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Zitierangaben: Vergabeblog.de vom 15/12/2025 Nr. 72878

Ausschluss wegen Abweichens setzt manipulativen Eingriff voraus!

VK Bund, Beschl. v. 11.09.2025 – VK 1-76/25

EntscheidungEine unzulässige Änderung der Vergabeunterlagen liegt vor, wenn der Bieter nicht das anbietet, was der Auftraggeber ausschreibt. Ein Angebotsausschluss wegen Abweichens von den Vergabeunterlagen kommt allerdings nur in Betracht, wenn echte Änderungen vorliegen, die einen manipulativen Eingriff in die Vergabeunterlagen darstellen und keine Abwehrklausel einschlägig ist. Bloße Unklarheiten sind grundsätzlich einer Aufklärung in Gestalt einer Nachfrage zugänglich. Die Trennlinie zwischen Ausschluss und Aufklärung ist nicht statisch, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.

§§ 53 Abs. 7 Satz 1, 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV 

Sachverhalt

Die Antragsgegnerin führt seit 2024 ein offenes Verfahren zur Vergabe „Rettungswesten (Rettungskragen), küstennah II“ in Form eines Rahmenvertrags durch. Es kam aufgrund von mehreren Rügen zu verschiedenen Anpassungen des Vergabeverfahrens.

Die Antragsgegnerin hatte diverse Mindestanforderungen in Gestalt von Ausschlusskriterien an die Rettungswesten aufgestellt, welche überwiegend im Rahmen einer Teststellung anhand eines Musters überprüft werden sollten. Zu diesem Zweck waren die Bieter aufgefordert, ein Exemplar der angebotenen Weste an die Antragsgegnerin zu übermitteln. Eine der Anforderungen betraf den betriebsbereiten Zustand der Rettungsweste. Danach muss dieser Zustand „auf einen Blick, z.B. in einem Sichtfenster, erkennbar (Statusanzeiger)“ sein.

Die Antragsgegnerin hatte den Vergabeunterlagen eigene AGB beigefügt, welche u.a. die Abwehrklausel: „Allgemeine Geschäftsbedingungen der Auftragnehmerin werden nicht Bestandteil des Vertrages sowie von Einzelbestellungen aus Rahmenvereinbarungen“, enthält.

Die Antragsgegnerin kam im Rahmen der Angebotswertung u.a. zu dem Schluss, dass die Anforderung „Betriebsbereiter Zustand der Rettungsweste“ beim Angebot der Antragstellerin nicht erfüllt ist, weil der Zustand „auf einen Blick“ nicht erkennbar sei. Mit Bieterinformation gemäß § 134 GWB vom 11. Juni 2025 teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin daher mit, dass ihr Angebot nicht berücksichtigt werden könne. Das Angebot sei ausgeschlossen worden, weil das eingereichte Muster das Kriterium (betriebsbereiter Zustand der Rettungsweste) nicht erfülle, da das Sichtfenster der Weste, durch das die Betriebsbereitschaft angezeigt werde, durch innenliegende Teile der Weste verdeckt sei. Nachrichtlich wies die Antragsgegnerin darauf hin, dass weitere Kriterien zweifelhaft seien, aber auf eine Aufklärung verzichtet worden sei, da die Nichterfüllung des einen Kriteriums bereits zum Ausschluss führe. Sie führte zu diesen beiden Punkten widersprüchliche Angaben in der deutschen und englischen Fassung der Gebrauchsanleitung an.

Die Antragstellerin rügte den Ausschluss ihres Angebots am 16. Juni 2025 als vergaberechtswidrig. Die Nichterfüllung des Ausschlusskriteriums sei nicht nachvollziehbar belegt. Bei dem angebotenen Typ der Weste sei die Betriebsbereitschaft durch das seitliche Sichtfenster zweifelfrei erkennbar. Ungeachtet dessen sei die Antragsgegnerin vor einem Ausschluss aber zu einer vollumfänglichen Aufklärung des Angebotsinhalts verpflichtet gewesen. Wolle man den Inhalt des Angebots der Antragstellerin als Abweichung vom Leistungssoll ansehen, liege jedenfalls ein gravierender Verstoß gegen den Grundsatz der Produktneutralität vor, weil letztlich nur das Angebot der Beigeladenen bezuschlagt werden könne.

Am 28. Juli 2025 teilte die Antragsgegnerin mit, dass sie der Rüge der Antragstellerin nicht abhelfen werde. Daraufhin leitete die Antragstellerin ein Nachprüfungsverfahren ein.

Die Entscheidung

Der Nachprüfungsantrag ist nach Ansicht der Vergabekammer begründet.

Aufgrund der vorliegenden Dokumentation der technischen Angebotswertung konnte die Vergabekammer nicht nachvollziehen, ob das Angebot der Antragstellerin zu Recht gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV von der Wertung ausgeschlossen worden ist. Danach sind Angebote auszuschließen, bei denen entgegen § 53 Abs. 7 Satz 1 VgV Änderungen oder Ergänzungen. an den Vergabeunterlagen vorgenommen worden sind. Eine unzulässige Änderung der Vergabeunterlagen liegt vor, wenn der Bieter nicht das anbietet, was der öffentliche Auftraggeber ausschreibt, sondern von den Vorgaben der Vergabeunterlagen abweicht. Ob das vorgelegte Muster der Rettungsweste von den Anforderungen an das Ausschlusskriterium des Leistungsverzeichnisses („Erkennbarkeit des betriebsbereiten Zustands der Rettungsweste auf einen Blick, z.B. in einem Sichtfenster (Statusanzeiger)“) abweicht, kann nach der vorliegenden Dokumentation mehr zweifelsfrei festgestellt werden.

Die Vergabekammer hebt hervor, dass die Antragstellerin die Beweislast für die Zusendung eines ausschreibungskonformen Musters trägt.

Die Testung der Rettungsweste ist von der Antragsgegnerin nach Auffassung der Vergabekammer nicht in einer aussagekräftigen und zeitnah erfolgten Weise dokumentiert. Es ist nicht nachvollziehbar, wann die Antragsgegnerin welche Prüfschritte vorgenommen hat. Es fehlt insoweit an einer nachvollziehbaren bildlichen und im direkten zeitlichen Zusammenhang mit der Testung stehenden Dokumentation der Ergebnisse, die es der Vergabekammer gestattete, die von der Antragsgegnerin getroffene Feststellung eines nicht ausschreibungskonformen Zustands des Auslösers im Sichtfenster der Weste nachzuvollziehen.

Ob das Angebot eine Abweichung von den Vergabeunterlagen enthält, ist im Wege der Auslegung zu bestimmen. Maßstab der Auslegung einer Bietererklärung nach §§ 133, 157 BGB ist, wie ein mit den Umständen des Einzelfalls vertrauter Dritter in der Lage der Vergabestelle das Angebot nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte verstehen musste Oder durfte. Dabei ist der Wortlaut der Erklärung zwar ein ganz zentraler, aber nicht der einzige zu würdigende Gesichtspunkt. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die eine Erklärung begleitenden Umstände bei der Auslegung berücksichtigt werden können (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 01.04.2020, VII-Verg 30/19). Ein Ausschluss eines Angebots wegen Abweichung von den Vergabeunterlagen kommt jedenfalls nur in Betracht, wenn echte Änderungen vorliegen, die einen manipulativen Eingriff in die Vergabeunterlagen darstellen. Bloße Unklarheiten sind hingegen im Wege der Aufklärung zu beseitigen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 01.04.2020, VII-Verg 30/19). Vorliegend dürfte daher allenfalls von einer aufklärbaren Unklarheit auszugehen sein.

Selbst wenn man – im Hinblick auf vereinzelte Aussagen in der Bedienungsanleitung zu der Rettungsweste – eine Abweichung von den Anforderungen der Vergabeunterlagen annehmen würde, spricht nach Ansicht der Vergabekammer einiges dafür, dass hier in Anwendung der Rechtsgrundsätze des Bundesgerichtshofs zur Vorlage eigener Zahlungsbedingungen eines Bieters im Anwendungsbereich einer Abwehrklausel des Auftraggebers (Urteil vom 18. Juni 2019, X ZR 86/17) ein Ausschluss des Angebots jedenfalls angesichts der vertraglichen Abwehrklausel der Antragsgegnerin in ihren AGB nicht in Betracht kommt.

Als geeignete Maßnahme im Sinne des § 168 Abs. 1 Satz 1 GWB ist der Antragsgegnerin von der Vergabekammer aufgegeben worden, das Vergabeverfahren mindestens in den Stand vor Testung der Rettungsweste der Antragstellerin zurückzuversetzen. Hierfür hat sie ein neues Musterexemplar anzufordern. Eine Neubewertung auf der Grundlage der vorliegenden Weste kommt nicht in Betracht, da der Auslösemechanismus bereits von der Antragsgegnerin aktiviert und die Rettungsweste neugepackt beziehungsweise umgepackt wurde. Sie ist damit keine geeignete Grundlage für eine Wiederholung der Testung und würde nicht ausreichen, um eine wettbewerbskonforme Auftragserteilung in dem streitgegenständlichen Vergabeverfahren zu gewährleisten (vgl. BGH, Beschluss vom 08.02.2011, X ZB 4/10).

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung der Vergabekammer des Bundes ist – soweit dies anhand des dargestellten Sachverhalts beurteilt werden kann – nachvollziehbar und zutreffend.

Die Entscheidung betrifft einen der Klassiker des in Deutschland kodifizierten europäischen Vergaberechts aus den letzten 25 Jahren: den Ausschlussgrund „Änderungen oder Ergänzungen an den Vergabeunterlagen“. Es dürfte mehrere Hundert Entscheidungen geben, welche sich mit diesem Ausschlussgrund befassen. Die hier besprochene Entscheidung fügt der Spruchpraxis nichts Neues hinzu, schärft allerdings den Blick für die aktuell gängigste Herangehensweise an den Ausschlussgrund: Ein Ausschluss kommt danach grob skizziert nur (noch) dann in Betracht, wenn

  • erstens objektiv eine Änderung oder Ergänzung an den Vergabeunterlagen in Gestalt eines Abweichens zweifelsfrei feststeht,
  • zweitens dem betroffenen Bieter subjektiv ein zumindest vorsätzliches Verhalten in Form eines manipulativen Eingriffs unterstellt werden kann und
  • schließlich drittens die Abweichung sich vertraglich zu Lasten des Auftraggebers durchsetzen kann (weil es im Sinne des Urteils des BGH vom  18.06.2019 zum Az. X ZR 86/17 keine vertragliche Abwehrklausel gibt, welche vertragsrechtlich bei der Durchführung des Auftrags zur Unbeachtlichkeit der Abweichung führt).

Das OLG Düsseldorf hat sich jüngst im Beschluss vom 04.06.2025 zum Az. VII Verg 36/24 in einer lesenswerten Entscheidung im Zusammenhang mit der Beschaffung eines Medikationsmanagementsystems durch einen Betreiber von Krankenhäusern hierzu u.a. zutreffend wie folgt eingelassen:

„Lediglich echte Änderungen, die einen manipulativen Eingriff in die Vergabeunterlagen darstellen, müssen abgewehrt werden. Dies ist und bleibt weiterhin [nach dem Urteil des BGH] möglich, so dass für § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV und vergleichbare Normen durchaus ein weiter Anwendungsbereich bleibt. […] Hingegen ist eine bloße Unklarheit keine Änderung an den Vergabeunterlagen. Die Frage, wo man von einer bloßen, ggf. auf aufklärungsfähigen Unklarheit und wo bereits von einem manipulativen Eingriff auszugehen sein soll, kann dabei nicht abstrakt-generell beantwortet werden, sondern es bedarf stets einer Einzelfachbetrachtung. […] Maßgeblich ist deshalb der Empfängerhorizont einer verständigen Vergabestelle im Zeitpunkt der Angebotsauswertung. Von einer solchen Vergabestelle darf man die Erfassung des Sinns und Zwecks der in dem Angebot enthaltenen Erklärungen erwarten. Notfalls kann die beim Anbieter nachfragen und um Aufklärung über sein Angebot bitten.“

Diese Grundsätze lassen sich auf den vorliegenden Beschluss der Vergabekammer ohne weiteres übertragen und bestätigen die seit dem Urteil des BGH vom Juni 2019 zu beobachtende Entwicklung: Zum einen dahingehend, dass in Vergabeverfahren dem Grundsatz Aufklärung vor Ausschluss Rechnung zu tragen ist. Zum anderen wird einer (zu) formalistischen Anwendung des Ausschlussgrunds zu Gunsten einer materiell gerechteren Ausübung anhand der konkreten Einzelfallumstände eine klare Absage erteilt (in diesem Sinne zutreffend auch Ohrtmann/Akbaba, VergabeR 2025, S. 635ff.). Einfacher wird es für den öffentlichen Auftraggeber dadurch freilich nicht.

Praxistipp

Auftraggeber sind gehalten, bei Ausübung des Ausschlussgrunds „Änderungen oder Ergänzungen an den Vergabeunterlagen“ Vorsicht walten zu lassen. Ein Ausschluss kommt – entgegen dem Wortlaut und der früheren Ausübungspraxis – nur (noch) in Betracht, wenn echte Änderungen vorliegen, die einen manipulativen Eingriff in die Vergabeunterlagen darstellen und kein Rückgriff auf eine Abwehrklausel möglich ist. Im Zweifel ist von bloßen Unklarheiten auszugehen, welche im Wege der Aufklärung beseitigt werden können.

Freilich kann die Aufklärung auch dazu führen, dass im Anschluss der Ausschluss geboten bzw. vergaberechtlich sogar unumgänglich ist. Insofern kann Bietern keinesfalls empfohlen werden, die bieterfreundliche Spruchpraxis der Nachprüfungsinstanzen vermeintlich auszunutzen. Wie das OLG Düsseldorf in dem vorzitierten Beschluss richtig ausführt, verbleibt „durchaus ein weiter Anwendungsbereich„. Bietet ein Bieter nachweislich etwas anderes an als vom Auftraggeber ausgeschrieben, ist der Ausschluss weiterhin geboten.

Kontribution

Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Rechtsanwalt Alexander-M. Weßling verfasst.

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Alexander-M. Weßling

Der Autor Alexander-M. Weßling ist Rechtsanwalt und als Senior Associate in der Vergabepraxis der Kanzlei Lexton Rechtsanwälte in Berlin tätig. Er berät seit dem Jahr 2020 öffentliche Auftraggeber und Bieterunternehmen umfassend bei allen vergabe- und zuwendungsrechtlichen Fragestellungen, insbesondere im Bereich der Bauvergaben und übernimmt die Vertretung in Nachprüfungsverfahren sowie nachgelagerten gerichtlichen Streitigkeiten im Rahmen der vertraglichen Ausführungsphase. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachaufsätze und Beiträge in vergaberechtlichen Newslettern.

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Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG

Der Autor Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG, ist Fachanwalt für Vergaberecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Wirtschaftskanzlei LEXTON Rechtsanwälte in Berlin. Er berät seit über 20 Jahren öffentliche Auftraggeber und Bieterunternehmen umfassend bei allen vergabe-, zuwendungs-, haushalts- und preisrechtlichen Fragestellungen. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.

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