In seinem aktuellen Urteil vom 15. September 2022 befasst sich der EuGH mit der Frage des Ausschlusses von Angeboten zweier miteinander verbundener Bieter, die eine wirtschaftliche Einheit bildeten. Im Raum stand ein Ausschluss wegen Wettbewerbsverfälschung und auf Grundlage des Gebots der Gleichbehandlung. Der EuGH nutzt die Gelegenheit zur Klarstellung des Verhältnisses zwischen dem kartellrechtlichen Konzernprivileg und dem Ausschlussgrund wettbewerbsschränkender Vereinbarungen im Vergabeverfahren.
Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU, Art. 18 Abs. 1 Richtlinie 2014/24/EU
1. Der Ausschlussgrundgrund wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen nach Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU umfasst zwar Situationen, in denen hinreichend plausible Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Wirtschaftsteilnehmer eine gegen Art. 101 AEUV verstoßende Vereinbarung getroffen haben; er ist aber nicht auf solche Vereinbarungen beschränkt.
2. Die fakultativen Ausschlussgründe sind in Art. 57 Abs. 4 Richtlinie 2014/24/EU abschließend aufgezählt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz der Vergabe eines Auftrags an Wirtschaftsteilnehmer, die eine wirtschaftliche Einheit bilden und deren Angebote trotz getrennter Abgabe weder eigenständig noch unabhängig sind, nicht entgegenstehen kann.
Die Entscheidung des EuGH geht auf einen Vorlagebeschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) zurück. Das Ausgangsverfahren betraf ein Offenes Verfahren zur Vergabe öffentlicher Busverkehrsdienstleistungen. In dem Vergabeverfahren gab der Bieter J, ein eingetragener Kaufmann, ein Angebot ab. J war zugleich Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter der K GmbH, die ebenfalls ein Angebot abgab. Der Auftraggeber schloss sowohl J als auch die K GmbH wegen Verstoßes gegen den Geheimwettbewerb und wegen Wettbewerbsverfälschung vom Vergabeverfahren aus.
Hiergegen wandten sich J und die K GmbH nach vorangegangener Rüge mit einem Nachprüfungsantrag. Die Antragsteller machten geltend, dass keine Wettbewerbsverfälschung vorliege. Sie würden einen qualifiziert faktischen Konzern im Sinne des § 17 Abs. 1 AktG bilden, so dass sie nicht in einem Wettbewerbsverhältnis zueinander stünden. Wegen fehlenden Wettbewerbs könne dieser auch nicht eingeschränkt oder verfälscht werden.
Die Vergabekammer Südbayern gab dem Nachprüfungsantrag statt. Bei den Antragstellern handele es sich um verbundene Unternehmen, zwischen den von vorneherein kein Wettbewerb bestehen könne. Ein abgestimmtes Verhalten sei zwischen den beiden nur formal selbständigen Unternehmen nicht vermeidbar. In einem solchen Fall seien § 1 GWB oder Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht anwendbar. Es sei nicht Aufgabe des Vergaberechts, einen objektiv am Markt nicht existenten Wettbewerb zu schützen oder überhaupt erst herzustellen. Die Antragsteller seien daher nicht nach § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB auszuschließen, weil sie die Angebote in Kenntnis des jeweils anderen Angebots abgegeben hätten.
Auf die sofortige Beschwerde des Antragsgegners setzte das BayObLG das Verfahren aus und legte dem EuGH drei Fragen zur Vorabentscheidung vor. Erstens wollte das BayObLG vom EuGH wissen, ob der fakultative Ausschlussgrund der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung (Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU) dahingehend auszulegen sei, dass der öffentliche Auftraggeber hinreichend plausible Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV verfügen muss. Nach Auffassung des BayObLG war dies zu bejahen, da in Erwägungsgrund 101 der Richtlinie 2014/24/EU ein Verstoß gegen Wettbewerbsregeln erwähnt werde. Wenn Unternehmen eine wirtschaftliche Einheit bilden würden, könnten sie sich auf das „Konzernprivileg“ berufen. Art. 101 AEUV sei dann nicht anwendbar.
Für den Fall, dass die erste Frage vom EuGH bejaht wird, wollte das BayObLG wissen, ob die fakultativen Ausschlussgründe in dem Sinne als abschließend zu verstehen sind, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 18 Abs. 1 Richtlinie 2014/24/EU) bei Abgabe weder eigenständiger noch unabhängiger Angebote einer Zuschlagserteilung nicht entgegenstehen kann. Ferner wollte das BayObLG wissen, ob der Gleichbehandlungsgrundsatz dann dahingehend auszulegen sei, dass er einer Erteilung des Zuschlags an Unternehmen entgegenstehe, die weder eigenständig noch unabhängig seien.
Der EuGH beantwortet die erste Vorlagefrage dahingehend, dass der fakultative Ausschlussgrund der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung nach Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU zwar Situation erfasse, in denen hinreichend plausible Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Wirtschaftsteilnehmer eine gegen Art. 101 AEUV verstoßende Vereinbarung geschlossen haben, der Ausschlussgrund aber nicht auf die in Art. 101 AEUV aufgeführten Vereinbarungen beschränkt sei. Zur Begründung verweist der EuGH darauf, dass Art. 101 AEUV in Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU nicht genannt werde. Im Gegensatz zu Art. 101 AEUV enthalte Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU nicht das Erfordernis, dass die Vereinbarungen „zwischen Unternehmen“ im Sinne des Art. 101 AEUV geschlossen sein und geeignet sein müssen, „den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen“. Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU erfasse wettbewerbswidrige Vereinbarungen gleich welcher Art und sei nicht auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen beschränkt. Dies entspreche auch der Zielsetzung von Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU. Während es bei Art. 101 AEUV um die Ahndung wettbewerbswidrigen Verhaltens zwischen Unternehmen gehe, solle Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU es dem Auftraggeber ermöglichen, die Integrität und Zuverlässigkeit der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer zu prüfe und Bieter, zu denen kein Vertrauensverhältnis unterhalten werden könne, vom Vergabeverfahren ausschließen zu können.
Die zweite Vorlagefrage und dritte Vorlagefrage beantwortet der EuGH gemeinsam. Unter Verweis auf seine Rechtsprechung zur Richtlinie 93/37 bestätigt der EuGH, dass die fakultativen Ausschlussgründe in Art. 57 Abs. 4 Richtlinie 2014/24/EU abschließend aufgezählt seien. Dies bedeute jedoch nicht, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 36 Abs. 1 Richtlinie 2014/24/EU) der Vergabe eines Auftrags an Wirtschaftsteilnehmer, die eine wirtschaftliche Einheit bilden und deren Angebote trotz getrennter Abgabe weder eigenständig noch unabhängig sind, nicht entgegenstehen könne. Die Vergabestelle sei verpflichtet zu prüfen, ob das Verhältnis zwischen den zwei Einheiten den Inhalt der einzelnen im Rahmen eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens abgegebenen Angebote konkret beeinflusst habe. Jeder wie auch immer geartete Einfluss reiche aus, um die betreffenden Einheiten ausschließen zu können. Denn die Angebote müssen eigenständig und unabhängig abgegeben werden, wenn sie von miteinander verbundenen Bietern stammen. Dies gelte erst recht für Bieter, die nicht lediglich miteinander verbunden sind, sondern eine wirtschaftliche Einheit bilden. Wenn die Angebote nicht eigenständig und unabhängig abgegeben werden, stünde der Gleichbehandlungsgrundsatz der Vergabe des Auftrags an einen der betroffenen Bieter entgegen.
Kernaussage der Entscheidung ist die Klarstellung des Verhältnisses zwischen dem kartellrechtlichen Konzernprivileg und dem Ausschlussgrund wettbewerbsschränkender Vereinbarungen im Vergabeverfahren. Kartellrechtlich unterliegen konzernverbundene Unternehmen nicht dem Verbot wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen (sog. Konzernprivileg, vgl. z.B. EuGH, Urteil v. 24.10.1996- C-73/95 P). Dies leuchtet ein, weil es sich lediglich um mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattete, faktisch aber unselbständige Teile des im Konzern zusammengefassten Gesamtunternehmens handelt. Der Konzernverbund dient typischerweise gerade dazu, eine enge Kooperation der Einzelteile des Gesamtunternehmens zu ermöglichen, um die Stellung im Wettbewerb nach außen insgesamt zu stärken. Kooperation und Abstimmung innerhalb eines Konzerns sind mit anderen Worten aus kartellrechtlicher Perspektive selbstverständlich und legitim.
Diese kartellrechtliche Wertung lässt sich nach der Rechtsprechung des EuGH aber nicht 1:1 auf den Vergabewettbewerb übertragen. Der EuGH hat klargestellt, dass der Begriff der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung nach Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU weit auszulegen ist und daher auch Situationen erfassen kann, die nicht unter das Kartellverbot aus Art. 101 AEUV fallen. Demnach kann der Ausschlussgrund aus Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU (umgesetzt in § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB) grundsätzlich auch dann zum Tragen kommen, wenn Art. 101 AEUV aufgrund des Konzernprivilegs nicht anwendbar ist.
In diesem Zusammenhang gibt der EuGH dem BayObLG Hinweise zur Entscheidung des Ausgangsverfahrens. Der EuGH weist darauf hin, dass Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU zwar keine Vereinbarung „zwischen Unternehmen“, aber jedenfalls eine Vereinbarung zwischen mindestens zwei verschiedenen Wirtschaftsteilnehmern voraussetze. Bei einer Fallgestaltung wie in derjenigen des Ausgangsverfahrens sei nicht ersichtlich, dass zwei Wirtschaftsteilnehmer, deren Entscheidungsfindung im Wesentlichen über dieselbe natürliche Person laufe, untereinander „Vereinbarungen“ schließen können, die auf eine Verzerrung des Wettbewerbs zielen. Die diesbezügliche Prüfung obliege aber dem vorlegenden Gericht. Ebenso habe das vorlegende Gericht zu prüfen, ob die Angebote eigenständig und unabhängig abgegeben wurden. Sei dies nicht der Fall, stünde der Gleichbehandlungsgrundsatz der Zuschlagserteilung auf eines der Angebote entgegen.
Die Entscheidung des EuGH liegt auf der Linie seiner bisherigen Rechtsprechung zum Umgang mit Angeboten miteinander verbundener Unternehmen im Vergabeverfahren. In der Rechtssache „VSA Vilnius“ (Urteil v 17.5.2018 – C-531/16) hatte der EuGH entschieden, dass Auftraggeber konzernverbundene Unternehmen zwar nicht automatisch von einem Vergabeverfahren auszuschließen, wenn sie sich an einem Vergabeverfahren mit verschiedenen Angeboten beteiligen. Denn ein grundsätzliches Verbot der Parallelbeteiligung konzernverbundener Unternehmen gibt es nicht. Konzernverbundene Unternehmen müssen aber Vorkehrungen treffen, durch die die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Angebote sichergestellt wird. Gelingen kann dies durch Maßnahmen, die eine organisatorische, räumliche und technische Trennung der Angebotsprozesse gewährleisten, sogenannte „chinese walls“.
Die klare Positionierung des EuGH, dass Angebote stets eigenständig und unabhängig voneinander abgegeben werden müssen, trägt zur Rechtssicherheit bei. Gleichwohl verbleibt jedenfalls für Fälle, in denen die miteinander verbundenen Bieter von vorneherein nicht den Eindruck erwecken, dass sie im Vergabeverfahren mit eigenständigen und selbstständigen Angeboten gegeneinander antreten, ein gewisses Störgefühl. In solchen Fällen kann den Bietern jedenfalls nicht der Vorwurf gemacht werden, einen Scheinwettbewerb zu inszenieren. Derartige Konstellationen ähneln eher der Situation der Abgabe mehrerer Hauptangebote durch einen Bieter. Die Abgabe von zwei Hauptangeboten ist nach der Rechtsprechung wiederum jedenfalls nicht grundsätzlich unzulässig, was sich für den Anwendungsbereich des VOB/A-EU auch aus § 8 EU Abs. 2 Nr. 4 VOB/A ergibt. Darüber, ob es wettbewerblich einen Unterschied macht, wenn zwei verbundene Bieter, die nicht miteinander konkurrieren, sondern kooperieren, offen und transparent zwei Angebote einreichen oder ob ein und derselbe Bieter zwei Hauptangebote mit genau denselben Inhalten einreicht, lässt sich diskutieren. Aus Wettbewerbsperspektive sicher anders zu werten sind Fälle, in denen die miteinander verbundenen Bieter versuchen, durch ihre Angebotstaktik Verfahrensvorgaben des Auftraggebers wie beispielsweise eine Loslimitierung auszuhebeln.
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Der Autor Dr. Tobias Schneider ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht im Berliner Büro der Kanzlei Dentons. Er berät Unternehmen und öffentliche Auftraggeber bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen und vertritt deren Interessen in Vergabeverfahren und vor den Nachprüfungsinstanzen.
Danke, Herr Dr. Schneider, für die wirlich gute rechtliche Würdigung und den Praxistipp.
Das hat mir dann bestätigt, was ich bei den Kapiteln „Leitsatz“, „Sachverhalt“ und „Entscheidung“ nur vermutet konnte. Anders gesagt: diese Kapitel waren kaum leserlich. Sätze mit 56 Wörtern und drei Nebensätzen und juristischen Formulierungen sind auch für geübte Leser nicht mehr verständlich. Ich vermute aber, dass der Verfasser da nah am Begründungstext des EuGH war und vieles direkt aus der Urteilsbegründung übernommen hat. Für diese Annahme spricht, dass die „rechtliche Würdigung“ und der „Praxistipp“ dann auf einmal in einer ganz anderen und viel verständlicheren Sprache daherkommen.
Mit freundlichen Grüßen
Ralf Ziomkowski
Lieber Herr Ziomkowski,
vielen Dank für Ihre Anmerkung!
Sie haben Recht, die Darstellung im Abschnitt „Entscheidung“ ist recht nah am Begründungstext des EuGH. Manche Sätze empfinde ich beim erneuten Durchlesen ebenfalls als noch zu lang und kompliziert. Eine Urteilsbesprechung in einem Blog ist insoweit eine Gradwanderung zwischen Verkürzungen und Vereinfachungen zur Verbesserung der Verständlichkeit und der Wiedergabe der wesentlichen rechtlichen Erwägungen des Gerichtshofs.
Es freut mich aber, dass die rechtliche Würdigung und der Praxistipp Sie dann noch entschädigen konnten und bei der Einordnung der Entscheidung hilfreich sind!
Mit besten Grüßen
Tobias Schneider