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Wann liegen soziale oder besondere Dienstleistungen vor? (VK Westfalen, Beschl. v. 29.11.2021 – VK 1- 43/21)

EntscheidungDie Feststellung, ob Leistungen soziale oder besondere Dienstleistungen darstellen, ist in der Praxis oftmals mit Schwierigkeiten verbunden. Dabei ist insoweit ein hohes Maß an Rechtssicherheit erforderlich, da andernfalls ggf. auf die entsprechenden Sonderregelungen zurückgegriffen wird, obwohl dies nicht gerechtfertigt ist. Dies kann fatale Folgen nach sich ziehen. Nunmehr hat sich die Vergabekammer Westfalen ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob Sicherheitsdienstleistungen für Flüchtlings- und Obdachlosenunterkünfte soziale oder besondere Dienstleistungen sind. Dies hat sie überraschend verneint.

GWB § 130 Abs. 1; Richtlinie 2014/24/EU Anhang XIV; VgV §§ 64, 65

Leitsatz

1. Sicherheitsdienstleistungen für Flüchtlings- und Obdachlosenunterkünfte sind weder soziale noch besondere Dienstleistungen i.S.v. § 130 Abs. 1 GWB.

2. Die Wahl der falschen Verfahrensart stellt einen Vergabeverstoß dar, der der Beendigung des Verfahrens durch Zuschlagserteilung grundsätzlich entgegensteht.

Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb europaweit Sicherheitsdienstleistungen für mehrere Flüchtlings- und Obdachlosenunterkünfte aus.

Er stufte diese Leistungen als besondere Dienstleistungen gem. § 130 GWB i.V.m. Anhang XIV der Richtlinie 2014/24/EU ein.

Auf dieser Grundlage führte der Auftraggeber ein Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb durch.

Ein Bieter griff das Verfahren unter anderem mit der Begründung an, dass der Auftraggeber die falsche Verfahrensart gewählt habe, da es sich bei den ausgeschriebenen Leistungen nicht um besondere Dienstleistungen handele. Daher sei die entsprechende Sonderregelung zur freien Wahl der Verfahrensart gem. § 65 Abs. 1 VgV nicht anwendbar und der Auftraggeber hätte kein Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb durchführen dürfen. Er hätte aus Sicht des Bieters vielmehr ein offenes oder ein nicht offenes Verfahren durchführen müssen.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer Westfalen hält den Nachprüfungsantrag für zulässig und begründet.

Nach ihrer Auffassung handelt es sich weder um soziale, noch um besondere Dienstleistungen gem. § 130 GWB i.V.m. Anhang XIV der Richtlinie 2014/24/EU. Daher hätte der Auftraggeber nicht auf der Grundlage des § 65 Abs. 1 VgV ein Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb durchführen dürfen.

Zur Feststellung, ob soziale oder besondere Dienstleistungen vorliegen, seien zunächst gem. § 130 GWB die in Anhang XIV der Richtlinie 2014/24/EU aufgeführten CPV-Codes maßgeblich.

Die hier ausgeschriebenen Leistungen unterfallen nach Ansicht der Vergabekammer zwar den dort aufgelisteten CPV-Codes „Überwachung von Alarmanlagen“ und „Bewachungsdienste“.

Allerdings seien bei der Prüfung ergänzend die in der Gesetzesbegründung zu § 130 GWB sowie in dem Erwägungsgrund 114 der Richtlinie 2014/24/EU erläuterten Motive für die Verfahrenserleichterungen für soziale oder besondere Dienstleistungen zu berücksichtigen.

Dies folge daraus, dass gem. § 64 VgV öffentliche Aufträge über soziale und besondere Dienstleistungen unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Dienstleistung zu vergeben seien.

Die Sonderregelungen für soziale oder besondere Dienstleistungen seien dadurch gerechtfertigt, dass die Tätigkeiten oftmals personen- oder ortsgebunden erbracht würden und ihnen nur eine eingeschränkte grenzüberschreitende Dimension zukomme. Letzteres liege darin begründet, dass es sich um Dienstleistungen handele, die in einem besonderen Kontext erbracht würden, der sich aufgrund unterschiedlicher kultureller Tradition in den einzelnen Mitgliedsaaten stark unterscheide.

Diese Voraussetzungen sind aus Sicht der Vergabekammer jedoch nicht erfüllt.

Es sei nicht ersichtlich, warum den hier ausgeschriebenen Leistungen eine nur eingeschränkt grenzüberschreitende Dimension zukommen soll. Die verfahrensgegenständlichen Leistungen gehen aus Sicht der Vergabekammer maßgeblich vom gesetzlichen Rahmen und nicht von den sich stark unterscheidenden kulturellen Traditionen in den Mitgliedsstaaten aus.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung überzeugt nicht.

Ob soziale oder besondere Dienstleistungen vorliegen, bestimmt sich gem. § 130 GWB danach, ob die ausgeschriebenen Leistungen unter die in dem Anhang XIV der Richtlinie 2014/24/EU konstitutiv aufgelisteten CPV-Codes fallen (vgl. Röwekamp / Kus / Portz / Prieß, Kommentar zum GWB-Vergaberecht, 5. Auflage 2020, § 130 GWB, Rn. 6).

Die Vergabekammer stellt selbst fest, dass die verfahrensgegenständlichen Leistungen den in diesem Anhang aufgelisteten CPV-Codes „Überwachung von Alarmanlagen“ und „Bewachungsdienste“ zuzuordnen sind.

Eine weitergehende Prüfung, ob die unter die jeweiligen CPV-Codes fallenden Leistungen tatsächlich personen- oder ortsgebunden erbracht werden und nur eine eingeschränkt grenzüberschreitende Dimension aufweisen, ist nicht vorgesehen. Die Argumentation der Vergabekammer überzeugt nicht.

Die von der Vergabekammer insoweit angeführte Vorschrift des § 64 VgV regelt, dass bei der Gestaltung der Vergabe von sozialen oder besonderen Dienstleistungen die Besonderheiten dieser Leistungen zu berücksichtigen sind. Die Vorschrift bestimmt demnach, dass der öffentliche Auftraggeber im Vergabeverfahren beispielsweise die Notwendigkeit, Qualität, oder Verfügbarkeit der Dienstleistungen berücksichtigen kann (BT Drs. 18/7318, S. 200).

Aus der Vorschrift lässt sich daher keine Aussage zu der tatbestandlichen Bestimmung des Vorliegens von sozialen oder besonderen Dienstleistungen ableiten. Sie ist somit kein tauglicher Anknüpfungspunkt, um eine Prüfung vorzunehmen, ob bestimmte Leistungen, die unter die in Anhang XIV der Richtlinie 2014/24/EU aufgelisteten CPV-Codes fallen, im Einzelfall tatsächlich personen- oder ortsgebunden erbracht werden sollen und eine nur eingeschränkt grenzüberschreitende Dimension aufweisen.

Dementsprechend hat beispielsweise die Vergabekammer Rheinland in einer Entscheidung aus dem Jahr 2019 „Bewachungsdienstleistungen“ ohne Weiteres als soziale oder besondere Dienstleistungen eingestuft (VK Rheinland, Beschl. v. 27.09.2019 – VK 35/19). Die in dem der Entscheidung zugrundeliegenden Vergabeverfahren ausgeschriebenen Leistungen unterfielen ebenfalls dem CPV-Code Bewachungsdienste. Die Vergabekammer Rheinland prüfte nicht, ob die Leistungen in diesem Einzelfall personen- oder ortsgebunden erbracht werden sollten und eine nur eingeschränkt grenzüberschreitende Dimension aufwiesen.

Praxistipp

Für die Bestimmung des Vorliegens von sozialen oder besonderen Dienstleistungen besteht eine klare gesetzliche Regelung. Sofern die auszuschreibenden Leistungen den in Anhang XIV der Richtlinie 2014/24/EU aufgeführten CPV-Codes unterfallen, sind diese Leistungen soziale oder besondere Dienstleistungen. Dann dürfen Auftraggeber auf die in § 130 GWB und § 65 VgV enthaltenen Sonderregelungen zurückgreifen. Die Schwierigkeiten bei der Feststellung, ob Dienstleistungen soziale oder besondere Dienstleistungen darstellen, resultieren daraus, dass der Katalog der CPV-Codes wenig anwenderfreundlich gestaltet ist (vgl. etwa VK Südbayern, Beschl. v. 23.08.2017 – 3-3-3194-1-24-05/17).

Die hier dargestellte Entscheidung sorgt für weitere Rechtsunsicherheit bei der Prüfung des Vorliegens von sozialen oder besonderen Leistungen, da ohne überzeugende Begründung geprüft wird, ob Leistungen, die dem Anhang XIV der Richtlinie 2014/24/EU unterfallen, im Einzelfall tatsächlich orts- oder personenbezogen erbracht werden sollen und eine nur eingeschränkt grenzüberschreitende Dimension aufweisen.

Auftraggeber, die beabsichtigen, auf die Sonderregelungen für soziale oder besondere Dienstleistungen zurückzugreifen, sollten die weitere Entwicklung in der Rechtsprechung genau beobachten.

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Über Lars Lange, LL.M. (Kopenhagen)

Der Autor Lars Lange ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht bei der Morgenstern Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Hamburg. Er berät Auftraggeber und Bieter zu sämtlichen Aspekten des Vergaberechts

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3 Kommentare

  1. Dr. Klaus Greb

    Die Entscheidung der VK Westfalen verunsichert unnötigerweise die Einordnung von besonderen Dienstleistungen. Im Grunde genommen setzt sich die Kammer an die Stelle des europäischen Normgebers und widerspricht der eigentlich klaren Einordnung von Bewachungsdienstleistungen per CPV-Nummer als besondere Dienstleistungen. Hoffentlich nehmen sich andere Nachprüfungsinstanzen dies nicht als Vorbild.

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  2. Dr. Friederike Mussgnug

    Zudem verkennt die VK den Zweck der Anforderung aus § 64 VgV, bei der Vergabe die Besonderheiten der jeweiligen Dienstleistung zu berücksichtigen. Es geht hier um die Verfahrensgestaltung und mithin um eine Anforderung eine dem Beschaffungszweck dienliche Ausschreibung sicherzustellen (was gerade auch auf einen vergaberechtskonform transparenten Dialog mit Bietern und die Einbeziehung ihres Knowhows in herauslaufen kann). Das alles verstellt die VK mit ihrer Auslegung, die vor allem darauf abzuzielen scheint, den Zugang zu den für nötig erachteten Gestaltungsspielräume möglichst wieder zu beschränken.

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  3. Dr. Klaus Greb

    Die von mir geäußerte Hoffnung einer Einzelauffassung wird womöglich erhört. Die VK Hessen hat in der jüngst veröffentlichten Entscheidung 69d-VK-11/2021 vom 17.09.2021 zu Sicherheitsleistungen als besondere Dienstleistungen schlicht geprüft, ob die nachgefragten Dienstleistungen tatsächlich Sicherheitsdienstleistungen sind und damit der einschlägigen CPV-Nummer zugeordnet werden können. Weitergehende Anforderungen, wie sie die VK Westfalen gesehen haben will, werden nicht geprüft.

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