Eine neue Chance für den unterlegenen Bieter durch einen späten Angriff auf die Zuschlagskriterien. Ein aktueller Beschluss des BayObLG zeigt auf, dass eine Rüge der Vergaberechtswidrigkeit von Zuschlagskriterien auch nach Erhalt der Vorabinformation gemäß § 134 GWB noch Erfolg haben kann.
§ 127 Abs. 3 GWB, § 160 Abs. 3 GWB
Leitsätze (nicht amtlich)
- Einem qualitativen Zuschlagskriterium fehlt der Auftragsbezug nach § 127 Abs. 3 GWB, wenn die bewerteten Aspekte im Rahmen der Vertragsdurchführung irrelevant sind.
- Für die Erkennbarkeit eines Verstoßes gegen Vergabevorschriften gilt ein objektiver Maßstab. Die Beurteilung des Vorliegens eines Auftragsbezugs von Zuschlagskriterien erfordert eine rechtliche Bewertung unter Berücksichtigung der konkreten Ausgestaltung im Einzelfall. Dies kann von einem durchschnittlich fachkundigen Bieter bei Fehlen gefestigter und allgemein bekannter Rechtsprechung oder Literatur nicht verlangt werden.
Sachverhalt
Der Auftraggeber schreibt einen Rahmenvertrag über Catering-Dienstleistungen im Offenen Verfahren aus. Nach der Leistungsbeschreibung muss der Auftragnehmer unter anderem Frühstück, Mittagessen und Abendessen bereitstellen, wobei jeweils bestimmte Anforderungen hinsichtlich der bereitzustellenden Gerichte und Produkte gelten. Ferner ist festgelegt, dass der Auftragnehmer wöchentlich im Voraus Speisepläne an den Auftraggeber übermitteln soll.
Zuschlagskriterien im Vergabeverfahren sind der Preis und die Qualität zu jeweils 50%. Die Qualität soll anhand eines Beispielspeiseplans mit einem beispielhaften Essensangebot für zwei Wochen ermittelt werden.
Parallel zur Angebotsfrist im hiesigen Vergabeverfahren läuft vor der Vergabekammer unter Beteiligung der Antragstellerin ein Nachprüfungsverfahren zu dem Vergabeverfahren eines anderen Auftraggebers. Die Vergabekammer erteilt dort den rechtlichen Hinweis, dass der vom dortigen Auftraggeber als Qualitätskriterium geforderte „Muster-Speiseplan“ nicht den nötigen Auftragsbezug habe. Da der Speiseplan für die Leistung nach den Regelungen im Leistungsverzeichnis eine Woche im Voraus erstellt werde, werde der „Muster-Speiseplan“ nicht verbindlicher Teil der Leistung.
Einige Tage nach diesem rechtlichen Hinweis der Vergabekammer in dem Nachprüfungsverfahren zu dem anderen Vergabeverfahren gibt die Antragstellerin im hiesigen Vergabeverfahren ein Angebot ab.
Nachdem der hiesige Auftraggeber der Antragstellerin nach § 134 GWB mitgeteilt hat, dass sie nicht das wirtschaftlichste Angebot abgegeben hat, rügt die Antragstellerin die Bewertung anhand des Kriteriums Beispielsspeiseplan. Das Kriterium stehe entgegen § 127 Abs. 3 GWB nicht im Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand. Der Auftraggeber macht geltend, dass die Antragstellerin mit ihrer Rüge nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 GWB präkludiert sei.
Die Entscheidung
Das BayObLG sieht die Rüge nicht als präkludiert an. Der geltend gemachte Vergaberechtsverstoß sei für die Antragstellerin nicht nach § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 GWB aufgrund der Angaben in der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen erkennbar gewesen. Maßstab für die Erkennbarkeit eines Vergaberechtsverstoßes sei ein durchschnittlich fachkundiger Bieter. Dabei sei ein objektiver und nicht ein subjektiver, die individuellen Verhältnisse des Bieters berücksichtigender Maßstab anzulegen. Ein durchschnittlich fachkundiger Bieter könne mangels gefestigter und allgemein bekannter Rechtsprechung zu diesem Problem nicht erkennen, dass die Wertung von Beispielsspeiseplänen mit dem Erfordernis des Auftragsbezugs der Zuschlagskriterien nicht vereinbar sei. Der Vergabestoß sei der Antragstellerin auch nicht gemäß § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB positiv bekannt gewesen. Hieran ändere auch der rechtliche Hinweis der Vergabekammer in dem anderen Nachprüfungsverfahren nichts. Die Kenntnis des Vergaberechtsverstoßes erfordere eine Prüfung und Bewertung, ob sich die Vorgaben der Vergabeunterlagen in den beiden Vergabeverfahren decken. Dass die Antragstellerin zu dieser Prüfung in der Lage gewesen sei, sei nicht nachgewiesen.
Der Nachprüfungsantrag ist nach Auffassung des BayObLG begründet. Das Zuschlagskriterium Beispielspeiseplan sei vergaberechtswidrig, da es keinen ausreichenden Auftragsbezug aufweise.
Rechtliche Würdigung
Das BayObLG stellt fest, dass Zuschlagskriterien mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung stehen, wenn sie sich „in irgendeiner Hinsicht und in irgendeinem Lebenszyklus-Stadium auf die gemäß dem Auftrag zu erbringenden Bauleistungen, Lieferleistungen oder Dienstleistungen beziehen“. Die Beispielspeisepläne erfüllten diese Voraussetzungen nicht. Denn nach den Vorgaben der Leistungsbeschreibung seien bei der Auftragsdurchführung jeweils wöchentlich Speisepläne zu erstellen. Der bewertete Beispielspeiseplan habe für die konkrete Vertragsdurchführung daher keine Bedeutung.
Praxistipp
Öffentlichen Auftraggebern können die Zuschlagskriterien grundsätzlich frei wählen. Allerdings müssen Zuschlagskriterien bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Sie müssen so festgelegt werden, dass die Möglichkeit eines wirksamen Wettbewerbs gewährleistet wird, der Zuschlag nicht willkürlich erteilt werden kann und eine wirksame Überprüfung möglich ist, inwieweit die Angebote die Zuschlagskriterien erfüllen (§ 127 Abs. 4 Satz 1 GWB). Zudem müssen die Zuschlagskriterien in Verbindung mit dem Auftragsgegenstand stehen (§ 127 Abs. 4 Satz 1 GWB). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, können Bieter u.U. selbst nach Erhalt der Vorabinformation gemäß § 134 GWB noch erfolgreich diesbezügliche Vergaberechtsverstöße rügen.
Das Erfordernis des „Auftragsbezugs“ der Zuschlagskriterien dient insbesondere als Begrenzung der wichtigen und seit langem anerkannten Möglichkeit des öffentlichen Auftraggebers soziale, umweltbezogene oder Nachhaltigkeitsaspekte im Rahmen der Zuschlagsentscheidung berücksichtigen zu können. Es gewährleistet, dass der öffentliche Auftraggeber auch bei der Berücksichtigung von sozialen Aspekten oder Nachhaltigkeitsgesichtspunkten das Ziel der Beschaffung einer Liefer-, Bau- oder Dienstleistung nicht aus dem Blick verliert. Öffentliche Auftraggeber sollen keine auf die allgemeine Unternehmenspolitik der Bieter abstellenden Kriterien aufstellen, da sich diese nicht auf den konkreten Prozess der Herstellung oder Bereitstellung der Bau-, Liefer- oder Dienstleistungen beziehen (Erwägungsgrund 97 Richtlinie 2014/24/EU). Aber auch unabhängig von dem Ziel der Berücksichtigung sozialer oder umweltbezogener Anforderungen spielt das Erfordernis des Auftragsbezugs – wie die Entscheidung des BayObLG zeigt – eine wichtige Rolle.
Ob ein Auftragsbezug (noch) zu bejahen ist, ist im Einzelfall nicht immer leicht zu beurteilen. Hilfreich ist der Rückgriff auf die Definition in Art. 67 Abs. 3 Richtlinie 2014/24/EU und den dort formulierten „Lebenszyklus“-Ansatz. Danach stehen Zuschlagskriterien mit dem Auftragsgegenstand in Verbindung, wenn „sie sich in irgendeiner Hinsicht und in irgendeinem Lebenszyklus-Stadium auf die gemäß dem Auftrag zu erbringenden Bauleistungen, Lieferungen oder Dienstleistungen beziehen, einschließlich Faktoren, die zusammenhängen mit a) dem spezifischen Prozess der Herstellung oder der Bereitstellung solcher Bauleistungen, Lieferungen oder Dienstleistungen oder des Handels damit oder b) einem spezifischen Prozess in Bezug auf ein anderes Lebenszyklus-Stadium, auch wenn derartige Faktoren sich nicht auf die materiellen Eigenschaften des Auftragsgegenstandes auswirken.“ Der Auftragsbezug ist danach grundsätzlich weit zu verstehen. Es genügt, wenn der jeweilige Aspekt im Rahmen des Lebenszyklus der konkret zu beschaffenden Bau-, Liefer- oder Dienstleistung zum Tragen kommt.
Mit dem „Lebenszyklus“-Ansatz kann der Auftragsbezug von Zuschlagskriterien beispielsweise wie folgt abzuleiten sein:
- Qualität der Materialien: Wenn bei der Vergabe eines Bauauftrags die Qualität der zu verwendenden Baumaterialien bewertet wird, ist der Auftragsbezug gegeben, da sich die Qualität auf das Endergebnis des Bauprojekts auswirkt.
- Umweltfreundlichkeit der Produkte: Wenn bei der Vergabe von Lieferaufträgen die Umweltfreundlichkeit der angebotenen Produkte bewertet wird, besteht ein Auftragsbezug, da dies die Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit der gelieferten Produkte betrifft.
- Innovationsgrad: Bei der Vergabe von IT-Dienstleistungen kann der Innovationsgrad der vorgeschlagenen Lösungen bewertet werden, da innovative Lösungen die Effizienz und Effektivität der IT-Dienstleistungen verbessern können.
- Kundendienst und Support: Bei der Vergabe von Wartungsverträgen kann die Qualität des angebotenen Kundendienstes und Supports als Zuschlagskriterium herangezogen werden, da dies die Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit der Wartungsleistungen beeinflusst.
Der Auftragsbezug von Zuschlagskriterien kann demgegenüber beispielsweise in Fällen wie den folgenden fehlen:
- Beispielspeisepläne: Wie im vorliegenden Fall des BayObLG, wenn wöchentlich neue Speisepläne erstellt werden müssen und die Beispielspeisepläne daher für die Auftragsausführung irrelevant sind.
- Abstrakte Übungsaufgaben: Wenn Bieter im Rahmen der Angebotsabgabe abstrakte Übungsaufgaben lösen müssen, die nicht direkt mit der zu erbringenden Leistung in Verbindung stehen.
- Warenkorb: Wenn im Rahmen der Angebotsabgabe für Einkaufsdienstleistungen Preise für einen „Warenkorb“ abgefragt werden, die jedoch nicht verbindlich sind und nicht garantiert werden (OLG München, Beschluss v. 24.3.2021 – Verg 12/20).
- Innovationskonzept ohne Leistungsbezug: Wenn ein Innovationskonzept nicht die Entwicklungsfähigkeit der konkret angebotenen Lösung darstellen soll, sondern eine möglicherweise in der Zukunft im Rahmen eines neuen Vergabeverfahrens anzubietende Leistung (OLG Schleswig, Beschluss v. 4.2.2022 – 54 Verg 9/21).
Ob ein Auftragsbezug besteht, kann nur mit Blick auf den konkret ausgeschriebenen Leistungsgegenstand ermittelt werden. Das Prinzip des „Auftragsbezugs“ gilt dabei nicht nur bei den Zuschlagskriterien, sondern auch bei Eignungskriterien (§ 122 Abs. 4 Satz 1 GWB), bei den Ausführungsbedingungen (§ 128 Abs. 2 Satz 1 GWB), bei der Festlegung von Merkmalen des Auftragsgegenstands in der Leistungsbeschreibung (§ 31 Abs. 3 Satz 2 VgV) und bei Nebenangeboten (§ 35 Abs. 1 Satz 3 VgV). Der Beschluss des BayObLG zeigt, dass der Rüge des fehlenden Auftragsbezugs jedenfalls aktuell auch nach Angebotsabgabe vielfach kein Präklusionseinwand entgegengehalten werden kann. Öffentliche Auftraggeber sollten den Auftragsbezug ihrer Anforderungen daher auf allen Ebenen der Gestaltung ihrer Vergabeunterlagen im Blick behalten.

Dr. Tobias Schneider
Der Autor Dr. Tobias Schneider ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht im Berliner Büro der Kanzlei Dentons. Er berät Unternehmen und öffentliche Auftraggeber bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen und vertritt deren Interessen in Vergabeverfahren und vor den Nachprüfungsinstanzen.
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