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Wann müssen Auftraggeber wirtschaftliche Wettbewerbsvorteile einzelner Bieter ausgleichen? (KG, Beschl. v. 01.03.2024 – Verg 11/22)

EntscheidungEs kommt in der Vergabepraxis immer wieder zu der Situation, dass Bestandsauftragnehmer durch ihre bisherige Tätigkeit wirtschaftliche Vorteile gegenüber anderen Bietern haben. Auftraggeber müssen in dieser Situation streng danach unterscheiden, ob Wettbewerbsvorteile aus der unterschiedlichen Marktstellung der Unternehmen, oder aus den vom Auftraggeber festgelegten Leistungsanforderungen resultieren. Im letztgenannten Fall müssen die Auftraggeber die Wettbewerbsvorteile ausgleichen. Das KG Berlin hat sich in einer aktuellen Entscheidung umfassend mit dieser Thematik befasst.

§ 97 Abs. 2 GWB

Leitsatz

1. Der öffentliche Auftraggeber ist nicht verpflichtet, Wettbewerbsvorteile, die durch die unterschiedliche Marktstellung der Unternehmen bedingt sind, auszugleichen.

2. Wettbewerbsvorteile, die sich daraus ergeben, dass das Bestandsunternehmen – anders als alle anderen Bieter – auf bestehende Infrastruktur (hier: Werkstattgrundstücke) zurückgreifen kann, bedürfen hingegen eines Wertungsausgleichs.

Sachverhalt

Gegenstand des Vergabeverfahrens waren Aufträge zur Lieferung, Instandhaltung und Bereitstellung von Schienenfahrzeugen und deren Betrieb für eine S-Bahn.

Die ausgeschriebenen Leistungen wurden seit 1995 von einem Bestandsauftragnehmer erbracht. Für die Instandhaltung nutzte der Bestandsauftragnehmer eigene Werkstätten auf eigenen, an das S-Bahn-Netz angeschlossenen Grundstücken.

Die Werkstattgrundstücke wurden den weiteren potenziellen Auftragnehmern in dem Vergabeverfahren optional zur Verfügung gestellt. Die entsprechenden Gleisanschlüsse waren von den Bietern in ihren Angeboten anzubieten, soweit sie diese Grundstücke nutzen wollten. Die dafür angesetzten Preise flossen in den Wertungspreis ein. Der Bestandsauftragnehmer konnte hingegen auf seine bestehenden an die S-Bahn angeschlossenen Werkstattgrundstücke zurückgreifen, wodurch er gegenüber den anderen Bietern einen zweistelligen Millionenbetrag einsparte.

Ein Bieter griff das Verfahren unter anderem mit der Begründung an, dass der Bestandsauftragnehmer in dem Verfahren einen vergaberechtlich unzulässigen Wettbewerbsvorteil habe und der Auftraggeber diesen ausgleichen müsse.

Die Entscheidung

Mit Erfolg!

Nach Ansicht des KG Berlin liegt ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz vor. Dies gelte, soweit die Gleisanschlüsse, für die den Auftragnehmern optional zur Verfügung gestellten Werkstattgrundstücke von den Bietern in ihren Angeboten anzubieten sind und die dafür angesetzten Preise in den Wertungspreis einfließen.

Dies führe zu einer unvereinbaren Benachteiligung gegenüber dem Bestandsunternehmen als möglichem Bieter. Denn anders als andere Bieter, sei es dem Bestandsunternehmen erlaubt, auf seine bestehenden Werkstattgrundstücke zuzugreifen, so dass ihm insgesamt ein zweistelliger Millionenbetrag an Kosten nicht entstehe.  Diese Kosten flössen demgegenüber bei Bietern, die auf die von dem Auftraggeber angebotenen Grundstücke für die Errichtung von Werkstätten zugreifen wollen, in den Wertungspreis ein.  Dies benachteilige die Bieter gegenüber dem Bestandsunternehmen als möglichem Konkurrenzunternehmen.

Diese Bevorzugung des Bestandsunternehmens gegenüber den anderen Bietern sei auch nicht allein durch dessen Marktstellung oder seine überlegenen Erfahrungen und Informationen als Bestandsanbieter begründet und gerechtfertigt. Dieser Wettbewerbsvorteil beruhe vielmehr auf Umständen, die ihm als Bestandsunternehmen aufgrund des konkret bestehenden geringeren Kostenaufwandes für das Angebot der nachgefragten Leistung ein günstigeres Angebot ermöglichen. Solche Vorteile seien zur Vermeidung eines Verstoßes gegen den vergaberechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz aus § 97 Abs. 2 GWB auszugleichen, sei es durch Zu- oder Abschläge bei der Wertung, sei es durch das Ausklammern bei der Wertung, sei es auf sonstige Weise.

Der Vorteil des Bestandsunternehmens folge zudem gerade nicht aus seiner im freien Wettbewerb errungenen Marktstellung, sondern daraus, dass es aufgrund seiner nahezu 30-jährigen Leistungsbeziehungen zu dem Auftraggeber eine konkret auf dessen Beschaffungsbedarf bezogene günstigere Ausgangsposition habe, da er die an das Gleisnetz der S-Bahn angeschlossenen Werkstätten vorgehalten habe. Die Möglichkeit, auf funktionsfähige, an das Gleisnetz der S-Bahn angeschlossene Betriebsstätten zurückgreifen zu können, sei ein Ausstattungsvorteil des Bestandsunternehmens, der ihm gerade auch durch seine langjährige Tätigkeit außerhalb des Wettbewerbs für den Auftraggeber und die hierbei erwirtschafteten Erträge zugewachsen sei.

Rechtliche Würdigung

1. Keine Verpflichtung zum Ausgleich von Wettbewerbsvorteilen, die durch die unterschiedliche Markstellung von Unternehmen bedingt sind

Grundsätzlich sind Auftraggeber nicht verpflichtet, identische Ausgangsbedingungen für die Bieter zu schaffen. Eine verschiedene Ausgangssituation der Bieter muss im Vergabeverfahren nicht künstlich ausgeglichen werden, um jegliche wirtschaftliche Ausnutzung eines möglicherweise bestehenden Marktvorteils zu verhindern (vgl. OLG Naumburg, Beschl. v. 05.12.2008 – 1 Verg 9/08). Dies würde dem Wettbewerbsprinzip des § 97 Abs. 1 GWB widersprechen. Derartige Vorsprünge sind vielmehr Ausfluss der unternehmerischen Tätigkeit und wurden somit im Wettbewerb erworben (Röwekamp / Kus / Portz / Prieß, Kommentar zum GWB-Vergaberecht, 5. Auflage 2020, § 97 GWB, Rn. 86).

So hat etwa auch die VK Bund entschieden, dass Bieter keinen Anspruch auf eine Anschubfinanzierung haben. In dem entschiedenen Fall hatte ein Bieter durch einen Vorauftrag einen Wettbewerbsvorsprung, weil er sich bereits auf die Besonderheiten des Beschaffungsbedarfs des Auftraggebers (etwa in Bezug auf IT-Sicherheitsanforderungen) eingerichtet hatte. Dies seien jedoch keine Migrationskosten, die andere Bieter im Rahmen einer Anschubfinanzierung beanspruchen können. Vielmehr entspreche es der normalen Rollen- und Risikoverteilung im Vertragsverhältnis, dass die Ertüchtigung des Unternehmens zum Markteintritt selbst finanziert werden müsse (VK Bund, Beschluss vom 10.03.2017 – VK 2-19/17).

Auch die VK-Sachsen-Anhalt hat entschieden, dass der Auftraggeber weder berechtigt noch verpflichtet ist, bestehende Wettbewerbsvorteile oder -nachteile potenzieller Bieter durch die Gestaltung der Vergabeunterlagen auszugleichen (VK Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 03.05.2019 – 2 VK LSA 27/18).

Wichtig ist zudem, die Frage der wirtschaftlichen Wettbewerbsvorteile von der sog. „Projektantenproblematik“ zu unterscheiden. Von der Projektantenproblematik sind nur Wettbewerbsvorteile erfasst, die sich aufgrund von Vorbefassungen eines Bieters mit der konkreten Ausschreibung in Informationsvorsprüngen dieses Bieters auswirken. Wirtschaftliche Vorteile aufgrund eines Vorauftragsverhältnisses sind damit hingegen nicht vergleichbar und nicht umfasst (VK Bund, Beschl. v. 10.03.2017 – VK 2-19/17).

 2. Die Entscheidung des KG

Der in diesem Beitrag diskutierte, von dem KG entschiedene Fall, lag hingegen anders als die soeben erläuterten Konstellationen.

In diesem Fall ging es gerade nicht um die im freien Wettbewerb errungene Marktstellung des Bestandsauftragnehmers. Sein Wettbewerbsvorteil resultierte vielmehr aus Umständen, die ihm als Bestandsunternehmen aufgrund des konkret bestehenden geringeren Kostenaufwandes für das Angebot der nachgefragten Leistung ein günstigeres Angebot ermöglichten.

Aufgrund seiner nahezu 30-jährigen Leistungsbeziehungen zu dem Auftraggeber hatte er eine konkret auf dessen Beschaffungsbedarf bezogene günstigere Ausgangsposition weil er die an das Gleisnetz der S-Bahn angeschlossenen Werkstätten vorgehalten hatte.

Praxistipp

Auftraggeber müssen in dieser Konstellation streng danach unterscheiden, ob etwaige wirtschaftliche Wettbewerbsvorteile aus der im freien Wettbewerb errungenen Marktstellung resultieren, oder ob sich die zu erwartenden Unterschiede in den Angeboten nicht aus der Marktstellung des Unternehmens, sondern aus den vom Auftraggeber festgelegten Leistungsanforderungen ergeben.

Im letztgenannten Fall sind Auftraggeber verpflichtet, entsprechende Ausgleichsmaßnahmen zu ergreifen. In dem hier diskutierten Fall hat das KG beispielsweise dem Auftraggeber aufgegeben, die Kosten für die Gleisanschlüsse bei dem Wertungspreis nicht zu berücksichtigen. Um die Vergleichbarkeit der Angebote bei unterschiedlichen Ausgangssituationen herzustellen, kann zudem mit Wertungsaufschlägen gearbeitet werden (vgl. OLG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 13.06.2019 54 Verg 2/19).

Bieter müssen darauf achten, etwaige unzulässige wirtschaftliche Wettbewerbsvorteile rechtzeitig zu rügen, damit keine Präklusion eintritt.

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Über Lars Lange, LL.M. (Kopenhagen)

Der Autor Lars Lange ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht bei der Morgenstern Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Hamburg. Er berät Auftraggeber und Bieter zu sämtlichen Aspekten des Vergaberechts

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2 Kommentare

  1. Michael Menzel

    Geht es nur mir so? Ich finde die Unterschiede, die hier gemacht werden schwierig zu verstehen. Vielleicht hat ja das Unternehmen vor 30 Jahren in den Gleisanschluss investiert. Das kann doch dann kein Nachteil sein…

    Reply

  2. Martin Beyeler

    Sehr geehrter Herr Lange,

    Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Bericht!

    Sehr geehrter Herr Menzel,

    Meines Erachtens tippen Sie auf den richtigen (und ich hoffe nicht: wunden) Punkt.

    Vielleicht liegt ein taugliches Unterscheidungsmerkmal in der Frage, ob der Auftraggeber die Investition vergütet hat, die weiterhin nutzbar ist und die sich im nun aktuellen Vergabeverfahren als besonderer (und, nach dem KG sowie nach meiner Auffassung, unzulässiger) Wettbewerbsvorteil auswirkt, oder ob diese Investition mit anderen Mitteln finanziert wurde.

    Ich weiss nicht, ob ich den Sachverhalt des konkreten Falls richtig verstehe. Möglicherweise ist hier in der Vergangenheit nicht alles rechtskonform gelaufen. Aber es müsste unabhängig von solchen Fragen möglich sein, weiterhin nutzbare Investitionen bzw. Werte, die der Auftraggeber vergütet hat, als in einem neuen Vergabeverfahren potentiell „schädlich“ einzustufen.

    Der vorliegende Fall ist aus akademischer Sicht insbesondere darum wertvoll, weil die hier auftretende Problematik ansonsten meistens im IT-Bereich und damit unter recht abstrakten Vorzeichen auftritt. Der vorliegende Fall ist sehr illustrativ für körperlich denkende Menschen (so Baurechtler wie ich selbst).

    Eine weitere Frage (die das Urteil des KG nicht problematisiert) ist es, ob der Ausgleich des Wettbewerbsvorteils durch das Ausblenden von Preiskomponenten in der Bewertung (was Spekulationen fördern kann) oder durch die Angabe und Bewertung eines fiktiven Preises des bestehenden Bieters für die bestehenden Investitionen (was ebenfalls zu Problemen führen kann) geschehen soll.

    Mit besten Grüssen!

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