entscheidung
Dies sieht die VK Bund anders.
Das Ministerium habe im Wege der Daseinsvorsorge die ihr zuzurechnende Aufgabe des Gesundheitsschutzes wahrgenommen. Im ersten Schritt habe es mit dem Open-house-Verfahren den Bedarf an Schutzausrüstung gedeckt. Mit dem reinen Abschluss von Kaufverträgen sei jedoch das Ziel, das medizinische Personal sowie die Gesamtbevölkerung mit Schutzausrüstung zu versorgen, noch nicht zu erreichen gewesen; hierzu bedürfte es – im zweiten Schritt – der tatsächlichen Abwicklung der Verträge, d.h. dem eigentlichen Leistungsaustausch. Insofern dürfe sich die Dringlichkeit der Schutzmaskenbeschaffung nicht nur auf den Abschluss der reinen Kaufverträge beschränken, sondern müsse sich auch auf die konkrete Abwicklung dieser Verträge nach dem Ankauf beziehen. Der rechtliche Abschluss von Kaufverträgen und die darauf folgende konkrete Abwicklung dieser Verträge seien als eine Gesamtaufgabe notwendig, um die Versorgung von medizinischem Personal sowie der Gesamtbevölkerung zu gewährleisten. Die äußerste Dringlichkeit in Bezug auf die Versorgung mit Schutzausrüstung erfasst somit auch den Betreibervertrag, der zwar nicht rechtlich, im Sinne der Zielerreichung jedoch eine Einheit mit den Kaufverträgen darstelle.
Auch die Einhaltung verkürzter vergaberechtlicher Mindestfristen lehnt die Vergabekammer ab, da die in § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV normierten äußerst dringlichen Gründe eben die Einhaltung der Mindestfristen nicht zuließen. Wenn Anfang Mai ein Vergabeverfahren mit – wenn auch verkürzten – Fristen durchgeführt worden wäre, hätte eine Auslieferung der Schutzmasken sich um einen nicht hinnehmbaren Zeitraum – auch im Hinblick auf die dann bestehende Informationspflicht nach § 134 GWB mit der sich anschließenden Wartefrist von zehn Tage – verzögert. Die Schwelle zur äußersten Dringlichkeit sei angesichts des katastrophalen Notstands mit der Versorgung mit Schutzausrüstung überschritten. Der Abschluss des Betreibervertrags sei äußerst dringlich im Sinne des Schutzes von Leib und Leben, um die konkrete Versorgung mit Schutzausrüstung zu ermöglichen.
Ebenso verneint die Vergabekammer, dass das Bundesgesundheitsministerium bei dem gewählten Open-house-Verfahren den Bedarf hätte voraussehen können und ihr die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit selbst zuzurechnen seien. Das für die Beschaffung der Schutzmasken gewählte Open-house-Verfahren sei ein zulässiges Beschaffungsinstrumentarium. Die damit verbundene Möglichkeit, keine Auswahlentscheidung treffen zu müssen, sondern jedes geeignete Unternehmen bei Erfüllung der gesetzten Bedingungen zu beauftragen, sieht die Vergabekammer angesichts des Schutzmaskennotstands als eine geeignete Maßnahme an, um den Versuch einer schnellen Versorgung zur Erfüllung der Aufgabe des Gesundheitsschutz der Bevölkerung zu unternehmen. Dass das gewählte Open-house-Verfahren eine so große Anzahl von Verträgen generieren würde, dass die Abwicklung der Verträge nicht im eigenen Haus erfolgen könne, sei für das Ministerium im Wege der ex-ante Betrachtung nicht vorhersehbar gewesen. Gerade im Hinblick auf die weltweite Gesamtlage sei eher mit einem Mangel an Schutzmasken zu rechnen gewesen. Eine „Ex-post-Betrachtung“ verbiete sich insofern.
Eine Direktvergabe an Ernst & Young ohne weitere Angebote von anderen Unternehmen einzuholen sei zulässig, da diese schon mit zwei weiteren Aufträgen vom 7. und 9. April 2020 mit der Analyse und Prozessaufnahme der Beschaffungsvorgänge sowie in der Unterstützung für das Ministerium tätig seien, insofern auf bereits vorhanden IT-Systeme und Datenbanken zurückgreifen könnten und mit der Materie vertraut seien.
Rechtliche Würdigung
Wenn die Vergabekammer ausführt, dass es zu kurz greift, die äußerste Dringlichkeit der Schutzausrüstung auf den Abschluss des reinen Kaufvertrags zu beschränken und sich diese auch auf die tatsächliche Abwicklung der Verträge erstrecken muss, verkennt sie, dass die Kaufverträge zur Beschaffung der Schutzmasken im Rahmen eines Open-house-Verfahrens als beschleunigtes offenes Verfahren durchgeführt wurde (vgl. Bekannmachung auf TED). Der Zuschlag erfolgte hier für alle Unternehmen, die die im Open-house-Verfahren genannten Voraussetzungen erfüllten. Der Vertrag wurde nicht – wie der Betreibervertrag – direkt an ein Unternehmen vergeben. Ob äußerst dringlich zwingende Gründe nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV vorliegen, die die direkte Vergabe an nur ein Unternehmen rechtfertigen, war bei der Beschaffung der Schutzmasken somit überhaupt nicht zu prüfen bzw. nicht relevant. Sofern die Vergabekammer den nachfolgenden operativen Betreibervertrag als eine Einheit mit den Kaufverträgen darstellt, müsste sie logischerweise dann ausführen, inwiefern nicht auch der Beratungsvertrag im Wege eine Open-house-Verfahrens hätte vergeben werden können.
Und ob man – trotz der weltweiten Lage – bei der Planung bei dem bewusst gewählten Open-house-Verfahren bei offenem Zugang für alle (geeigneten) Unternehmen und einem attraktiven Preis für eine Schutzmaske von 4,50 /Maske auch in der Krisensituation nicht mit der Vielzahl der Verträge bzw. der Unternehmen rechnen hätte können, ist durchaus zu diskutieren, zumal Ernst & Young bereits Anfang April mit der Analyse der Beschaffungsvorgänge (ebenfalls direkt) beauftragt wurde.
Auch wenn man dazu kommt, dass der Aufwand im Rahmen der Vertragsabwicklung für das Bundesgesundheitsministerium in dem Rahmen nicht vorhersehbar war, stellt sich die Frage, inwiefern dies eine Direktvergabe eines Auftrags über sechs Monate über 9,5 Mio. Euro mit nochmaliger sechsmonatiger Verlängerungsoption rechtfertigt (von der das Ministerium jedoch aktuell keinen Gebrauch macht). Denn nach Ziffer 2.3.4 der Leitlinien der Europäischen Kommission dienen Direktvergaben nur zur Überbrückung bis langfristigere Lösungen verfügbar sind. Verhandlungsverfahren ohne Veröffentlichung können insofern (nur) eine Möglichkeit darstellen, unmittelbaren Bedarf angemessen zu decken, bis langfristigere Lösungen über reguläre (beschleunigte) Verfahren gefunden sind.
Es bleibt abzuwarten, ob das OLG Düsseldorf insoweit den Ausführungen der Vergabekammer folgt.
Falls das OLG Düsseldorf die Entscheidung der VK Bund bestätigt: Der Betreibervertrag für die Leistungen ab 18.11.2020 wurde aktuell als Offenes Verfahren mit der Mindestfrist von 30 Kalendertagen veröffentlicht (vgl. e-Vergabe-Plattform des Bundes), so dass zumindest für diesen Zeitraum der Wettbewerb eröffnet wird.
Praxistipp
Interessant ist, dass nicht nur an Ernst & Young nach der direkten Vergabe zur Analyse und zur Unterstützung ein weiterer lukrativer Auftrag ohne Ausschreibung vergeben wurde, sondern dass auch zahlreiche andere Unternehmen und Kanzleien im Rahmen der Beschaffung und Verteilung von Schutzmaterialen beauftragt wurden, wie sich aus der Antwort der Bundesregierung im Juni 2020 auf die Kleine Anfrage der Linken ergibt. Auf die Antwort zu der aktuellen Nachfrage der Linken vom 04.08.2020, welcher Auftrag hier jeweils ohne Ausschreibungsverfahren vergeben wurde, darf man insoweit gespannt sein.
Monika Prell
Monika Prell ist Fachanwältin für Vergaberecht und Partnerin bei der Kanzlei SammlerUsinger in Berlin. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrung im Vergaberecht und berät sowohl öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung, Konzeption und Gestaltung sowie der anschließenden Durchführung von Vergabeverfahren als auch Bieterunternehmen umfassend bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen. Darüber hinaus vertritt Monika Prell ihre Mandanten vor den Vergabenachprüfungsinstanzen. Neben ihrer anwaltlichen Tätigkeit ist sie als Kommentarautorin tätig, veröffentlicht regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.
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