Die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB) wird nicht durch landesrechtliche Regelungen beschränkt. Sie ist europarechts- und grundgesetzkonform und bundesweit auch ohne ausdrückliche Erwähnung im Landesrecht anwendbar. Damit wird der Spielraum für Träger des Rettungsdienstes größer, das System der gesundheitlichen Gefahrenabwehr ganzheitlich zu betrachten und z.B. lokal/regional vorhandene Ressourcen für den Katastrophenschutz positiv zu bewerten.
§§ 107 Abs. 1 Nr. 4, 133, 135, 151, 179 Abs. 2 GWB (2016), § 20 KonzVgV, ThürRettG, §§ 52, 55 AO, § 17a GVG, § 52 VwGO, Art. 102, 106 Abs. 1, 267 AEUV, Richtlinie 2006/123/EG (Dienstleistungsrichtlinie, DLRL)
Sachverhalt
Eine größere Stadt in Thüringen (die Antragsgegnerin, AG) ist für Rettungsdienst und Bevölkerungsschutz zuständig. Sie hatte bereits seit vielen Jahren Altverträge (2003, 2010) mit Leistungserbringern (Beigeladene [BEI] 1-4). Diese betreiben den Rettungsdienst (Notfallrettung und Krankentransport) in der Stadt und verhandeln das Entgelt selbst mit den Kostenträgern. Die Altverträge verlängern sich automatisch jedes Jahr, solange sie nicht gekündigt werden.
2022 musste die Vorhaltung für den Rettungsdienst erweitert werden. Die Personalakquise war schon damals schwierig. Daher boten die vier Organisationen gemeinsam an, diese zusätzlichen Fahrzeuge incl. Personal bereitzustellen und gründeten dafür eine Arbeitsgemeinschaft (BEI 5). Ein Grund für die ARGE/GbR war, darüber Personal auf unterschiedlichen Fahrzeugen einsetzen zu können. Diese Erweiterung wurde Mitte 2022 ohne ein offizielles Vergabeverfahren und ohne EU-weite formale Bekanntmachung umgesetzt.
Ein großer privater Rettungsdienstkonzern (daraus die Antragstellerinnen [ASt], eine GmbH und eine gGmbH), legte Beschwerde ein. Die Konzession (in Thüringen werden Aufträge im Rettungsdienst in Form von Konzessionen vergeben, s. § 6 i.V.m. § 20 ThürRettG) sei nicht rechtskonform vergeben worden. Sie trugen ein Interesse am Auftrag vor, ohne in den beiden Instanzen konkret darzustellen, wo im eng bebauten Stadtgebiet Platz für eine Rettungswache vorhanden sei.
Die VK Thüringen entschied dennoch zunächst nach knapp 17 Monaten Verfahrensdauer zugunsten der ASt und stellte fest, dass die Stadt die Vergabevorschriften verletzt habe und ein neues Vergabeverfahren durchführen müsse. Außerdem sollten die bestehenden Verträge mit den vier Organisationen gekündigt werden.
Die Stadt (AG) und die ARGE (BEI 5) legten daraufhin Beschwerde beim Thüringer Oberlandesgericht (OLG) ein, welches nach ca. 5 Monaten den Rechtsstreit entschied.
Die Entscheidung
Der Vergabesenat stellt klar, dass die Vergabekammer unzuständig ist und hebt deren Beschluss vom 19.01.2024 auf. Er verweist den Fall an das zuständige Verwaltungsgericht (VG) Gera. Die zwei zentralen Gründe sind: Aufgrund der Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB) sind die Vorschriften über die Konzessionsvergabe nicht anwendbar. Selbst wenn die Bereichsausnahme nicht griffe, wäre der Schwellenwert für Dienstleistungskonzessionen nicht erreicht.
Rechtliche Würdigung
Mit dem Beschluss des Thüringer Vergabesenates hat ein weiteres OLG die umkämpfte Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB) bestätigt. Die Bereichsausnahme ist konform mit höherrangigem Recht, insbesondere dem Grundgesetz und dem Europarecht (s. zur Verfassungsmäßigkeit u.a. schon Kieselmann/Pajunk: Bestätigung der Bereichsausnahme Rettungsdienst, NZBau 2021, 174, 177). Zur von der ASt nicht nur in diesem Verfahren erwähnten alten Richtlinie 2006/123/EG (Dienstleistungsrichtlinie) schreibt das OLG nichts. Dies lässt den Rückschluss zu, dass sie nicht entscheidungserheblich war und nicht anwendbar ist.
Im Folgenden werden auszugsweise maßgebliche Aussagen des Senats behandelt:
1. Irrtumskonstellation: Kein subjektives Tatbestandsmerkmal
Interessant am vorliegenden Fall war, dass die Konzessionsgeberin bei der Beauftragung bzw. dem in Anschluss an die Rüge der ASt gefertigten „Ergänzenden Vergabevermerk“ dem Irrtum unterlag, dass nicht alle Beauftragten gemeinnützig sind (dies war nur Teilen der Verwaltung bekannt/bewusst). Daher wurde die Bereichsausnahme auch nicht aktiv genutzt. Der Senat stellte rechtsdogmatisch überzeugend (Rn. 98) klar, dass § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB kein subjektives Element enthält. Insofern fiel die interimistische Konzessionsvergabe unter die Bereichsausnahme, obwohl die Stadt irrtümlich zugrunde legte, diese Ausnahmeregelung gar nicht anwenden zu können(!).
Eine Ermessensausübung sei „zwar im Hinblick auf einen rechtsstaatlich ordnungsgemäßen Verwaltungsvollzug grundsätzlich erforderlich“. Diese sei aber „nicht vom Vergaberecht erfasst, sondern diesem vorgelagert und daher nicht Gegenstand der Überprüfung im Nachprüfungsverfahren“.
Entscheidend war die Tatsache, dass alle Beigeladenen rein objektiv gemeinnützig waren. Darüber hinaus bedurfte es keiner ausdrücklich dokumentierten Intention des Trägers, die Bereichsausnahme auch anwenden zu wollen. Schlussendlich war die Frage nicht allein streitentscheidend, da im Übrigen der Schwellenwert für Konzessionen (s. dazu nachfolgend Ziff. 3) nicht erreicht war.
2. Objektives Tatbestandsmerkmal: Einbeziehen gemeinnütziger Organisationen; Landesrecht behindert Bereichsausnahme nicht und ermöglicht einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz
Die Bereichsausnahme greift, wenn die Vergabestelle nur gemeinnützige Organisationen und Unternehmen bei einer Vergabe von Aufträgen oder Konzessionen berücksichtigt. Ob und wie das jeweilige Landesrecht im Rettungsdienst sich dazu verhält, ist grds. irrelevant. Bundesrecht bricht Landesrecht (Art. 31 GG). Mittlerweile dürfte die Bereichsausnahme damit in allen Bundesländern ohne Weiteres anwendbar sein. Die vorher unklare Situation z.B. in Sachsen ist durch die Novellierung des SächsBRKG (dort war unnötigerweise noch auf Auswahlverfahren nach dem GWB verwiesen worden) geklärt: § 31 Abs. 1 S. 3 SächsBRKG stellt seit 04.03.2024 klar, dass die Bereichsausnahme unberührt bleibt. Ebenfalls statuiert das § 31 Abs. 5 SächsBRKG: „Bei der Auswahlentscheidung sollen Qualität und die Mitwirkung im Katastrophenschutz berücksichtigt werden.“ – dies geschieht nicht nur durch rein formale Anerkennungen auf Landesebene (s. die aktuelle für „Private“ nachteilige Rechtsprechung in Hamburg bis zum BVerwG, s. dazu Vergabeblog.de vom 15/01/2024 Nr. 55520), sondern idealerweise durch eine Bewertung, wie viele Ehrenamtliche lokal/regional verfügbar sind, ergänzt durch weitere aussagekräftige Faktoren für Katastrophenschutz/Resilienz (Ausbildung, Erste Hilfe mit Selbstschutzinhalten, Schulsanitätsdienst etc.).
Im ThürRettG gibt es diverse Paragraphen (u.a. §§ 6, 17), welche die Verzahnung zwischen Rettungsdienst und Katastrophenschutz deutlich machen: § 6 Abs. 1 ThürRettG:
„Bei der Vergabe der Leistungen des Rettungsdienstes […] kann als Wertungskriterium auch die Verpflichtung zur erforderlichen personellen Mitwirkung im Katastrophenschutz […] angemessen berücksichtigt werden. Bei gleichen Leistungsangeboten ist der Bieter zu berücksichtigen, der im größten Umfang eine personelle Mitwirkung im Katastrophenschutz […] sicherstellen kann.“
3. Schwellenwert und Wertbetrachtung, Dokumentation
Obwohl die Dokumentation nicht optimal war, griff die Darstellung und Argumentation der Vergabestelle: Die Interimsbeauftragung an die ARGE war formal ein neuer Auftrag bzw. eine neue Konzession. Selbst bei einer Hochrechnung der jährlichen Kosten von ca. TEUR 730 auf 5-6 Jahre war der Schwellenwert für Konzessionsvergaben nicht erreicht. Daher waren auch aus diesem Grunde GWB/KonzVgV nicht anzuwenden. Festzuhalten ist: Trotz dieser juristisch plausiblen Bewertung sollte der Rahmen für das jeweilige Auswahlverfahren die Bereichsausnahme begründen und dokumentieren. Im Rahmen des verwaltungsrechtlichen Ermessens sollte man nach dem jeweilig einschlägigen Landesrecht weitere Kriterien begründet festlegen, um einen Mehrwert für den Bevölkerungsschutz zu sichern (s. dazu u.a. Kieselmann/Pajunk: Bestätigung der Bereichsausnahme Rettungsdienst, NZBau 2021, 174).
4. Prozessuale Formalia, Kartellrecht
Das OLG stellt weiter klar, dass es sich – anders als bei der Konzessionserteilung in den Bereichen Energie und ggf. Wasser – nicht um eine kartellrechtliche Streitigkeit handele, „da die AG als Aufgabenträger nach § 5 Abs. 1 ThürRettG bei der Gewährleistung und Organisation des Rettungsdienstes hoheitlich handelt und somit nicht der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung in Frage steht.“ (Rn. 109 m.w.N.)
Eine Vorlage an den EuGH wurde wie auch die beantragte Divergenzvorlage an den BGH (§ 179 Abs. 2 GWB) zu Recht abgelehnt.
Praxistipp
1. Auftraggeber wie Landkreise, Städte und Zweckverbände sollten das Gesamtsystem der gesundheitlichen Gefahrenabwehr stärken. Dazu gehört zunächst, den Rettungsdienst nach SGB V nicht solitär zu betrachten. Die Schnittstellen zu angrenzenden Bereichen wie dem Bevölkerungsschutz/Katastrophenschutz mit dem dort wichtigen Ehrenamt müssen zwingend berücksichtigt werden. Dass ggf. unterschiedliche Abteilungen beim Träger zuständig sind, ist kein Argument: Bei Beschaffungsvorhaben können und sollen unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche kooperieren und sich abstimmen – zumal suboptimale Auswahlverfahren im Rettungsdienst im Ergebnis den Bevölkerungsschutz beschädigen können. Ebenfalls ist wichtig, mechanistisch ermittelte Bedarfe nicht blind umzusetzen. Man muss sich und die Dienstleister/Hilfsorganisationen fragen, welcher Zuwachs in welchem Zeitrahmen realistisch umzusetzen ist. Die Gemeinnützigkeit als formale Hürde sichert keinesfalls Qualität und Resilienz. Dieses Merkmal wird mittlerweile von allen interessierten „Marktteilnehmern“ erfüllt und ist daher kein rechtlich und praktisch wirksames Unterscheidungskriterium. Die Wirtschaftlichkeit (SGB V und Landesrettungsdienstgesetze) wird v.a. durch sinnvolle und verhältnismäßige Strukturentscheidungen und durch die üblichen Kostenverhandlungen abgesichert, nicht über einen Preiswettbewerb. Ebenfalls sollte der völkerrechtliche Schutz für Hilfsorganisationen im Auswahlverfahren berücksichtigt werden (s. hierzu zusammenfassend Spieker ua in Johann, DRK-Gesetz, 2019, § 1 Rn. 36 ff.; ebenso Kieselmann/Pajunk/Liefländer/Stadler/Böth in Lüder/Stahlhut, Gesamtverteidigung in Gefahr!?, S. 157ff.).
2. Hilfsorganisationen sollten die Chance nutzen, die ihnen die Bereichsausnahme Gefahrenabwehr/Rettungsdienst bietet: Viele Menschen im Ehrenamt sind Ressourcen, die für die Gesellschaft gerade in Notsituationen wichtig sind und die Resilienz stärken. Dieser Punkt kann in Auswahlverfahren für den Rettungsdienst rechtskonform genutzt werden: Es ist möglich, in Auswahlkriterien eben jene Dienstleister zu bevorzugen, die v.a. mit ehrenamtlichen lokal/regional vorhandenen Ressourcen und Aktivitäten den Katastrophenschutz stärken. Dazu ist notwendig, nachweisbar Aktive im Ehrenamt vorzuhalten, sie zu motivieren und auszubilden. Dies ist eine gemeinsame Aufgabe aller Akteure und wird durch diverse landesrechtliche Regelungen in den einzelnen Bundesländern bestätigt und normiert. Auch gemeinnützige sonstige private Unternehmen können diese Aufgabe annehmen und damit ihre Geschäftstätigkeit langfristig absichern.
3. Krankenkassen/Kostenträger sollten im Dialog mit den weiteren Beteiligten Strukturfragen proaktiv besprechen. In Zeiten klammer Kassen ist wichtig, den Aufwuchs an Fahrzeugen nicht ausufern zu lassen, sondern im Dreieck Träger – Leistungserbringer – Kostenträger gemeinsam zu diskutieren, wie das System qualitativ gut, wirtschaftlich und resilient gestaltet werden kann. Dies dient allen Beteiligten und der Bevölkerung. Inwieweit aktuelle Reformvorhaben auch auf Bundesebene geeignet sind, diese Ziele zu fördern, wird sich zeigen. Ein Preiswettbewerb ist meist untauglich, verstößt ggf. gegen Verwaltungsrecht in der Gefahrenabwehr und erzeugt Kollateralschäden im Gesamtsystem sowie den Anreiz, sich mit Unterkostenangeboten einen „Marktanteil“ zu sichern und später über Kostenverhandlungen rentabel zu werden.
4. Private Rettungsdienstunternehmen können sich an die nun gefestigte Rechtslage anpassen, wenn sie langfristig weiter im Rettungsdienst tätig sein wollen: Formal haben viele „Private“ bereits den Wechsel in die Gemeinnützigkeit vollzogen. Dies ist aber kein inhaltliches Unterscheidungskriterium, das den Bevölkerungsschutz stärkt. Im Rahmen der Bereichsausnahme – die immer mehr Träger zu Recht anwenden – wird der Bevölkerungsschutz wichtiger werden und sollte in Auswahlverfahren berücksichtigt werden (Auswahlkriterien Qualität und Resilienz). Kleineren gemeinnützigen Privaten gelingt es regional immer wieder (so auch im besprochenen Fall), auch Ehrenamtliche vorzuhalten und zu motivieren, die nicht hauptamtlich im Rettungsdienst beschäftigt sind (zu diesen Chancen für „Private“ s. u.a. Vergabeblog.de vom 15/01/2024 Nr. 55520, zum einem möglichen Bestandsschutz s. Vergabeblog.de vom 16/05/2022 Nr. 49613)
Kontribution
Dieser Beitrag wurde zusammen mit Dr. Mathias Pajunk verfasst.
Hinweis der Redaktion
SKW Schwarz vertrat im Verfahren die Stadt als Auftraggeberin.
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Dr. Mathias Pajunk
Dr. Mathias Pajunk ist Rechtsanwalt und Associated Partner in der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in der Beratung von öffentlichen Auftraggebern bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Dienstleistungskonzessionen. Zu seinen weiteren Tätigkeitsfeldern zählt die Bearbeitung komplexer Fragestellungen auf den Gebieten des Beihilfen- und Kartellrechts.
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René M. Kieselmann
René M. Kieselmann ist Rechtsanwalt und verantwortet als Partner der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte das Dezernat Vergaberecht. Er berät zusammen mit seinem Team bundesweit vor allem die öffentliche Hand, aber auch Bieter. Schwerpunkte sind u.a. IT-Vergaben und Rettungsdienst/Bevölkerungsschutz. Er ist Mitglied der Regionalgruppe Berlin/Brandenburg des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW)
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