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Gestaltungspotentiale „unentgeltlicher“ föderaler IT-Kooperation – „Beklagt“ euch nicht!

Wie würden Bund und Länder die föderale IT-Kooperation rechtlich gestalten, wenn ihre IT-Kooperationsfreiheit nicht durch das Vergaberecht beschränkt wäre? Einfacher? Direkter? Unbürokratischer? „Nettes Gedankenspiel, aber praktisch irrelevant!“ mag man einwenden. Schließlich ist die Verwaltung an Recht und Gesetz und damit auch an das Vergaberecht gebunden. Doch der Hinweis auf die Gesetzesbindung der Verwaltung ist so zutreffend wie die schlichte Erkenntnis: Selbst das Vergaberecht bindet nur innerhalb seines Anwendungsbereichs. Vor diesem Hintergrund beleuchtet der Beitrag zunächst den Entgeltlichkeitsmaßstab der EuGH-Rechtsprechung, insbesondere das Merkmal der Einklagbarkeit, und wirft sodann die Frage nach praktischen Gestaltungspotentialen des unentgeltlichen Austauschs von IT-Leistungen im Rahmen der föderalen IT-Kooperation auf.

I. Öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit = 108 GWB?

Die Verwaltungs- und Beratungspraxis denkt – überspitzt gesagt – die rechtliche Gestaltung öffentlich-öffentlicher Zusammenarbeit zumeist in den Grenzen des § 108 GWB. Nur in diesen Grenzen ist der nicht allgemeingültige Rechtssatz zutreffend, dass die Formen der öffentlich-öffentlichen Zusammenarbeit vergaberechtlich Ausnahmen (vom Anwendungsbereich des Vergaberechts) sind. § 108 GWB ist jedoch – an sich selbstverständlich und doch häufig verkannt – nur dann relevant, wenn der Anwendungsbereich des Vergaberechts überhaupt eröffnet ist, d.h. wenn Auftraggeber (§ 98 GWB) öffentliche Aufträge (§§ 103 f. GWB) oder Konzessionen (§ 105 GWB) vergeben oder Wettbewerbe (§ 103 Abs. 6 GWB) ausrichten, deren geschätzter Auftrags- oder Vertragswert die maßgeblichen Schwellenwerte (§ 106 Abs. 2 GWB) erreicht oder überschreitet (vgl. § 106 Abs. 1 S. 1 GWB). Sonstige Formen der öffentlich-öffentlichen Zusammenarbeit, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, unterliegen von vornherein nicht dem Vergaberecht. Auf § 108 GWB kommt es insoweit nicht bzw. allenfalls hilfsweise an.

Hinsichtlich des öffentlichen Auftrages ergibt sich dies bei der Inhouse-Vergabe bereits unmittelbar aus dem Wortlaut der einschlägigen Vorschrift – § 108 Abs. 1, 3, 4 GWB setzt die „Vergabe von öffentlichen Aufträgen“ tatbestandlich voraus – und für die Vergabe von Konzessionen aus der Verweisung des § 108 Abs. 8 GWB. Hinsichtlich der Kooperation im Sinne des § 108 Abs. 6 GWB, dessen Wortlaut statt an die „Vergabe öffentlicher Aufträge“ neutral an „Verträge“ anknüpft, folgt dies eindeutig aus der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Urteil vom 28. Mai 2020, Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung, C-796/18, Rn. 29-36).

Jenseits seines Anwendungsbereiches beschränkt das Vergaberecht die Kooperationsfreiheit von Bund und Ländern also nicht (vgl. ErwGr. 5 RL 2014/24/EU („VRL“), Art. 2 Abs. 1 RL 2014/23/EU („KonzVRL“)). Dies wirft die Frage auf, wie Bund und Länder ihre Zusammenarbeit „durch andere Mittel als öffentliche Aufträge [oder Konzessionen] im Sinne [des Vergaberechts] organisieren“ (ErwGr. 5 der VRL) können. Da gemeinsames Merkmal öffentlicher Aufträge (§ 103 Abs. 1 GWB) und Konzessionen (§ 105 Abs. 1 GWB) die Entgeltlichkeit der Verträge ist, besteht eine Möglichkeit darin, Verträge als unentgeltlich im Sinne der vergaberechtlichen Rechtsprechung des EuGH auszugestalten.

II. Der differenzierte Entgeltlichkeitsmaßstab des EuGH

Der EuGH hat in seiner vergaberechtlichen Rechtsprechung einen differenzierten Maßstab zum Entgeltlichkeitscharakter von Verträgen herausgebildet.

Danach ist ein aus mehreren Handlungen bestehender Vorgang stets in seiner Gesamtheit und unter Berücksichtigung seiner Zielsetzung zu prüfen (EuGH, Urteil vom 28. Mai 2020, Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung, C-796/18, Rn. 38). Nach der Rechtsprechung des EuGH bezeichnet der Begriff „entgeltlich“ nach seiner gewöhnlichen rechtlichen Bedeutung einen Vertrag, mit dem sich jede Partei verpflichtet, eine Leistung im Gegenzug für eine andere zu erbringen (so wörtlich EuGH, Urteil vom 10. September 2020, Tax-Fin-Lex, C-367-19, Rn. 25 mwN.). Der entgeltliche Charakter impliziert nach der Rechtsprechung des EuGH, dass der öffentliche Auftraggeber, der einen öffentlichen Auftrag vergibt, gemäß diesem Auftrag gegen eine Gegenleistung eine Leistung erhält, die für den öffentlichen Auftraggeber von unmittelbarem wirtschaftlichen Interesse ist (so EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2016, Remondis I, C-51/15, Rn. 43 mwN). Die Gegenleistung muss nicht unbedingt in der Zahlung eines Geldbetrages liegen. Die Leistung kann auch durch andere Formen von Gegenleistungen wie z.B. den Ersatz der durch die Erbringung der vereinbarten Dienstleistung entstandenen Kosten (EuGH, Urteil vom 10. September 2020, Tax-Fin-Lex, C-367/19, Rn. 26 mwN) oder u.U. die Verpflichtung zur Überlassung künftiger Anpassungen und Weiterentwicklungen einer Software vergütet werden (EuGH, Urteil vom 28. Mai 2020, Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung, C-796/18, Rn. 109). Zudem muss der Vertrag synallagmatisch sein, da dies ein wesentliches Merkmal eines öffentlichen Auftrags ist (so wörtlich EuGH, Urteil vom 28. Mai 2020, Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung, C-796/18, Rn. 40 mwN). Der synallagmatische Charakter eines Vertrages über einen öffentlichen Auftrag führt zwangsläufig zur Begründung rechtlicher zwingender Verpflichtungen für jede der Vertragsparteien, deren Erfüllung einklagbar sein muss (zum Erfordernis der Einklagbarkeit deutlich EuGH, Urteil vom 10. September 2020, Tax-Fin-Lex, C-367/19, Rn. 26 f mwN).  Folglich ist ein Vertrag unentgeltlich, mit dem ein öffentlicher Auftraggeber rechtlich nicht verpflichtet ist, eine Leistung im Gegenzug für diejenige Leistung zu erbringen, zu deren Erbringung sich sein Vertragspartner verpflichtet hat (einseitig verpflichtender Vertrag) (so EuGH, Urteil vom 10. September 2020, Tax-Fin-Lex, C-367/19, Rn. 26).

Zusammenfassend enthält die Entgeltlichkeit nach der vergaberechtlichen Rechtsprechung des EuGH damit die drei eigenständigen Merkmale: Leistung, Gegenleistung, Synallagma.

III. Denkbare Gestaltungsansätze

Die drei eigenständigen Merkmale der Entgeltlichkeit geben Anlass, darüber nachzudenken, wie Bund und Länder bei der Planung, der Errichtung und dem Betrieb der für ihre Aufgabenerfüllung benötigten informationstechnischen Systeme (IT-Systeme) im Sinne des Art. 91c Abs. 1 GG unentgeltlich zusammenwirken können.

1. Wann wird ein IT-System „geleistet“?

Der entgeltliche Charakter eines Vertrages erfordert nach der vergaberechtlichen Rechtsprechung des EuGH (s.o.) zunächst, dass der vergebende öffentliche Auftraggeber eine Leistung erhält, die für den öffentlichen Auftraggeber von „unmittelbarem wirtschaftlichen Interesse“ ist. Lässt sich das in Art. 91c Abs. 1, 2 GG angelegte und im IT-Staatsvertrag und auf dessen Grundlage durch die Beschlüsse des IT-Planungsrates konkretisierte Zusammenwirken so gestalten, dass die Bereitstellung eines IT-Systems durch eine öffentliche Stelle und seiner Nutzung durch eine andere schon diesen Leistungsbegriff (und insbesondere das Kriterium des „unmittelbaren wirtschaftlichen Interesses“) nicht erfüllt? Darüber könnte man wohl z. B. nachdenken, wenn Bund und/oder Länder im Rahmen ihrer Kompetenzen – ähnlich wie bei der Straßenverkehrsinfrastruktur – der Allgemeinheit eine IT-Basisinfrastruktur zur Nutzung bereitstellen. Die Frage des Leistungsbegriffes dürfte jedoch in aller Regel nicht entscheidungserheblich sein, da der Anwendungsbereich des Vergaberechts in derartigen Konstellationen schon aus anderen Gründen nicht eröffnet ist, etwa weil der Bereitstellung eine entsprechende Aufgabenübertragung zugrunde liegt ist (vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 2020, Porin kaupunki, C‑328/19, Rn. 46-49 mwN).

2. Wann wir ein IT-System „gegenleistungslos“ geleistet?

Deutlich praxisrelevanter ist die Frage, wie sich ein IT-System „gegenleistungslos“ und dadurch unentgeltlich leisten lässt. Spiegelbildlich zum Leistungsbegriff dürfte es auch bei der Gegenleistung erforderlich sein, dass sie für den Empfänger im „unmittelbaren wirtschaftlichen Interesse“ liegt. In der Rechtsprechung des EuGH (s.o.) ist dabei geklärt, dass die Gegenleistung nicht in der Zahlung eines Geldbetrages liegen muss, sondern auch in anderen Formen (z.B. Kostenersatz oder Verpflichtung zur Überlassung zukünftiger Anpassungen und Weiterentwicklungen einer Software) liegen kann. In diesem Sinne lässt sich die Leistung von IT-Systemen durch Bund bzw. Länder an dezentrale Aufgabenträger (wie insbesondere Kommunen und Kammern) im Falle der zentralen Finanzierung durch den Bund, die Länder bzw. Bund und Länder gemeinsam als gegenleistungslos ausgestalten (s. hierzu Ahlers, NZBau 2023, 147, 148). Aktuelle Praxisbeispiele finden sich in der OZG-Umsetzung: Bestimmte „Einer-für-Alle“-Online-Dienste finanzieren Bund und Länder im Jahr 2024 zentral über das Stammbudget der FITKO gemeinsam. Weitere werden von einigen Ländern zentral auf Landesebene finanziert und dezentralen Aufgabenträgern gegenleistungslos und damit unentgeltlich bereitgestellt.

3. Wann stehen die Leistung eines IT-Systems und die jeweilige Gegenleistung im Synallagma?

Während die gegenleistungslose Leistung von IT-Systemen inzwischen in der deutschen Verwaltungs- und Beratungspraxis als Gestaltungsmöglichkeit der vergaberechtsfreien Nachnutzung jenseits des § 108 GWB allgemein anerkannt ist, findet das Merkmal des Synallagmas bislang vergleichsweise wenig gesonderte Beachtung. Tatsächlich versteht der EuGH das Synallagma von Leistung und Gegenleistung als eigenständiges Merkmal der Entgeltlichkeit (EuGH, Urteil vom 28. Mai 2020, Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung, C-796/18, Rn. 40). In der Rechtsprechung des EuGH ist geklärt, dass der synallagmatische Charakter eines Vertrags über einen öffentlichen Auftrag zwangsläufig zur Begründung rechtlich zwingender Verpflichtungen für jede der Vertragsparteien führt, deren Erfüllung einklagbar sein muss. Der EuGH macht dabei in seinem Urteil vom 10. September 2020, Tax-Fin-Lex, C-367/19, Rn. 27 deutlich, dass auch ein einseitig verpflichtender Vertrag nicht synallagmatisch und damit nicht unentgeltlich ist:

„Folglich fällt ein Vertrag, mit dem ein öffentlicher Auftraggeber rechtlich nicht verpflichtet ist, eine Leistung im Gegenzug für diejenige Leistung zu erbringen, zu deren Erbringung sich sein Vertragspartner verpflichtet hat, nicht unter den Begriff „entgeltlicher Vertrag“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Nr. 5 der Richtlinie 2014/24.“

Für die rechtliche Gestaltung der Leistung von IT-Systemen im Rahmen der föderalen IT-Kooperation könnte man hieraus den Schluss ziehen, dass sie unentgeltlich erfolgt, wenn sie nicht oder nur einseitig rechtsverbindlich, d.h. einklagbar, ist. Anders gewendet könnte man meinen: Schließen Bund und Länder bei der rechtlichen Gestaltung des Austauschs von IT-Systemen die Einklagbarkeit der Leistung und/oder Gegenleistung aus, sind die Leistungen unentgeltlich und unterliegen allein deshalb nicht dem Anwendungsbereich des Vergaberechts.

IV. Kann es so einfach sein? – To be discussed!

Trifft diese Lesart des Entgeltlichkeitsmaßstabes der vergaberechtlichen Rechtsprechung des EuGH zu, lässt sich die Nachnutzung von IT-Leistungen im Rahmen der föderalen IT-Kooperation jedenfalls in zweierlei Hinsicht als unentgeltlich ausgestalten: Erstens können Bund und/oder Länder sie (gemeinsam) zentral finanzieren und den dezentralen Aufgabenträger gegenleistungslos bereitstellen. Zweitens können sie die Verträge – unabhängig davon – als rechtsunverbindlich, d.h. nicht einklagbar, ausgestalten.

Bewährt sich diese Lesart, eröffnet dies für die Gestaltung der Nachnutzung von IT-Leistungen im Rahmen der föderalen IT-Kooperation neue rechtliche Spielräume. Für die Wahrnehmung der Gestaltungsspielräume wäre in der Praxis die Fragen zu klären, wie Bund und Länder die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen des unentgeltlichen Leistungsaustauschs schaffen können, in welchen Konstellationen unentgeltlicher Leistungsaustausch politisch sinnvoll ist und wie sich die mangelnde vertragliche Rechtsverbindlichkeit in Form von Einklagbarkeit ggf. durch andere Formen der politischen oder öffentlichen-rechtlichen Verbindlichkeit kompensieren und damit hinnehmen lässt.

Da sich Rechtsfragen im Diskurs klären, möchte ich die Vergaberechts-Community dazu aufrufen und einladen, die hier vorgenommene Darstellung des vergaberechtlichen Entgeltlichkeitsmaßstabes des EuGH und die darin erblickten praktischen Gestaltungspotentiale kritisch zu hinterfragen und dazu (fach-)öffentlich und/oder im direkten Kontakt Stellung zu nehmen.

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Über Moritz Ahlers

Moritz Ahlers, LL.B., ist bei der FITKO (Föderale IT-Kooperation AöR) als Jurist und ist daneben als selbstständiger Rechtsanwalt tätig. Die Ausführungen geben seine persönliche Rechtsauffassung wieder:

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