Bei der vergaberechtlichen Auftragswertschätzung sind fortan die Auftragswerte aller HOAI-Leistungsbilder und sonstiger Planungs- und Ingenieurleistungen eines Bauvorhabens zu addieren. Das Privileg der getrennten Auftragswertberechnung gemäß § 3 Abs. 7 Satz 2 VgV entfällt. Die Bundesregierung lenkt damit in einem Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission ein mit der voraussehbaren Folge, dass künftig Planungs- und Ingenieurleistungen wesentlich häufiger EU-weit ausgeschrieben werden müssen.
Änderung von VgV, SektVO und VSVgV
Im Zuge der Verordnung zur Anpassung des Vergaberechts an die Einführung neuer elektronischer Standardformulare („eForms“) für EU-Bekanntmachungen und an weitere europarechtliche Anforderungen vom 17. August 2023 (siehe
hat die Bundesregierung nicht nur die eForms eingeführt, sondern bei dieser Gelegenheit auch das sog. Planerprivileg gemäß § 3 Abs. 7 Satz 2 VgV sowie die gleichlautenden Vorschriften im Sektorenbereich und im Bereich der Verteidigung und Sicherheit aufgehoben (§ 2 Abs. 7 Satz 2 SektVO und § 3 Abs. 7 Satz 3 VSVgV). Damit sind künftig wesentlich mehr Planungsleistungen als bisher europaweit auszuschreiben. Die Verordnung ist am 24. August 2023 in Kraft getreten und anwendbar.§ 3 VgV beinhaltet die Regelungen zur Auftragswertschätzung im Liefer- und Dienstleistungsbereich. Bei Dienstleistungen und somit auch Planungsleistungen liegt der Schwellenwert derzeit bei EUR 215.000 netto; im Sektorenbereich sowie im Bereich der Verteidigung und Sicherheit beträgt er EUR 431.000 netto.
§ 3 Abs. 1, 2, 7 und 8 VgV fordern eine Gesamtbetrachtung aller Leistungen eines Vorhabens, insbesondere die Addierung aller Lose bei losweiser Ausschreibung. § 3 Abs. 7 Satz 2 VgV sah bisher eine Ausnahme hiervon für Planungsleistungen dergestalt vor, dass bei der Auftragswertschätzung von Planungsleistungen die Auftragswerte der einzelnen HOAI-Leistungsbilder nicht zusammenzurechnen, sondern nur die Werte gleichartiger Planungsleistungen. Dies führte zu einer häufigen Unterschreitung des Schwellenwerts für die jeweilige Planungsleistung und zur Möglichkeit, sich auf eine nationale Vergabe zu beschränken. Dies führt zu diversen Verfahrenserleichterungen und zum Entfall des Nachprüfungsverfahrens.
Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland
Von der Europäischen Kommission wurde das Planerprivileg gemäß § 3 Abs. 7 Satz 2 VgV sowie die gleichlautenden Vorschriften im Sektorenbereich und im Bereich der Verteidigung und Sicherheit mehrfach beanstandet. Nachdem Deutschland dies ignoert hat, hat die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren beim EuGH angestrengt. Die dem deutschen Oberschwellenvergaberecht zugrundeliegenden EU-Vergaberichtlinien sähen eine solche Privilegierung für Planungsleistungen nämlich nicht vor. Als einen Verstoß gegen das Recht der Europäischen Union wertet es daher die Kommission, dass das deutsche Recht eine Ausnahme für Planungsleistungen enthält und insoweit den Anwendungsspielraum europäischer Vergaben einschränkt.
Dem Vernehmen nach tendierte der EuGH dazu, der Rechtsauffassung der Kommission zu folgen. Mit einer Abschaffung des Planerprivilegs kommt die Bundesregierung einer drohenden Verurteilung der Bundesrepublik in dem von der Europäischen Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren zuvor.
Künftig ist konsequente Zusammenrechnung unumgänglich
Zukünftig kommt es bei der Auftragswertschätzung darauf an, ob mehrere Planungsleistungen – gleich, ob sie demselben oder unterschiedlichen Leistungsbildern angehören – einen funktionalen Zusammenhang aufweisen. Ist dies der Fall, sind sie bei der Auftragswertschätzung zusammenzuziehen. Einen funktionalen Zusammenhang weisen Leistungen auf, wenn sie in wirtschaftlicher und technischer Hinsicht eine innere Kohärenz und eine funktionelle Kontinuität aufweisen (EuGH, Urteil vom 15. März 2012 – C-574/10 – „Autalhalle“). Von einem funktionalen Zusammenhang ist jedenfalls dann auszugehen, wenn die Leistungen zusammenhängen und in den einzelnen Leistungsbildern aufeinander abgestimmt sind (vgl. OLG München, Beschluss v. 13. März 2017 – Verg 15/16).
Demgegenüber soll nach der aktuellen Verordnungsbegründung der Bundesregierung ein funktionaler Zusammenhang zwischen der eigentlichen Planung und vorgelagerten Gutachten, wie z.B. Boden- und Schallschutzgutachten, Vermessungen oder Untersuchungen im Hinblick auf Umwelt und Naturschutz, nicht bestehen (BT-Drs. 20/6118, S. 28). Auch diese zeitlich abschichtende Betrachtung findet jedoch im Gemeinschaftsrecht keine Stütze und erscheint daher im Hinblick auf die anzustrebende Rechtssicherheit der Vergaben alles andere als hilfreich. Im Fall zur Autalhalle (EuGH, a.a.O.), mit dem die kritische Würdigung der deutschen Betrachtungsweise durch die europäischen Organe ihren Anfang nahm, hatte der EuGH in der zeitlichen Staffelung von Bauabschnitten gerade keine hinreichende Rechtfertigung für eine getrennte Wertberechnung der betreffenden Leistungsabschnitte gesehen. Entscheidend ist vielmehr, ob die Planungsleistung ein und demselben Bauvorhaben dient. Dies freilich führt zu einer konsequenten Zusammenrechnung der Auftragswerte. Öffentliche Auftraggeber sind daher gut beraten, die Zusammenrechnung konsequent umzusetzen, andernfalls erscheint naheliegend, dass diesbezügliche Vorstöße wiederum ein jähes Ende vor der Vergabekammer finden.
Kurzfristige Lösung: Nutzung des sog. 20-Prozent-Kontigents
Um eine europaweite Ausschreibung für wertmäßig überschaubare Planungsleistungen zu vermeiden, verbleibt weiterhin ein Weg: Auftraggeber sollten die Anwendung des sog. 20-Prozent-Kontigents gemäß § 3 Abs. 9 VgV (bzw. § 2 Abs. 9 SektVO oder § 3 Abs. 7 Satz 5 VSVgV) prüfen. Danach kann der Auftraggeber von einer europaweiten Ausschreibung einzelner Dienstleistungslose absehen und diese stattdessen nach den innerstaatlichen Vorgaben vergeben, wenn der geschätzte Nettowert des jeweiligen Loses unter EUR 80.000 liegt und die Summe der Nettowerte dieser Lose 20 Prozent des Gesamtauftragswerts nicht übersteigt. Vorplanungen, Leistungen von Sonderfachleuten und Gutachterleistungen können damit nach wie vor im nationalen Vergaberahmen vergeben werden, wobei § 50 UVgO sogar ein besonders liberales Vergaberegime mit nur wenigen Regularien bereithält. In der Regel ist hier die Einholung von drei Angeboten als ausreichend anzusehen.
Längerfristige Perspektive: Erhöhung der Schwellenwerte?
Soweit auf Auftraggeberseite (insbesondere dem Bundesrat und dort namentlich dem Freistaat Bayern) außerdem dafür plädiert wird, seitens des Bundes dafür Sorge zu tragen, die EU-Schwellenwerte zu erhöhen, ist dieser Reformansatz durchaus hörenswert. Die Schwellenwerte sind unnötig niedrig angesetzt, was sich auch darin zeigt, dass bei EU-Vergaben eher selten tatsächlich ausländische Unternehmen am Start sind, gerade auch im Planerbereich. Die faktischen Hürden einer Bewerbung um und Ausführung von Aufträgen im Ausland (fremde Sprache, fremdes Recht, ungewohnte Gepflogenheiten, fehlende Verankerung vor Ort und fehlendes Netzwerk für Kooperationen) sind nicht zu unterschätzen und treten erst ab sehr bedeutenden Auftragswerten in den Hintergrund. Insoweit wäre wünschenswert, dass die Politik auch solche Rechtstatsachen einmal in den Blick nimmt und gründlich analysiert, anstatt nur abstrakt einen Wettbewerb einzufordern, der von den Auftraggebern ebenso wie von den Wettbewerbsteilnehmern ersichtlich nicht gewollt ist und daher rein faktisch nicht zustande kommt, folglich die damit üblicherweise erhofften Segnungen auch nicht zur Entfaltung kommen lässt.
Hinzukommt, dass die Schwellenwerte schon seit Jahrzehnten nicht spürbar angehoben worden sind und auch die (mittlerweile wieder erhebliche) Inflation ihre Wirkungen entfaltet. Von daher sollte man sich von gewohnten Betrachtungsweisen lösen. Selbst eine kräftige Erhöhung (etwa mit dem Faktor 1,5) der Schwellenwerte wäre ohne weiteres angemessen und würde den Binnenmarkt nicht spürbar einschränken, hingegen die Auftragsvergabe von vielen bürokratischen Hürden und Verzögerungen befreien. Soweit dem entgegengehalten wird, die Erhöhung der Schwellenwerte sei aufgrund der Kopplung mit dem Governmental Procurement Agreement (GPA) ein aufwendiger Prozess (so die Stellungnahme der Bundesregierung vom 17. März 2023), trifft dies zwar zu; erst recht sollte dies nicht auf die lange Bank geschoben werden. Und allzu gut erscheint möglich, dass man hier auf Ebene der Mitgliedstaaten der EU und des GPA nicht etwa auf große Widerstände stößt, sondern offene Türen einrennt.
Dr. Jakob Steiff, LL.M.
Dr. Jakob Steiff, LL.M. ist Rechtsanwalt und Partner bei CMS Hasche Sigle, in Frankfurt am Main. Er verfügt über umfassende Erfahrung bei der Konzeption und Durchführung komplexer Vergabeverfahren auf Seiten der öffentlichen Hand sowie der Beratung von Bieterunternehmen mit Blick auf eine erfolgreiche Teilnahme am Vergabeverfahren. Zudem vertritt er seine Mandanten regelmäßig in Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern und -senaten und den europäischen Gerichten.
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