Gerade im Bereich von Dienstleistungen im Niedriglohnsektor sind öffentliche Auftraggeber oftmals vermeintlichen Dumping-Angeboten ausgesetzt. Die vergaberechtlichen Regelungen ermöglichen zwar einen Ausschluss von unauskömmlichen Angeboten. Die Anforderungen an Prüfung und Dokumentation durch die Vergabestellen sind jedoch häufig aufwändig und komplex.
§ 60 VgV
1. Der öffentliche Auftraggeber verlangt vom Bieter Aufklärung, wenn der von ihm angebotene Preis im Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung ungewöhnlich niedrig erscheint. Er hat für die Entscheidung der Frage, ob der Preis eines Angebots ungewöhnlich niedrig erscheint, einen Einschätzungs- bzw. Beurteilungsspielraum, der von ihm pflichtgemäß und fehlerfrei auszuüben ist.
2. Der Spielraum des Auftraggebers wird dahingehend begrenzt, dass er jedenfalls all diejenigen Merkmale des konkreten Auftragsgegenstands in den Blick nehmen muss, die eine Einschätzung ermöglichen können, ob der angebotene Preis im Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung ungewöhnlich niedrig erscheint. Allein eine Betrachtung der im Wettbewerb abgegebenen Angebote genügt hierfür in der Regel nicht.
3. Um das Verhältnis zwischen dem angebotenen Preis und der zu erbringenden Leistung sachgemäß einschätzen zu können, sind alle für die Angebotskalkulation relevanten Merkmale geboten, sofern der öffentliche Auftraggeber solche ausdrücklich in den Vergabeunterlagen vorgegeben hat.
Ein öffentlicher Auftraggeber schrieb Bewachungsdienstleistungen für mehrere Liegenschaften aus. Er wählte hierzu ein Offenes Verfahren und sah als einziges Zuschlagskriterium den Preis vor. Ein Bieter, dessen Angebot anhand der angebotenen Stundenverrechnungssätze auf dem dritten Rang landete, rügte die mangelhafte Prüfung der Auskömmlichkeit des erstplatzierten Angebots.
Im Ergebnis wies die Vergabekammer den Nachprüfungsantrag zurück. Die Auskömmlichkeitsprüfung durch den Auftraggeber sei nicht zu beanstanden. Die hierzu ergangene Entscheidung der Vergabekammer des Bundes enthält über den konkreten Einzelfall hinaus drei zentrale Aspekte zur Auskömmlichkeitsprüfung.
Die Auskömmlichkeitsprüfung wird seit einer BGH-Entscheidung im Jahr 2017 von der Rechtsprechung als eine Obliegenheit der Vergabestelle angesehen, die ein unterlegener Bieter geltend machen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 17.01.2017, X ZB 10/16). Jedoch darf der unterlegene Bieter dieses Verlangen nach Auffassung der Vergabekammer des Bundes nicht lediglich auf eine „willkürliche Vermutung“ stützen. Erforderlich sind vielmehr fundierte Ausführungen und – soweit der Informationsstand dies hergibt – konkrete Anhaltspunkte.
Die Vergabestelle hat bei der Einschätzung, ob ein Angebot auskömmlich ist, einen Beurteilungsspielraum. Mit Verweis auf jüngere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 15.09.2022, Rs. C-669/20) betont die Vergabekammer, dass der öffentliche Auftraggeber dabei gehalten sei, den Angebotspreis im Verhältnis zu der konkret zu erbringenden Leistung zu prüfen. Insbesondere ein Vergleich mit den übrigen abgegebenen Angeboten genüge in der Regel nicht. Diese Abkehr von der 20%-Aufgreifschwelle ist durchaus zu begrüßen. Einerseits ist durchaus denkbar, dass auch mehrere oder alle Angebote unauskömmlich kalkuliert sind und damit untereinander einen geringen preislichen Abstand aufweisen. Andererseits kann sich ein großer preislicher Abstand auch dadurch ergeben, dass bis auf das Angebot des Bestbieters alle Angebote unwirtschaftlich und überteuert sind.
Die Vergabestelle ist gehalten, alle für die Angebotskalkulation relevanten Merkmale umfassend zu würdigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der öffentliche Auftraggeber in den Vergabeunterlagen bestimmte Kalkulationsvorgaben gemacht hat. Berücksichtigt die Vergabestelle solche Kalkulationsvorgaben in der Auskömmlichkeitsprüfung nicht, ist diese fehlerhaft. Daraus ergibt sich für öffentliche Auftraggeber nicht nur ein hoher Prüfungs-, sondern ebenso ein hoher Dokumentationsaufwand. Die VK Bund hat in der vorliegenden Entscheidung jedoch ausführlich dargelegt, unter welchen Voraussetzungen auch noch während des Nachprüfungsverfahrens Aspekte seitens der Vergabestelle „nachgeschoben“ werden können, die während des Vergabeverfahrens noch nicht vollständig dokumentiert wurden.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung ging zwar zugunsten der Vergabestelle aus, zeigt jedoch die komplexe Thematik der Auskömmlichkeitsprüfung und deren Fehleranfälligkeit auf. Die Tendenz der Rechtsprechung, sich von einer starren „Aufgreifschwelle“ zu entfernen, ist zu begrüßen. Die vorgenannten Beispiele zeigen, dass der Abstand zum nächsthöheren Angebot allenfalls ein Indiz für die (mangelnde) Auskömmlichkeit sein kann. Zu begrüßen sind die Ausführungen der VK Bund, unter welchen Voraussetzungen eine Vergabestelle auch noch im laufenden Vergabeverfahren Erwägungen „nachschieben“ kann. Der Dokumentationsformalismus, den die Rechtsprechung der Nachprüfungsinstanzen in den vergangenen Jahren teilweise aufgebaut hat, bringt viele Vergabestellen an ihre Grenzen. Gerade mit Blick auf das Beschleunigungsgebot erscheint der vorgezeichnete Weg als pragmatische Lösung, ohne dass dabei den Bietern Rechte beschnitten werden.
Praxistipp
Vergabestellen sind gut beraten, diese Thematik sehr sauber abzuarbeiten. Dies gilt nicht nur, wenn sie eine Rüge bzw. ein Nachprüfungsverfahren unterlegener Bieter fürchten, sondern ganz besonders auch dann, wenn der günstigste Bieter wegen fehlender Auskömmlichkeit ausgeschlossen werden soll.
Ob bei der Reinigung von Gebäuden, der Einsammlung kommunaler Abfälle oder der Bewachung öffentlicher Liegenschaften: Häufig kalkulieren die Bieter den Angebotspreis am Rande der Auskömmlichkeit, um sich im Wettbewerb durchzusetzen. Dies wirkt sich nicht selten auf die Qualität der Leistungserbringung aus. Doch mit den richtigen vergaberechtlichen Stellschrauben können öffentliche Auftraggeber zumindest Anreize setzen, um Dumping-Preise zulasten der Qualität möglichst zu verhindern. Wichtig ist dabei, neben dem Zuschlagskriterium „Preis“ möglichst auch qualitative Kriterien vorzusehen. Darüber hinaus können Kalkulationsvorgaben helfen, die Unterschreitung von Mindeststandards zu verhindern. Und nicht zuletzt verbleibt die Möglichkeit, von den Bietern umfassende Aufklärung zu verlangen, wenn Preise unauskömmlich erscheinen. Hierbei regelt § 60 Abs. 3 VgV, dass bei Restzweifeln ein Ausschluss erfolgen kann. Demnach muss also nicht die Vergabestelle die Unauskömmlichkeit beweisen, sondern der betreffende Bieter hat die Auskömmlichkeit plausibel darzulegen.
Es empfiehlt sich zu Dokumentationszwecken in jedem Fall, die Auskömmlichkeitsprüfung nicht lediglich im Rahmen eines „Aufklärungsgesprächs“ abzuhandeln, sondern Fragen und Antworten schriftlich festzuhalten.
Dr. Alexander Dörr ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Er berät bundesweit in erster Linie die öffentliche Hand bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsprojekten sowie bei komplexen vergaberechtlichen Fragestellungen. Ein Schwerpunkt bildet dabei die rechtliche und strategische Begleitung von großvolumigen Ausschreibungsvorhaben öffentlicher Auftraggeber, überwiegend im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb. Daneben vertritt Herr Dörr regelmäßig öffentliche Auftraggeber in Nachprüfungsverfahren. Zudem hält er zu unterschiedlichen vergaberechtlichen Themen Schulungen und Seminare. Dr. Dörr ist unter anderem Dozent am Bildungszentrum der Bundeswehr. Er publiziert darüber hinaus zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften und ist regelmäßiger Autor auf vergabeblog.de.
0 Kommentare