Am Dienstag berichtete zunächst der Spiegel über einen offenen Brief von Vergabe-Experten, in dem NRW-Behörden, anderen Landesregierungen und der Bundesregierung „systematische Missachtung des EU-Vergaberechts“ vorgeworfen wird (dazu ). Wir haben mit Herrn Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Dr. Klaus Greb, einem der Mitunterzeichner, gesprochen.
Vergabeblog: Sehr geehrter Herr Dr. Greb,
Sie und andere Fachanwälte/-innen für Vergaberecht haben einen offenen Brief verfasst, der die Vergabepraxis, insbesondere höherer Stellen, ins Visier nimmt und listen dabei auch eine ganze Menge konkreter Verfahren auf. Vielen Dank zunächst, dass Sie sich die Zeit nehmen, hier einige Fragen zu beantworten:
Worum geht es kurzgefasst in dem offenen Brief und an wen richtet er sich?
Dr. Greb: Es geht um die zu weit verbreitete Praxis von direkten Vergaben an bestimmte Unternehmen, was vor allem mit angeblicher Dringlichkeit oder einem Alleinstellungsmerkmal begründet wird. Gerichtet ist das Schreiben an die politisch Verantwortlichen in der EU und auf Bundesebene, denn ist bekannt, dass die Fachleute in den Vergabestellen sehr wohl um die restriktiven rechtlichen Vorgaben wissen und darauf in der Praxis hinweisen, jedoch von Vorgesetzen aus verschiedenen Gründen zu Direktvergaben angehalten werden.
Vergabeblog: Warum sehen Sie und die anderen Unterzeichner/-innen sich zu diesem Schritt veranlasst?
Dr. Greb: Anlass ist die aktuelle Pandemie, welche bis heute vielfach wie ein „Brandbeschleuniger“ zur Begründung für Direktvergaben missbraucht wurde und wird, obschon im konkreten Einzelfall leider überwiegend weder die nötige äußerste Dringlichkeit noch gar ein Alleinstellungsmerkmal für ein Unternehmen nachgewiesen ist.
Vergabeblog: Der Kreis der Unterzeichner/-innen sind Anwälte/-innen für Vergaberecht und damit Organe der Rechtspflege. Geht es Ihnen und um die Rettung/Verteidigung des Vergaberechts oder argumentieren sie auch mit Blick auf eigene wirtschaftliche Interessen?
Dr. Greb: Ich verstehe Ihren Punkt mit den wirtschaftlichen Interessen, aber ein offener Brief wird nicht unbedingt und überall werbend für die beteiligten Anwälte empfunden. Man kann von bestimmter Seite auch als Nestbeschmutzer oder Nörgler wahrgenommen werden. Uns geht es aber wirklich um die Sache, weil wir in unserer Arbeitspraxis damit konfrontiert sind und gerade diejenigen, die tagtäglich in den Beschaffungsstellen bestimmten „Wünschen“ der Vorgesetzen ausgesetzt sind, von außen bzw. höherer Stelle Unterstützung benötigen. Die angeprangerte Praxis geht zu Lasten des Wettbewerbs, kleiner und mittlerer Unternehmen und – nicht zuletzt – den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern.
Vergabeblog: Der Spiegel berichtete bereits über die Aktion – Welche weiteren Reaktionen erwarten sie, insbesondere von den Adressaten?
Dr. Greb: Eigentlich sollten die ohnehin bereits publizierten Vergaberechtsverstöße im Rahmen der Pandemiebeschaffungen sensibilisiert haben, aber das hat offenbar noch nicht gereicht. Insofern hoffen wir mit diesem Schreiben einen von fachlicher Seite gesetzten Punkt für ein Umdenken gemacht zu haben. Entscheidend ist natürlich die zeitnahe praktische Umsetzung. Wenn der Bundesrechnungshof einige Jahre später den Finger in die Wunde legt, ist das Kind schon in den Brunnen gefallen.
Vergabeblog: Sie sagen rechtliche Konsequenzen bei vergaberechtlichen Verstößen blieben oft aus. Könnten Sie dies bitte erläutern und verdeutlichen, was gefordert wird?
Dr. Greb: Die Nachprüfungsinstanzen geben gerade in scheinbaren Krisenzeiten häufig ohne konkrete Einzelfallbetrachtung den Auftraggebern nach. Das hat kuriose Folgen. Z. B. hat eine Vergabekammer eines Bundeslandes in 2016 die Gesamtvergabe des Betriebs von sieben Flüchtlingseinrichtungen inklusive Catering, Bewachung etc. für mit dem Grundsatz der mittelstandsfreundlichen Gestaltung von Vergabeverfahren vereinbar gehalten. In einem Nebensatz der Entscheidung taucht die „historische“ Situation auf, die auch in Rechnung gestellt werden müsse, in Wahrheit der Knackpunkt. In 2019 hob die zuständige zweite Instanz die Vergabekammerentscheidung teilweise wieder auf, die Losaufteilung hätte erfolgen müssen, die Begründung sei „nicht im Ansatz“ nachvollziehbar gewesen. Offenbar wurde der Blick zu einem späteren Zeitpunkt klarer.
Vergabeblog: Heißt also gerichtlich festgestellte Vergaberechtsverstöße sollten Konsequenzen bei in Politik und Verwaltung handelnden Personen nach sich ziehen? Wenn ja, welche wären dies?
Dr. Greb: Eigentlich gibt es dafür schon das rechtliche Instrumentarium. Das VG Regensburg hat etwa im Oktober 2020 ein Dienstvergehen eines Bürgermeisters wegen Missachtung des Vergaberechts festgestellt, welches zu einer Entfernung aus dem Beamtenverhältnis führte. Außerdem stand eine strafrechtliche Verurteilung wegen Untreue im Raum. Dieses Instrumentarium muss angewendet werden.
Vergabeblog: Herr Dr. Greb, wir danken für das Gespräch und sind sehr gespannt wie sich die Dinge weiterentwickeln werden.
Das Interview führte Jan Buchholz vom Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW).
Der offene Brief ist in der Bibliothek des DVNW-Mitgliedernetzwerks abrufbar. Außerdem können Sie hier mit der Vergabeszene zum Thema diskutieren. Noch kein Mitglied? Zur kostenlosen Mitgliedschaft geht es hier.
Passend zum Thema auch die Podiumsdiskussion beim 8. Deutschen Vergabetag am 4.11.2021 mit dem Titel:
Pleiten, Pech und Pannen – Vom schlechten Ruf der öffentlichen Beschaffung
Corona-Impfstoff, Maskenbeschaffung, Pkw-Maut, Berateraffären… – Öffentliche Beschaffung kommt in der medialen und öffentlichen Wahrnehmung oft nicht gut weg. Warum ist das so, welche Folgen hat dies und was muss anders werden?
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