Anlässlich der Vorlage eines portugiesischen Gerichts befasst sich der EuGH mit den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinienvorgaben zu den fakultativen Ausschlussgründen in nationales Recht. Die Entscheidung enthält wichtige Aussagen zu Begründungs- und Informationspflichten öffentlicher Auftraggeber bei der (Nicht-)Anwendung von Ausschlussgründen.
Art. 55 Abs. 2, Art. 57 Abs. 4 und 5 Unterabs. 2 Richtlinie 2014/24/EU
Leitsätze (nicht amtlich)
- Öffentliche Auftraggeber haben im eigenen Ermessen zu entscheiden, ob sie einen Bewerber oder Bieter wegen Vorliegens eines fakultativen Ausschlussgrunds ausschließen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet die Auftraggeber, eine konkrete und auf den Einzelfall bezogene Beurteilung der Verhaltensweise des Bewerbers oder Bieters auf Grundlage aller relevanten Umstände vorzunehmen.
- Im Lichte des allgemeinen Grundsatzes der guten Verwaltung müssen Auftraggeber auch die Entscheidung begründen, trotz Vorliegens eines fakultativen Ausschlussgrunds von einem Ausschluss abzusehen. Die Begründung ist den übrigen am Verfahren beteiligten Bewerbern und Bietern mitzuteilen, damit diese gegebenenfalls gegen die Entscheidung vorgehen können.
Sachverhalt
Die Entscheidung des EuGH geht auf einen Vorlagebeschluss des Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) zurück. Das Ausgangsverfahren betraf die Vergabe eines Auftrags über die Lieferung von Bolzen und Eisenbahnschwellen.
Nach dem anwendbaren portugiesischen Recht dürfen Unternehmen, gegen die eine verwaltungsrechtliche Sanktion wegen schwerwiegenden beruflichen Fehlverhaltens verhängt worden ist und die nicht inzwischen rehabilitiert wurden, nicht Bewerber oder Bieter in einem Vergabeverfahren sein. Gleiches gilt für Unternehmen, gegen die die portugiesische Wettbewerbsbehörde die Nebensanktion des Verbots der Teilnahme an öffentlichen Vergabeverfahren verhängt hat. Ferner regelt das portugiesische Recht, dass Angebote ausgeschlossen werden können, wenn starke Indizien dafür vorliegen, dass in dem Vergabeverfahren Praktiken stattgefunden haben, die zur Verfälschung des Wettbewerbs geeignet sind.
Der Auftraggeber beabsichtigt, der Firma Futrifer den Zuschlag zu erteilen, obwohl Futrifer zuvor von der portugiesischen Wettbewerbsbehörde wegen eines Verstoßes gegen Wettbewerbsrecht im Rahmen verschiedener Vergabeverfahren mit einer Geldbuße belegt worden war. Die Firma Toscca erhebt Klage gegen die beabsichtigte Zuschlagserteilung. Das Gericht der zweiten Instanz gibt der Klage statt und verpflichtet den Auftraggeber, den Auftrag an Toscca zu vergeben. Das daraufhin von Futrifer angerufene Oberste Verwaltungsgericht verweist den Rechtstreit zur erneuten Entscheidung an das Gericht der zweiten Instanz zurück. Nachdem das Gericht im Ergebnis bei seiner Entscheidung bleibt, legen der Auftraggeber und Futrifer Rechtsmittel beim Obersten Verwaltungsgericht ein.
Das Oberste Verwaltungsgericht hat Zweifel, ob die in Rede stehenden portugiesischen Regelungen zum Ausschluss von Unternehmen von Vergabeverfahren mit Unionsrecht vereinbar sind und legt die Angelegenheit dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Die Entscheidung
Der EuGH stellt fest, dass die in Rede stehenden Regelungen des portugiesischen Vergaberechts unionsrechtswidrig sind.
Die Richtlinienvorgabe in Art. 57 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU ermögliche einen Ausschluss nicht nur dann, wenn die wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweise gerade im Rahmen des Vergabeverfahrens stattgefunden hat. Die Mitgliedstaaten dürften die Reichweite der Ausschlussgründe nicht einschränken. Hiergegen verstoße die portugiesische Regelung.
Die Richtlinienvorgaben würden zudem vorsehen, dass der Auftraggeber bei der Anwendung der fakultativen Ausschlussgründe eine konkrete und auf den Einzelfall bezogene Beurteilung der Integrität und Zuverlässigkeit des Bewerbers oder Bieters vornehmen müsse. Der Auftraggeber müsse eine Ermessensentscheidung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit treffen. Durch die portugiesische Regelung, nach der die Beurteilung der Integrität und Zuverlässigkeit an eine Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde gebunden ist, werde das Ermessen des Auftraggebers beeinträchtigt. Dies sei gemeinschaftsrechtswidrig. Denn die Mitgliedstaaten dürften nicht das Ermessen des Auftraggebers bei Anwendung der fakultativen Ausschlussgründe beschränken.
Rechtliche Würdigung
In seiner Entscheidung befasst sich der EuGH zunächst mit der Frage, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Richtlinienvorgaben zu den fakultativen Ausschlussgründen in nationales Recht umzusetzen. In früheren Entscheidungen hatte der EuGH die Auffassung vertreten, dass die Mitgliedstaaten entscheiden können, ob sie die fakultativen Ausschlussgründe im nationalen Recht umsetzen oder nicht (EuGH, Urteil v. 19.6.2019 – C-41/18 „Meca“, Rn. 33; Urteil v. 30.1.2020 – C-395/18 „Tim“, Rn. 34 u. 40; Urteil v. 3.6.2021 – C-210/20 „Rad Service“, Rn. 28). Diese Rechtsprechung gibt der EuGH nun ausdrücklich auf. Die Mitgliedstaaten seien verpflichtet, die fakultativen Ausschlussgründe in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen. Spielräume bestünden nur für die Art und Weise der Umsetzung, nicht hingegen bezüglich des „Ob“ der Umsetzung. Die Mitgliedstaaten könnten entscheiden, ob sie den öffentlichen Auftraggebern die Anwendung der fakultativen Ausschlussgründe gestatten oder ob sie sie hierzu verpflichten.
Im Zusammenhang mit der Erörterung des Ermessensspielraums des Auftraggebers bei der Anwendung des fakultativen Ausschlussgrunds aus 57 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU stellt der EuGH fest, dass der Auftraggeber sich bei der Beurteilung des jeweiligen Einzelfalls grundsätzlich auf das Ergebnis stützen darf, zu dem eine nationale Wettbewerbsbehörde im Rahmen ihrer Verfolgung von Wettbewerbsverstößen gekommen ist. Der Auftraggeber dürfe dabei auch berücksichtigen, wenn die Behörde eine Geldbuße oder ein vorübergehendes Verbot der Teilnahme an öffentlichen Vergabeverfahren verhängt habe. Der Auftraggeber würde durch eine solche Entscheidung der Wettbewerbsbehörde jedoch weder gehindert noch davon entbunden, eine eigene Beurteilung der Integrität und Zuverlässigkeit des Bewerbers bzw. Bieters vorzunehmen.
Das vorlegende Oberste Verwaltungsgericht hatte auch gefragt, ob der Auftraggeber die Entscheidung über die Zuverlässigkeit des Bewerbers bzw. Bieters begründen muss. Hierzu stellt der EuGH fest, dass der Auftraggeber nach dem allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz der guten Verwaltung bei der Ausübung der Entscheidung über den Ausschluss einer Begründungspflicht unterliege. Durch die Pflicht zur Begründung würde den Adressaten der Entscheidung ermöglicht, ihre Rechte geltend zu machen und in Kenntnis aller Gründe gegen die Entscheidung vorzugehen. Die Begründungspflicht bestehe insbesondere dann, wenn der Auftraggeber den Bieter wegen eines fakultativen Ausschlussgrunds wie Art. 57 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU ausschließe. Nach Art. 55 Abs. 2 lit. b) Richtlinie 2014/24/EU unterrichte der Auftraggeber auf Verlangen des Bieters so schnell wie möglich, in jedem Fall aber binnen 15 Tagen nach Eingang der schriftlichen Anfrage über die Gründe der Ablehnung seines Angebots.
Interessanterweise hebt der EuGH in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervor, dass die Begründungspflicht ebenfalls bestehe, wenn der Auftraggeber zwar feststellt, dass einer der in Art. 57 Abs. 4 Richtlinie 2014/24/EU geregelten fakultativen Ausschlussgründe erfüllt ist, der Auftraggeber aber gleichwohl beschließt, den Bieter nicht auszuschließen (z.B. weil der Ausschluss unverhältnismäßig wäre). Eine solche Entscheidung berühre die Rechtsstellung aller am Verfahren beteiligten Bewerber bzw. Bieter. Diese müssten daher ihre Rechte geltend machen können müssen und „auf Grundlage der in dieser Entscheidung enthaltenen Gründe gegebenfalls entscheiden können müssen, mit einer Klage gegen die Entscheidung vorzugehen“. Die Begründung, von einem Ausschluss abzusehen, könne insoweit in die abschließende Entscheidung über die Vergabe des Auftrags an den ausgewählten Bieter aufgenommen werden.
Praxistipp
Das deutsche Vergaberecht setzt die Vorgaben aus Art. 57 Abs. 4 und 5 Unterabs. 2 Richtlinie 2014/24/EU GWB in § 124 Abs. 1 GWB um. Anders als die portugiesischen Regelungen statuiert § 124 Abs. 1 GWB keine Einschränkungen hinsichtlich des dem Auftraggeber bei der Entscheidung über das Vorliegen eines fakultativen Ausschlussgrunds zustehenden Ermessensspielraums.
Für die deutsche Vergaberechtspraxis interessant sind insbesondere die Ausführungen des EuGH zu den Begründungs- und Informationspflichten des Auftraggebers, wenn dieser einen fakultativen Ausschlussgrund für erfüllt ansieht, jedoch trotzdem von einem Ausschluss absieht. Der EuGH verlangt, dass anderen Bewerbern oder Bietern ermöglicht werden muss, „ihre Rechte geltend zu machen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob mit einer Klage gegen die Entscheidungen vorzugehen ist“. Die Bewerber oder Bieter müssen daher über die Gründe für das Absehen von dem Ausschluss informiert werden. Geht man davon aus, dass der EuGH mit „gegen die Entscheidungen vorgehen“ einen effektiven Primärrechtsschutz gegen die Entscheidung über das Absehen von dem Ausschluss des Mitbewerbers meint, dürfte hieraus folgen, dass Auftraggeber ihre Begründung jedenfalls in das Vorabinformationsschreiben nach § 134 Abs. 1 GWB aufnehmen müssen. Denn eine Herausgabe der Information erst auf Anfrage des Bewerbers oder Bieters gemäß § 62 Abs. 2 VgV nach Zuschlagserteilung würde nicht ausreichen, um die Möglichkeit von Primärrechtsschutz zu gewährleisten.
Der EuGH leitet die Pflicht zur Begründung und zur Information der durch die Entscheidung berührten Bewerber und Bieter aus dem allgemeinen Grundsatz der guten Verwaltung her. Dies wirft die Frage auf, in welchen über der vom EuGH behandelten Konstellation des fakultativen Ausschlussgrunds des Art. 57 Abs. 4 Unterabs. 1 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU hinaus eine Begründungs- und Informationspflicht anzunehmen sein könnte. Die Erwägungen des EuGH dürften auf die in § 123 Abs. 5 GWB geregelten Konstellationen übertragbar sein. Danach kann der Auftraggeber trotz Vorliegen eines zwingenden Ausschlussgrunds von einem Ausschluss absehen, wenn dies aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses geboten ist oder ein Ausschluss offensichtlich unverhältnismäßig wäre. Die Situation ist insoweit vergleichbar mit derjenigen bei Absehen von einem Ausschluss trotz Vorliegens eines fakultativen Ausschlussgrunds.
Dr. Tobias Schneider
Der Autor Dr. Tobias Schneider ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht im Berliner Büro der Kanzlei Dentons. Er berät Unternehmen und öffentliche Auftraggeber bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen und vertritt deren Interessen in Vergabeverfahren und vor den Nachprüfungsinstanzen.
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