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Zitierangaben: Vergabeblog.de vom 27/10/2025 Nr. 72461

Objektive Unklarheiten gehen zu Lasten des Auftraggebers und gebieten eine Rückversetzung des Verfahrens!

BayObLG, Beschl. v. 05.08.2025 – Verg 2/25e

EntscheidungMit seiner Entscheidung verdeutlicht das BayObLG, dass vermeintliche Unklarheiten im Angebot nicht ohne weiteres durch eine Aufklärung geheilt werden dürfen, wenn dadurch erst eine inhaltliche Festlegung herbeigeführt würde. In solchen Fällen ist das Angebot zwar nicht wertbar, ein unmittelbarer Ausschluss kommt aber nicht in Betracht. Vielmehr muss das Vergabeverfahren in den Stand vor Abgabe der finalen Angebote zurückversetzt werden, um allen Bietern die Chance auf eine eindeutige Angebotsabgabe zu eröffnen, da in dem hier in Rede stehenden Verfahren nach aktuellem Sachstand auf keines der Angebote ein Zuschlag erfolgen darf. Diese Linie stärkt das Transparenz- und Gleichbehandlungsgebot, führt aber zugleich zu erheblichen Verzögerungen in laufenden Verfahren. Die Aussagekraft der Entscheidung ist deshalb differenziert zu betrachten: Sie betrifft insbesondere Verhandlungsverfahren, in denen die Angebotsinhalte naturgemäß weiterentwickelt werden können, und sollte nicht unbesehen auf andere Verfahrensarten übertragen werden.

§§ 122, 160 Abs. 3 GWB, §§ 42 Abs. 2, 46 Abs. 3, 51, 52 Abs. 1, 57 Abs. 1 VgV

Sachverhalt

Gegenstand der Entscheidung war ein europaweites Vergabeverfahren zur Errichtung und zum Betrieb eines einheitlichen Bikesharing-Systems, das im Februar 2024 von einem Zusammenschluss mehrerer Kommunen und Verkehrsunternehmen im Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb ausgeschrieben wurde. Ziel war die Schaffung eines flächendeckenden Netzes von Mietfahrrädern mit modernen Funktionen, insbesondere GPS-Ortung, Geofencing und Integration in bestehende ÖPNV-Strukturen.

Besondere Bedeutung kam dabei zwei durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderten Projekten zu. Für die dort einzusetzenden Räder (Eigentumsmieträder) war ein Systemstart zum 31. Dezember 2024 vorgesehen, während für die übrigen Regionen die Betriebsaufnahme gestaffelt bis spätestens September 2025 erfolgen sollte. Nach § 23 Abs. 3 des Betreibervertrags mussten die Eigentumsmieträder und die übrigen Mieträder (Auftragnehmermieträder) von gleicher Bauart und Ausstattung sein.

Im Laufe des Verfahrens wurden die Vergabeunterlagen mehrfach angepasst. Unter anderem präzisierte der Auftraggeber die Anforderungen an die Fahrräder, die einzusetzenden Technologien sowie die Systemintegration. Besonders umstritten war die Frage, ob zwingend Fahrräder der neuesten, vierten Generation einzusetzen seien, die u.a. eine durchgehende GPS-Überwachung und neue Schlossmechanismen vorsah.

Nach Abschluss der Verhandlungsrunden gaben die Bieter im August 2024 ihre finalen Angebote ab. Das Angebot der Beigeladenen lag preislich deutlich unter den übrigen. Aufgrund des auffällig niedrigen Preises forderte die Vergabestelle eine Preisaufklärung, die sie anschließend als plausibel bewertete.

Mit Vorabinformationsschreiben nach § 134 GWB teilte die Vergabestelle der Antragstellerin mit, dass ihr Angebot nicht für den Zuschlag vorgesehen sei. Die Antragstellerin rügte daraufhin, die Vergabeunterlagen verlangten zwingend Räder der neuesten Generation. In der Folge entwickelte sich insbesondere die Frage, ob die Beigeladene Fahrräder der dritten oder vierten Generation angeboten hatte. Anlass dafür waren Angebotsunterlagen, die Bilder verschiedener Modelle enthielten, ohne eindeutige Zuordnung. Das Angebot der Beigeladenen sei daher auszuschließen. Zudem sei die Preisaufklärung unzureichend und die Referenzen nicht vergleichbar.

Die Vergabekammer Südbayern gab den Nachprüfungsantrag teilweise statt und ordnete eine Aufklärung des Angebots der Beigeladenen an, um die bestehenden Unklarheiten zu beseitigen. Der Antragsteller verfolgte seine Rügen mit der hiergegen gerichteten sofortigen Beschwerde weiter und beantragte die Verlängerung der aufschiebenden Wirkung gem. § 173 Abs. 1 S. 3 GWB.

Die Entscheidung

Die sofortige Beschwerde der Antragstellerin hatte teilweise Erfolg. Der Senat bestätigte zwar im Grundsatz die Entscheidung der Vergabekammer, änderte diese jedoch in einem zentralen Punkt wie folgt ab:

„Für die von der Vergabekammer angeordnete und von allen Seiten wenn auch aus unterschiedlichen Gründen angegriffene Angebotsaufklärung besteht keine Veranlassung, da das Angebot der Beigeladenen eindeutig ist. Allerdings muss das Vergabeverfahren bei  fortbestehender Beschaffungsabsicht teilweise zurückversetzt werden, da nach aktuellem Sachstand auf keines der Angebote ein Zuschlag erfolgen darf. Es ist vielmehr den Bietern bei fortbestehender Beschaffungsabsicht Gelegenheit zu geben, neue finale Angebote abzugeben.“

Nach Auffassung des BayObLG durfte die von der Vergabekammer angeordnete Aufklärung des Angebots der Beigeladenen mithin nicht erfolgen. Vielmehr sei das Angebot bei der gebotenen objektiven Auslegung dahin zu verstehen, dass die Beigeladene Fahrräder sowohl der dritten als auch der vierten Generation angeboten habe. Dies ergab sich zum einen aus den Angebotsunterlagen, die zunächst ausschließlich Räder der vierten Generation erkennen ließen, und zum anderen aus den Verhandlungsprotokollen, in denen ausdrücklich ein Übergangsszenario besprochen worden war: Für das Jahr 2024 sollten Räder der dritten Generation eingesetzt, ab 2025 dann Räder der vierten Generation bereitgestellt werden.

Die Vergabeunterlagen müssten bereits bei Abgabe eindeutig erkennen lassen, welche Leistungen Gegenstand des Angebots seien. Weisen die Angebotsunterlagen wie hier widersprüchliche Angaben auf, indem beispielsweise Bilder verschiedener Fahrradtypen unterschiedlicher Generationen beigefügt werden, fehle es an der notwendigen Bestimmtheit. Eine Aufklärung sei in solchen Fällen nicht geeignet den Mangel zu beheben, da dies einer nachträglichen inhaltlichen Angebotsänderung gleichkäme.

Das Angebot der Beigeladenen sei daher nicht wertbar. Gleichwohl könne dies nicht unmittelbar zu einem Ausschluss führen, da die Unklarheiten auch auf die Gestaltung der Vergabeunterlagen zurückzuführen seien. Konsequenz sei daher, das Verfahren in den Stand vor Aufforderung zur Abgabe der finalen Angebote zurückzuversetzen, um allen Bietern eine eindeutige und vergleichbare Angebotsabgabe zu ermöglichen.

Im Übrigen blieb die Beschwerde ohne Erfolg. Die von der Antragstellerin beanstandete Preisaufklärung sei nicht zu beanstanden, da die Vergabestelle die Angaben der Beigeladenen nachvollziehbar geprüft habe und dabei ihren Beurteilungsspielraum eingehalten habe. Auch die Einwände gegen die Bewertung der Referenzen griffen nicht durch, da diese im Rahmen der aufgestellten Kriterien erfolgt sei und Rechtsfehler nicht erkennbar seien.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung des BayObLG verdeutlicht mehrere zentrale Grundsätze des Vergaberechts auf welche in dieser Besprechung nur partiell eingegangen werden kann. Besonders hervorzuheben ist die Klarstellung, dass Angebote bereits bei Abgabe eindeutig sein müssen. Ein Angebot, das widersprüchliche Angaben enthält oder wie hier verschiedene Produktgenerationen nebeneinander erkennen lässt, ist mehrdeutig und damit nicht wertbar. Die Grenze zulässiger Aufklärung ist in solchen Fällen überschritten, weil jede nachträgliche Klarstellung auf eine inhaltliche Änderung hinauslaufen würde.

1. Grenzen der Aufklärung nach § 56 VgV

Besonders bedeutsam ist die Feststellung des Senats, dass eine Aufklärung nicht dazu genutzt werden darf, inhaltliche Widersprüche oder Unklarheiten im Angebot zu heilen. Ein Angebot muss bei Abgabe eindeutig erkennen lassen, was Gegenstand der Leistung sein soll. Enthält es widersprüchliche Angaben hier Bilder von Fahrrädern der dritten und vierten Generation fehlt es an der erforderlichen Bestimmtheit. Eine Aufklärung wäre in diesem Fall nicht bloße Klarstellung, sondern würde die inhaltliche Reichweite des Angebots nachträglich verändern. Das Gericht betont damit die strikte Grenze zwischen zulässiger Aufklärung und unzulässiger Angebotsänderung, wie sie § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV vorgibt. Für die Praxis bedeutet das: Auftraggeber müssen bei der Angebotswertung sehr genau trennen, ob es sich um klärungsfähige formale Punkte oder um substanzielle inhaltliche Widersprüche handelt. Letztere führen zur Unverwertbarkeit des Angebots.

2. Rückversetzung des Vergabeverfahrens

Zum anderen beachtenswert ist, dass das Gericht nicht unmittelbar den Ausschluss des Angebots der Beigeladenen angeordnet hat. Stattdessen ordnete es eine Rückversetzung des Vergabeverfahrens in den Stand vor Abgabe der finalen Angebote an. Begründet wurde dies damit, dass die Unklarheiten auch durch die unpräzisen Vorgaben der Vergabeunterlagen bedingt waren. Damit nimmt das BayObLG eine Abwägung zwischen Bieter- und Auftraggeberverantwortung vor: Unklarheiten, die auf die Gestaltung der Vergabeunterlagen zurückzuführen sind, dürfen nicht allein zulasten des betroffenen Bieters gehen. Im hier entschiedenen Fall war deshalb eine Rückversetzung das sachgerechte Mittel, um gleiche Bedingungen für alle zu schaffen und eine klare Angebotsgrundlage sicherzustellen.

3. Beurteilung von Preisaufklärung und Referenzen

Im Hinblick auf die von der Antragstellerin monierte Preisaufklärung stellt das Gericht klar, dass Auftraggeber einen weiten Beurteilungsspielraum besitzen. Entscheidend ist, dass die Plausibilität der Angaben nachvollziehbar geprüft wird; eine vertiefte Wirtschaftlichkeitskontrolle findet nicht statt. Gleiches gilt für die Bewertung von Referenzen: Solange die Vergabestelle die aufgestellten Kriterien konsequent anwendet und sich innerhalb ihres Ermessensrahmens bewegt, sind Eingriffe der Nachprüfungsinstanzen nicht veranlasst. Damit unterstreicht das BayObLG die Leitlinie, dass Nachprüfungsinstanzen keine Super-Vergabestellen sind, sondern lediglich die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen kontrollieren.

4. Fördermittelvorgaben und § 23 Abs. 3 des Betreibervertrags

Von praktischer Bedeutung ist ferner, dass die Entscheidung auch die Fördermittelbindung im Blick hatte. Nach dem Betreibervertrag (§ 23 Abs. 3) war der Auftragnehmer verpflichtet, mechanische Fahrräder und Pedelecs gleicher Bauart und Ausstattung für die Eigentums- und Auftragnehmermieträder zu verwenden. Zugleich war wegen der Fördermittelvorgaben eine Betriebsaufnahme bis zum 31.12.2024 vorgesehen. Dies führte zu Übergangsszenarien (zunächst ältere Räder, später Umstieg auf neue Modelle). Die Vergabeunterlagen regelten aber nicht eindeutig, ob und wie solche Übergänge zulässig sind etwa durch Nachrüstung, Austausch oder gestreckten Wechsel. Damit trugen die Fördermittelvorgaben und der hierdurch entstandene Termindruck vermutlich dazu bei, dass die Leistungsanforderungen nicht vollständig konsistent gefasst waren. Für die Praxis bedeutet dies: Förderbedingungen und Produktvorgaben müssen klar und konsistent ausgestaltet sein, sonst droht eine Angreifbarkeit wegen Intransparenz.

Praxistipp

Für Auftraggeber zeigt die Entscheidung, dass eine präzise und eindeutige Gestaltung der Vergabeunterlagen zwingend ist insbesondere bei Projekten mit Fördermittelbindung und engen Zeitvorgaben. Unklare Formulierungen etwa bei technischen Spezifikationen oder Zulässigkeit bestimmter Produktgenerationen können dazu führen, dass Angebote nicht eindeutig bewertet werden können und das gesamte Verfahren in eine frühere Phase zurückgesetzt werden muss. Dies verursacht erhebliche Verzögerungen und birgt rechtliche Risiken. Empfehlenswert ist daher, technische Anforderungen so konkret wie möglich zu beschreiben, etwa durch Bezugnahme auf Normen oder eindeutige Leistungsmerkmale, und bei Zweifeln vorab Bieterfragen gezielt zu beantworten und in die Vergabeunterlagen einzuarbeiten.

Für Bieter gilt: Angebote müssen widerspruchsfrei und eindeutig sein. Mehrdeutige Darstellung oder die parallele Verwendung verschiedener Produktvarianten können nicht durch spätere Aufklärung gerettet werden, sondern führen zur Unverwertbarkeit des Angebots. Bieter sollten daher interne Prüfmechanismen einrichten, um ihre Unterlagen vor Abgabe auf Konsistenz und Eindeutigkeit zu kontrollieren. Zudem empfiehlt es sich, bei unklaren Vergabeunterlagen rechtzeitig Fragen zu stellen oder unter Umständen Rügen zu erheben, um die spätere Präklusion zu vermeiden.

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Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG

Der Autor Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG, ist Fachanwalt für Vergaberecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Wirtschaftskanzlei LEXTON Rechtsanwälte in Berlin. Er berät seit über 20 Jahren öffentliche Auftraggeber und Bieterunternehmen umfassend bei allen vergabe-, zuwendungs-, haushalts- und preisrechtlichen Fragestellungen. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.

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