Ein öffentlicher Auftraggeber hat einen ausgeschlossenen Bieter über diejenigen Tatsachen zu informieren, aufgrund derer ein Nachprüfungsantrag ganz offensichtlich keinerlei Erfolgsaussichten bietet. Anderenfalls trägt der Auftraggeber die Kosten des Nachprüfungsverfahrens.
§ 241 Abs. 2 BGB, § 182 Abs. 3, Abs. 4 GWB
Sachverhalt
Der Auftraggeber schrieb im Jahre 2019 im offenen Verfahren europaweit einen Auftrag über Rohbauarbeiten nebst begleitenden Gewerken aus. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Zusätzlich verlangte der Auftraggeber, dass Eignungserklärungen der jeweils als Nachunternehmer einzusetzenden Unternehmen auf Nachfrage abzugeben waren. Drei Bieter gaben Angebote ab; darunter die spätere Antragstellerin des Nachprüfungsverfahrens. Ihr Angebotspreis lag an zweiter Stelle. Die Antragstellerin sowie das erstplatzierte Unternehmen wurden im Januar 2020 dazu aufgefordert, ihre Nachunternehmer zu benennen sowie entsprechende Eignungsnachweise vorzulegen. Dieser Aufforderung kamen beide Bieter nur unvollständig nach, weshalb der Auftraggeber der Antragstellerin sowie dem Erstplatzierten im Februar 2020 mitteilte, ihre Angebote von der Wertung auszuschließen und nunmehr beabsichtige, dem bis dahin Drittplatzierten den Zuschlag zu erteilen.
Die Antragstellerin war nicht damit einverstanden, dass ihr Angebot ausgeschlossen wurde. Sie ging davon aus, dass sie bei erfolgreicher Anfechtung ihres Ausschlusses den Zuschlag erhalten würde. Daher rügte sie ihren Ausschluss und kündigte für den Fall der Nichtabhilfe ausdrücklich einen Nachprüfungsantrag an. Die Rüge wurde vom Auftraggeber zurückgewiesen. Dabei teilte der Auftraggeber ihr in seiner Nichtabhilfemitteilung nicht mit, dass der Ausschluss des erstplatzierten Bieters aus den gleichen Gründen erfolgt ist, wie der Ausschluss der Antragstellerin.
Die Antragstellerin leitete bei der Vergabekammer Rheinland-Pfalz ein Nachprüfungsverfahren ein, um eine Untersagung der beabsichtigten Zuschlagserteilung sowie eine erneute Auswertung ihres Angebotes zu erlangen. Erst in der Antragserwiderung legte der Auftraggeber offen, dass er die Angebote der Antragstellerin und des erstplatzierten Unternehmens aus den gleichen Gründen ausgeschlossen habe. Wenn die Antragstellerin mit ihrer Nachprüfung Erfolg haben würde, müsste sodann auch der Ausschluss des erstplatzierten Bieters zurückgenommen werden. Mithin würde die Antragstellerin auch bei Erfolg des Nachprüfungsantrags nicht den Zuschlag erhalten, so dass ihr Nachprüfungsantrag unzulässig sei.
Da die Antragstellerin dies nachvollziehen konnte, nahm sie den Nachprüfungsantrag umgehend zurück. Das Nachprüfungsverfahren wurde im April 2020 eingestellt. In der Folge wurde nur noch um die Kosten des Verfahrens gestritten; die Entscheidung über die Kosten fiel schließlich erst in zweiter Instanz durch den Vergabesenat beim OLG Koblenz.
Die Entscheidung
Das OLG Koblenz hat sich in seiner Entscheidung primär mit der Frage beschäftigt, ob der Auftraggeber verpflichtet war, der Antragstellerin mit seiner Nichtabhilfemitteilung mitzuteilen, dass der erstplatzierte Bieter aus den gleichen Gründen ausgeschlossen worden ist, wie sie selbst. Das OLG Koblenz hat diese Frage im Ergebnis bejaht! Diese Information, speziell, dass der Ausschluss beider Bieter aufgrund der nicht vollständig eingereichten Unterlagen über Nachunternehmer erfolgt sei, hätte der Antragstellerin spätestens in der Rügeerwiderung zugehen müssen. Eine entsprechende Pflicht, die Antragstellerin vor einem sinnlosen Nachprüfungsverfahren zu bewahren, ergebe sich aus § 241 Abs. 2. BGB. Zwischen dem Auftraggeber und den Bietern eines Vergabeverfahrens entsteht ein vorvertragliches Schuldverhältnis mit wechselseitigen Rechten und Pflichten. Dazu gehört auch die Pflicht, auf die Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils Rücksicht zu nehmen und diesen durch Aufklärung vor einer Selbstschädigung zu bewahren, vorliegend insbesondere vor der Kostenfolge des Nachprüfungsverfahrens.
Im Hinblick auf die Kostenentscheidung des Vergabesenats hatte das die nachfolgenden Konsequenzen: Der Auftraggeber musste seine Aufwendungen, d.h. insbesondere seine Anwaltskosten, selbst tragen. Die Gebühr des Nachprüfungsverfahrens hätte eigentlich auch der Auftraggeber tragen müssen; er genoss jedoch nach § 8 Abs. 1 VwKostG persönliche Gebührenfreiheit (gilt u.a. für Gemeinden).
Die Antragstellerin musste jedoch ihre eigenen Anwaltskosten selbst tragen. Der Grund dafür, dass dem Auftraggeber vom Vergabesenat diese Kosten nicht auch auferlegt wurden, lag in den unterschiedlich und kompliziert ausgestalteten Vorschriften des GWB zur Kostentragung im Nachprüfungsverfahren. Diese geben dem Vergabesenat nur im Fall von § 182 Abs. 3 Satz 3 GWB und im Fall von § 184 Abs. 4 Satz 4 GWB in Verbindung mit § 1 Abs. 1 LVwVfg Rh.-Pf., 19 Abs. 1 Satz 4 Hs. 2 AGVwGO Rh.-Pf die Möglichkeit, auf die schuldhafte Verletzung von Aufklärungspflichten Rücksicht zu nehmen. Die Auferlegung der Kosten anderer Beteiligter richtet sich jedoch gemäß § 182 Abs. 4 Satz 3 BWB nach billigem Ermessen. Dabei komme es hier in erster Linie darauf an, welcher Beteiligte bei einer Fortführung des Verfahrens unterlegen wäre oder obsiegt hätte. Aus der Gesetzesbegründung sei nicht erkennbar, dass bei dieser Entscheidung auch Verschuldensgesichtspunkte einbezogen werden dürften. Da die Antragstellerin bei Fortführung des Nachprüfungsverfahrens verloren hätte, konnten ihre Anwaltskosten nur ihr selbst auferlegt werden.
Rechtliche Würdigung
Der Umstand, dass Vergabeverfahren als Geheimwettbewerbe durchgeführt werden, führt stets zu einem Informationsgefälle zwischen dem Auftragsgeber und den Bietern. Insofern ist es in der Sache richtig, dass den Auftraggeber neben den Informationspflichten aus § 134 Abs. 1 Satz 1 GWB und § 19 EU VOB/A weitere Rücksichtnahmepflichten aus § 241 Abs. 2 BGB treffen, um den Bieter vor Verletzungen seiner Rechte, Rechtsgüter und Interessen zu schützen. Es ist auch rechtlich zutreffend, diese Rücksichtnahmepflichten aus einem vorvertraglichen Vertrauensschuldverhältnis herzuleiten. Denn dass zwischen dem Auftraggeber und den Bietern einer Ausschreibung ein vorvertragliches Vertrauensschuldverhältnis entsteht, aus dem wechselseitige Rechte und Pflichten folgen, entspricht mittlerweile einhelliger Auffassung.
Diskussionswürdig ist demgegenüber die Auffassung des Gerichts, dass es Verschuldensgesichtspunkte bei der Entscheidung über die Anwaltskosten der Antragstellerin nicht berücksichtigen musste. Nach meiner Auffassung ließe sich auch das ohne Weiteres unter billiges Ermessen fassen. Wenn eine Entscheidung nach billigem Ermessen zu treffen ist, wird damit eigentlich signalisiert, dass der Spielraum besonders groß ist. Im Ergebnis kommt es darauf aber nicht an. Denn die Antragstellerin kann auch diese Kosten außerhalb des Nachprüfungsverfahrens auf der Grundlage von § 241 Abs. 2 BGB von dem Auftraggeber ersetzt verlangen. Denn diese Kosten stellen letztlich einen Schaden dar, der durch den Auftraggeber schuldhaft verursacht wurde. Dass der Vergabesenat diesen Umstand aus prozessualen Gründen nicht in seiner Kostenentscheidung berücksichtigen konnte, ändert nichts daran, dass zivilrechtlich ein entsprechender Schadensersatzanspruch besteht, den die Antragstellerin zur Not auch in einem Klageverfahren vor den ordentlichen Gerichten geltend machen kann. Der Auftraggeber, der einen Bieter sehenden Auges in ein objektiv aussichtloses Nachprüfungsverfahren rennen lässt, obwohl er dies durch eine kurze Aufklärung verhindern könnte, trägt damit im Ergebnis sämtliche Kosten des Verfahrens und das zu Recht.
Praxistipp
In der Praxis ist häufig zu beobachten, dass Auftraggeber bei Rügen im Hinblick auf die Zuschlagsentscheidung geradezu mauern und die Bieter teilweise bewusst ins offene Messer rennen lassen. Diese Praxis ist nicht nur für Bieter misslich, sondern auch für Auftraggeber, da sie ein Nachprüfungsverfahren geradezu provoziert. Die Entscheidung des OLG Koblenz stellt einen guten Grund dar, dies nun jedenfalls künftig anders und besser zu machen: Öffentliche Auftraggeber sollten einen Bieter im Fall einer Rüge somit auch über diejenigen Umstände informieren, aus denen sich ergibt, dass ein Nachprüfungsantrag des Bieters ganz offensichtlich nicht erfolgversprechend ist (z.B. wenn der Bieter nur drittplatziert ist). Anderenfalls trägt der Auftraggeber das Risiko, dass er selbst im Erfolgsfall sämtliche Kosten des Nachprüfungsverfahren übernehmen muss.
Dr. Michael Sitsen ist Rechtsanwalt bei Orth Kluth Rechtsanwälte in Düsseldorf und Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Er berät und begleitet seit vielen Jahren Auftraggeber und Bieter bei Ausschreibungen aller Art. Neben dem Vergaberecht gehört auch das Beihilfenrecht zu seinen Beratungsschwerpunkten. Er hält Schulungen zum Vergaberecht, u.a. für den Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME), und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen. Vor seiner anwaltlichen Tätigkeit war er mehrere Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter des bekannten Vergaberechtlers Prof. Dr. Jost Pietzcker in Bonn.
Zu „Nach meiner Auffassung ließe sich auch das ohne Weiteres unter billiges Ermessen fassen.“ – völlige Zustimmung, die Begründung des OLG wirkt sehr formalistisch und praxisfern.