Im Zusammenhang mit der Beschaffung der Luca-App für das Land Mecklenburg-Vorpommern im Wege der Direktvergabe hat sich das Oberlandesgericht Rostock mit Voraussetzungen und Grenzen des Leistungsbestimmungsrechts befasst.
Sachverhalt
Zu Beginn des Jahres 2021 intensivierten Bund und Länder ihre Bemühungen, eine praktikable elektronische Corona-Kontaktverfolgung einzuführen. Das Land Mecklenburg-Vorpommern führte dazu im Februar 2021 eine Markterkundung durch und erstellte ein Anforderungsprofil für die Vergabe eines Kontaktverfolgungssystems. Auf der Grundlage eines Produktvergleichs kam es zu dem Ergebnis, dass nur die Luca-App alle Kriterien erfülle.
Kurz nach der Ministerpräsidentenkonferenz am 03.03.2021, bei der sich die Länder verpflichteten, die Kontaktverfolgung auch in elektronischer Form in ihren Infektionsschutzverordnungen sicherzustellen, erfolgte eine Direktvergabe im Wege eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb an die culture4life GmbH als Anbieter der Luca-App. Zur Begründung der Direktvergabe stützte sich das Ministerium für Energie, Infrastruktur und Digitalisierung auf die Tatbestände des § 14 Abs. 4 Nr. 2b VgV (aus technischen Gründen kein Wettbewerb vorhanden) sowie des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV (äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte).
Nur fünf Tage später, am Montag, dem 08.03.2021 erfolgte der Zuschlag. Damit wurde ein auf zehn Monate befristeter Vertrag mit einem Auftragsvolumen von rund 440.000 € brutto geschlossen, der insbesondere die Lizenz für die Nutzung des Luca-Systems zur verschlüsselten Kontaktnachverfolgung einschließlich Implementierung, Betrieb und Nutzerunterstützung beinhaltete. Kurz zuvor, am Freitag dem 05.03.2021, hatte eine anderere Marktteilnehmerin per E-Mail eine Interessensbekundung an Bund und Länder übermittelt und damit das von ihr angebotene System zur Kontaktnachverfolgung präsentiert.
Am 10.03.2021 wandte sich dieses nicht berücksichtigte Unternehmen an die Vergabekammer Mecklenburg-Vorpommern mit dem Ziel, die Nichtigkeit der von der Antragsgegnerin vorgenommenen Beschaffung feststellen zu lassen. Die Vergabekammer wies den Nachprüfungsantrag mit Beschluss vom 04.05.2021 – 3 VK 1/21 – als unbegründet zurück. Die Direktvergabe sei zulässig gewesen, demgegenüber habe die App der Antragstellerin nicht dem durch die Vergabestelle in rechtmäßiger Form festgelegten Beschaffungsbedarf entsprochen. Dagegen legte diesefristgerecht sofortige Beschwerde ein und machte geltend, dass die Beauftragung der Beigeladenen unwirksam sei. Der Antragsgegner habe die Antragstellerin diskriminiert, die Voraussetzungen einer Notvergabe hätten nicht vorgelegen, ihr Produkt sei im Ergebnis einer sachgerechten Marktrecherche und vergaberechtskonformen Festlegung der Anforderungen zuschlagsfähig und es liege insoweit kein Ausschlussgrund vor, vielmehr weise ihr Produkt sogar einen Mehrwert gegenüber demjenigen der Beigeladenen auf.
Die Entscheidung
Damit konnte die Antragstellerin den Vergabesenat des Oberlandesgerichts Rostock nicht überzeugen. Mit Beschluss vom 01.09.2021 wies dieser die Beschwerde der Antragstellerin zurück. Diese könne sich nicht mit Erfolg auf einen etwaigen Vergaberechtsverstoß des Antragsgegners berufen. Denn das von ihr angebotene Programm erfülle zwingende Kriterien, die der Antragsgegner für die Beschaffung in willkürfreier und auch sonst zulässigerweise aufgestellt habe, nicht.
Dabei begründete das Oberlandesgericht zunächst, dass ein Angebot der Antragstellerin auf der Grundlage des von ihr entwickelten Systems für die streitgegenständliche Beschaffung nicht in Betracht gekommen sei (und auch weiterhin nicht in Betracht komme). Dieses Produkt habe jedenfalls nicht über die geforderte, zulässigerweise zum Muss-Kriterium erhobene Schnittstelle zu der von Gesundheitsämtern verwendeten Software zum Kontaktpersonenmanagement SORMAS verfügt. Das Vorhandensein einer solchen Schnittstelle und in diesem Zusammenhang die aus dem Vergabevermerk folgende Vorgabe, dass kein Produkt beschafft werden sollte, das erst noch einer wesentlichen Überarbeitung bzw. Fortentwicklung bedurft hätte, habe im Zeitpunkt der Beauftragung festgestanden und begegne keinen vergaberechtlichen Bedenken.
SORMAS (Surveillance, Outbreak Response Management and Analysis System) ist eine bereits 2014 im Zuge des Ebola-Ausbruchs insbesondere vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung und dem Robert Koch-Institut entwickelte Software zum Kontaktpersonenmanagement, die die Gesundheitsämter bei der Identifizierung und Überwachung von Kontaktpersonen unterstützen soll. Am 16.11.2020 beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz den Einsatz der Software SORMAS bis zum Jahresende 2020 in mindestens 90 % der 375 deutschen Gesundheitsämter. Am 15.01.2021 stellte die Gesundheitsministerkonferenz allerdings fest, dass weniger als ein Drittel der Gesundheitsämter SORMAS tatsächlich verwenden. Daraufhin beschlossen die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin am 19.01.2021 die verbindliche Installation der Software bis Ende Februar in allen Gesundheitsämtern. Am 03.03.2021 wurde dann in einer Videoschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der Länder beschlossen, dass sich die Länder verpflichten, die Kontaktverfolgung auch in elektronischer Form in ihren Infektionsschutzverordnungen sicherzustellen.
Voraussetzungen und Grenzen des Leistungsbestimmungsrechts
Vor diesem Hintergrund betonte das Oberlandesgericht zunächst unter Berufung auf frühere Rechtsprechung das weitgehend freie Bestimmungsrecht des Auftraggebers, ob und welchen Gegenstand er beschaffen will, und definierte dessen Voraussetzungen und Grenzen so, dass die technischen und ästhetischen Anforderungen an die zu beschaffenden Gegenstände objektiv auftrags- und sachbezogen sein müssen und die Begründung nachvollziehbar sein muss; der Auftraggeber dürfe nicht offen oder versteckt ein bestimmtes Produkt bevorzugen und andere Anbieter diskriminieren. Die Erforderlichkeit oder Zweckmäßigkeit der Anforderungen sei demgegenüber ohne Belang.
Nach dieser besonders vom OLG Düsseldorf (Beschl. v. 17.02.2010 – VII-Verg 42/09; Beschl. v. 01.08.2012 – VII-Verg 10/12) geprägten und mittlerweile gefestigten Rechtsprechung ist der Auftraggeber nicht zur vorherigen Erforschung alternativer Beschaffungsgegenstände verpflichtet, sondern bei der Beschaffungsentscheidung grundsätzlich ungebunden, sofern
– die Leistungsbestimmung durch den Auftragsgegenstand sachlich gerechtfertigt ist,
– der Auftraggeber dafür nachvollziehbare, objektive und auftragsbezogene Gründe angegeben und damit willkürfrei gehandelt hat,
– solche Gründe tatsächlich vorhanden (festzustellen und notfalls erwiesen) sind und
– die Bestimmung andere Wirtschaftsteilnehmer nicht diskriminiert.
Dabei betont das OLG Rostock noch einmal zutreffend, dass es dabei auf Zweckmäßigkeit und Erforderlichkeit nicht ankommt.
Leistungsbestimmung durch Auftragsgegenstand sachlich gerechtfertigt
Nach diesen Maßstäben halte sich die getroffene Leistungsbestimmung in den gesetzten Grenzen. Es sei nicht sachwidrig, eine weitgehende Automatisierung der Kontaktnachverfolgung anzustreben und hierzu eine Schnittstelle zu SORMAS zu fordern. Dies dürfe auch nicht erst verlangt werden, wenn SORMAS flächendeckend im Einsatz ist. Das Schnittstellenerfordernis sei nicht nur vorgeschoben gewesen, um der Beigeladenen zu einer vermeintlichen Alleinstellung zu verhelfen und so eine Beauftragung gerade der Beigeladenen zu determinieren. Die Leistungsbestimmung verstoße weiter nicht gegen das Verbot produktspezifischer Ausschreibung. Dies scheide schon deshalb aus, weil es sich bei SORMAS um eine jedermann zugängliche Open-Source-Software handele.
Vergabestelle durfte bei Vergabeentscheidung fertiges Produkt fordern
Dahinstehen könne, welcher Zeitpunkt für die Zuschlagsfähigkeit maßgeblich sei – der Zeitpunkt der Vergabeentscheidung (wozu auch der Senat tendiere) oder der Zeitpunkt der Entscheidung des Senats. Denn unstreitig habe die Antragstellerin die Schnittstelle auch weiterhin nicht geschaffen und auch sonst keine relevante Änderungen an der Software bzw. ihrer Konzeption vorgenommen.
Ob die Antragstellerin die Schnittstelle hätte binnen zwei Stunden implementieren können, sei ebenfalls unerheblich. Zwar könne vor diesem Hintergrund nicht von einer „Neuentwicklung“ gesprochen werden, die nach dem Beschaffungsprofil schon als solche außer Betracht bleiben müsste. Angesichts des Umstandes, dass die Vergabestelle erst im letzten Moment vor der Vergabeentscheidung durch die Antragstellerin kontaktiert wurde, habe der Antragsgegner aber Zweifel hegen und unter Berücksichtigung der Wertung, dass ein fertiges Produkt beschafft werden sollte, von einer Inbetrachtziehung des Produkts der Antragstellerin absehen dürfen.
Soweit die Antragstellerin die Schnittstelle auch im laufenden Nachprüfungsverfahren nicht geschaffen habe, sei das zwar ihr gutes Recht gewesen. Jedoch habe sie damit die naheliegende Chance ungenutzt gelassen, den von Antragsgegnerseite eingewandten Zweifeln an der kurzfristigen Ergänzbarkeit der Software um die verlangte Schnittstelle durch eine tatsächliche Ergänzung den Boden zu entziehen. Für den Senat waren solche Zweifel damit nicht widerlegt.
Zweckmäßigkeit und Erforderlichkeit unbeachtlich
Ob das System der Antragstellerin auch aus weiteren Gründen nicht in Betracht kam oder das „bessere“ bzw. effektivere System darstellt, musste damit vom Senat nicht entschieden werden. In diesem Zusammenhang betonte das Gericht die (infektionsschutz-) politische Entscheidung des Antragsgegners, Kontakte in einer Phase der Lockerung wieder vermehrt zuzulassen und dann zur Nachverfolgung systematisch zu erfassen, also gewissermaßen (nur) „kontaktbegleitend“ zu agieren. Dies müssten sowohl die beteiligten Wettbewerber als auch die Nachprüfungsinstanzen hinnehmen.
Auf Voraussetzungen der Notvergabe kam es nicht mehr an
Weil die Antragstellerin mangels eigener Zuschlagschance eventuelle Mängel bei der Vergabe nicht rügen könne, habe der Senat schließlich nicht zu entscheiden, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der Notvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV vorgelegen haben, ob die konkrete Vergabe den Anforderungen an einen „Wettbewerb light“ genügte und ob ein eventueller Verstoß hiergegen die Unwirksamkeitsfolge des § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB nach sich zöge, wie vom Senat zuletzt in anderer Sache im Zusammenhang mit PCR-Tests bejaht. Die vermeintliche Erforderlichkeit eines Wettbewerbs „light“ war in der Literatur nachvollziehbar u.a. mit dem Argument kritisiert worden, dass eine Vorbereitung eines solchen gesetzlich nicht geregelten Wettbewerbs möglicherweise die Dringlichkeit widerlegen könne (Roth/Landwehr, NZBau 2021, 441; Ortner in Vergabeblog.de vom 22/02/2021, Nr. 46434; Pfarr in Vergabeblog.de vom 11/02/2021, Nr. 46300).
Auch zu den Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b) VgV und zu § 14 Abs. 6 VgV müsse sich der Senat nicht abschließend positionieren, weil es auch hierauf in Anbetracht der fehlenden Zuschlagsfähigkeit des Produkts der Antragstellerin nicht ankomme.
Die Antragstellerin könne sich schließlich auch nicht ausnahmsweise darauf berufen, auch der Beigeladenen habe der Zuschlag nicht erteilt werden dürfen und der Antragstellerin müsse deshalb eine „zweite Chance“ eingeräumt werden. Denn auf nachträglich von der Beigeladenen vorgenommene Anpassungen sei es nicht angekommen, weil die Luca-Software auch ohne diese die gestellten Anforderungen erfüllt habe.
Rechtliche Würdigung
Das Oberlandesgericht Rostock hat sich nur am Rande damit beschäftigt, ob die Beschaffung der Luca-App im Wege der Direktvergabe rechtmäßig war. Während die Vergabekammer die Zulässigkeit einer Notvergabe nach § 14 Abs. 4 Nr. 2b VgV und § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV noch auf mehr als sieben Seiten ausgiebig geprüft und bejaht hatte, lies der Vergabesenat dies richtigerweise dahinstehen. Denn die Antragstellerin konnte sich auf das etwaige Nichtvorliegen eines gesetzlich definierten Ausnahmefalls für die Zulässigkeit eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb nach § 119 Abs. 2 GWB in Verbindung mit § 14 Abs. 2 Satz 2 VgV nicht berufen, weil sie zwingende und zulässige Kriterien der getroffenen Leistungsbestimmung nicht erfüllt hatte. Insofern bestätigt sich wieder einmal, dass das Vergabenachprüfungsverfahren kein objektives Beanstandungsverfahren ist (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 07.01.2019 – VII-Verg 30/18 –) und Vergabekammer bzw. Vergabesenat keine allgemeine Kontrollinstanzen sind.
In der Sache kann sich das OLG Rostock auf eine mittlerweile gefestigte Rechtsprechung zur Reichweite des Leistungsbestimmungsrechts des Auftraggebers und zu den Voraussetzungen für eine produktbezogene Ausschreibung stützen. Der Auftraggeber hat ein Leistungsbestimmungsrecht, welches jedoch nicht uneingeschränkt gilt, da es sich immer an einem sachlichen und bedarfsbezogenen Bezug messen lassen muss.
Praxistipp
Die Entscheidung des OLG Rostock bestätigt die mittlerweile gefestigte Rechtsprechung, dass Auftraggeber in der Festlegung des Beschaffungsgegenstands (was beschafft werden soll) prinzipiell frei sind. Denn es handelt sich dabei um eine dem Vergabeverfahren vorgelagerte Entscheidung und nicht um eine eigentliche Frage des Vergaberechts. Das Vergaberecht setzt dem Leistungsbestimmungsrecht aber Grenzen, weil eine Leistungsbestimmung zur Verengung (oder gar zum Ausschluss) des Wettbewerbs führen kann. Auftraggeber sollten sich daher nicht unkritisch und voreilig auf das Leistungsbestimmungsrecht berufen und vor allem von vornherein die Gründe der einschränkenden Leistungsbeschreibung umfangreich und nachvollziehbar – auf den konkreten Einzelfall bezogen – dokumentieren. Denn eine Nachholung einer fehlenden Dokumentation ist nur bedingt möglich. Dies gilt auch in Fällen der besonderen Dringlichkeit.
Eike-Heinrich Duhme
Der Autor Eike-Heinrich Duhme ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner der Berliner Kanzlei BDKD Rechtsanwälte Kunze Dietrich Duhme Partnerschaft mbB. Er berät und vertritt öffentliche Auftraggeber und Unternehmen in allen Fragen des Vergaberechts, mit besonderem Schwerpunkt Rettungsdienst. Seit 2002 ist er als Rechtsanwalt in den Bereichen Immobilien- und Baurecht, Vergaberecht und Amtshaftungsrecht tätig. Darüber hinaus ist Herr Duhme seit 2018 Lehrbeauftragter an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften für das Recht der Gefahrenabwehr.
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