In Verhandlungsverfahren stellt sich häufig die schwierige Frage nach der Abgrenzung verhandelbarer Leistungsinhalte von nicht verhandelbaren Mindestanforderungen. Werden Mindestanforderungen nicht eingehalten, müssen bereits indikative Erstangebote von dem Verfahren ausgeschlossen werden, die Mindestanforderungen nicht erfüllen.
Der Vergabesenat des OLG Karlsruhe hat sich in seinem Beschluss vom 21. Mai 2021 vertieft mit den Voraussetzungen von Mindestanforderungen in Verhandlungsverfahren auseinandergesetzt. Die Entscheidung verdeutlicht die insoweit hohen Anforderungen.
Sachverhalt
Der Auftraggeber schrieb die Errichtung eines technischen Anlagenkomplexes für die Behandlung von Abfällen in einem europaweiten Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb aus.
Die Leistungsbeschreibung enthielt eine Vorgabe, wonach die Anlage einen bestimmten Geruchswert nicht überschreiten durfte. Diese Anforderung war nicht als „Mindestanforderung“ gekennzeichnet. Mehrere andere Vorgaben betitelte der Auftraggeber in der Leistungsbeschreibung hingegen als „Mindestanforderung“. Zudem war an verschiedenen anderen Stellen der Vergabeunterlagen ein abweichender einzuhaltender Geruchswert angegeben.
Ein Bieter reichte ein indikatives Angebot ein, welches vom in der Leistungsbeschreibung geforderten Geruchswert abwich. Ein konkurrierender Bieter machte vor der Vergabekammer Baden-Württemberg (VK) geltend, das Angebot sei wegen Nichterfüllens einer Mindestanforderung zwingend auszuschließen. Die VK entschied, dass es sich nicht um eine zwingend einzuhaltende Mindestanforderung gehandelt habe und wies den Nachprüfungsantrag als unbegründet zurück.
Gegen diese Entscheidung legte der konkurrierende Bieter sofortige Beschwerde bei dem Vergabesenat des OLG Karlsruhe ein.
Rechtliche Würdigung
Ohne Erfolg! Die Vorgabe eines bestimmten Geruchswerts in der Leistungsbeschreibung habe keine Mindestanforderung dargestellt. Der Auftraggeber habe vergaberechtskonform von einem Ausschluss des indikativen Angebots abgesehen.
Der Vergabesenat arbeitete in seiner Entscheidung heraus, dass es gerade die Besonderheit des Verhandlungsverfahrens sei, dass der Angebotsinhalt nicht von vornherein feststehen müsse, sondern fortentwickelt, konkretisiert und verbessert werden könne. Abweichungen vom gewünschten Angebotsinhalt könnten in nachfolgenden Angebotsrunden beseitigt werden (vgl. insoweit auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.06.2017, VII-Verg 7/17).
Sofern der Auftraggeber demgegenüber zwingende Mindestanforderungen an Angebote stelle, seien diese auch bei Abgabe eines indikativen Angebots zu beachten. Dies setze voraus, dass die Mindestanforderung aus Sicht eines objektiven, durchschnittlichen Bieters eindeutig und unmissverständlich aufgestellt worden sei.
An solch einer unmissverständlich vorgegebenen Mindestanforderung fehlte es bei dem in der Leistungsbeschreibung angegebenen Geruchswert. Die Vergabeunterlagen enthielten insoweit widersprüchliche Angaben. Diese führten dazu, dass nach dem Empfängerhorizont eines durchschnittlichen Bieters keine eindeutig vorgegebene, zwingende Mindestanforderung vorlag. Zudem seien mehrere andere Anforderungen in der Leistungsbeschreibung ausdrücklich als „Mindestanforderung“ bezeichnet worden.
Praxistipp
Die Entscheidung verdeutlicht die hohen Anforderungen der vergaberechtlichen Rechtsprechung an das Aufstellen von Mindestanforderungen in mehrstufigen Verfahren. Auftraggeber sollten vor Einleitung des Vergabeverfahrens festlegen, welche Anforderungen unverhandelbar sein und somit bereits in der indikativen Angebotsphase mit einem zwingenden Angebotsausschluss belegt sein sollen. Entscheidet sich der Auftraggeber, solche Anforderungen aufzustellen, muss er dies transparent und unmissverständlich in den Vergabeunterlagen klarstellen.
Fehlt es an solch einer klaren Kennzeichnung, handelt es sich bei der Anforderung um eine bloße leistungsinhaltliche Vorgabe, die bei indikativen Angeboten noch nicht eingehalten werden muss. Erst das finale Angebot muss die Anforderung erfüllen. Indikative Angebote dürfen nicht wegen Nichterfüllung bloßer leistungsinhaltlicher Vorgaben ausgeschlossen werden.
Zu beachten ist, dass die vergaberechtliche Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilt, ob zwingende Mindestanforderungen schon zu Beginn des Verhandlungsverfahrens feststehen müssen, oder ob diese auch noch im Laufe des Verfahrens eingeführt werden dürfen (für die Möglichkeit einer Einführung im Laufe des Verfahrens: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 28.03.2018 – VII-Verg 54/17; ablehnend: OLG Schleswig, Beschl. v. 19.08.2016 – 54 Verg 7/16).
Anmerkung: Der Autor hat in dem Beschwerdeverfahren den Auftraggeber vertreten.
Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Herr Dr. Ott berät und vertritt bundesweit in erster Linie öffentliche Auftraggeber umfassend bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsvorhaben. Auf der Basis weit gefächerter Branchenkenntnis liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Gestaltung effizienter und flexibler Vergabeverfahren. Daneben vertritt Herr Dr. Ott die Interessen der öffentlichen Hand in Nachprüfungsverfahren. Er unterrichtet das Vergaberecht an der DHBW und der VWA in Stuttgart, tritt als Referent in Seminaren auf und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichen. Er ist einer der Vorsitzenden der Regionalgruppe Stuttgart des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW).
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