Der Fahrzeugmangel bei der U-Bahn in Berlin ist so groß, dass die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) aktuell fürchten, nicht genügend Reserven zu haben. Um kurzfristig an Fahrzeuge zu kommen, soll eine so genannte „Dringlichkeitsbeschaffung“ durchgeführt werden (Quelle: Artikel „Der Tagesspiegel“, 23.08.2017- Berlin, Seite -7-, https://www.pressreader.com/germany/der-tagesspiegel/20170823/281663960130068).
Vergaberechtlich übersetzt heißt das: Die BVG müsste als Sektorenauftraggeberin eigentlich die Beschaffung neuer Fahrzeuge mit einem langwierigen EU-weiten Vergabeverfahren öffentlich im Wettbewerb ausschreiben. Im Falle einer „äußerst dringlichen Beschaffung“ gilt das allerdings nicht: hier kann der Auftrag ausnahmsweise direkt an ein Unternehmen vergeben werden. Diese Ausnahme regelt die für die BVG einschlägige Sektorenverordnung (§ 13 Abs. 2 Ziffer 4 SektVO):
„Der Auftraggeber kann Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, …wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschriebenen sind; die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dürfen dem Auftraggeber nicht zuzurechnen sein.“
Es müssen also äußerst dringliche und zwingende Gründe vorliegen, die für den Auftraggeber nicht vorhersehbar waren, so die Abwendung akuter Gefahrensituationen oder unvorhersehbarer Katastrophenfälle (z.B. unverschuldete Havarien, Hochwasser – wie 2013 in Niederbayern – oder Terrorismusgefahr) oder in Fällen der Daseinsvorsorge, wenn ansonsten ein vertragsloser Zustand droht. Dagegen werden grundsätzlich „hausgemachte“ interne Gründe wie Finanznot oder Termindruck wegen eigener Planungsfehler von der Rechtsprechung nicht als Ausnahmen für eine Direktvergabe anerkannt (s. hierzu ausführlich für nationale Vergaben und Zuwendungsempfänger in ).
Ob nach diesen Kriterien die Beschaffung der neuen Fahrzeuge „dringlich“ ist, ist immerhin zweifelhaft. Denn wie sich dem Artikel im Tagesspiegel entnehmen lässt, sind die Probleme der BVG seit Jahren bekannt. Bei der Instandsetzung der bestehenden Fahrzeuge ist es zwar aktuell zu unerwarteten Rissen gekommen. Diese konnten gemäß Information im Tagesspiegel nur in einem komplizierten Verfahren beseitigt werden, so dass es „nicht ausgeschlossen ist, dass die Fahrzeuge die vorgesehenen acht Jahre nicht durchhalten werden“. Dies wird als Begründung für die nun mehr erforderliche dringliche Beschaffung von Reservefahrzeugen angeführt (wobei das gewünschte bzw. benötigte Modell auch nur ein Hersteller zügig liefern kann).
Dass die BVG die Risse bei der Instandsetzung nicht voraussehen konnte, sei dahingestellt. Das grundsätzliche Sanierungsproblem ist aber lange existent, ebenso wie die Tatsache, dass dringend neue Fahrzeuge benötigt werden. Die Begründung der „äußersten Dringlichkeit“ mit bei der Instandsetzung aufgetretenen „nicht vorhersehbaren Ereignissen“, die befürchten lassen, dass die Fahrzeuge die vorgesehenen acht Jahre nicht durchhalten, widerlegt sich selbst.
Natürlich ist es aus der (Not)Lage der BVG verständlich, dass sie Mittel und Wege sucht, ein langwieriges und komplexes EU-weites Vergabeverfahren zu vermeiden. Unverständlich wird es allerdings, wenn man den Kommentar mit dem Titel „Not macht erfinderisch“ zu dem Artikel im Tagesspiegel liest:
„Es ist kein Trick, um schnell an neue Züge zu kommen. Es ist die reine Not, die die BVG erfinderisch macht….Senat und BVG haben zwar jahrelang versäumt, neue Bahnen zu bestellen, doch jetzt dürfen die Fahrgäste darunter nicht leiden… Berlin braucht die Züge jetzt – und nur das Unternehmen aus Pankow kann sie so schnell liefern. Deswegen wäre es begrüßenswert, wenn Wettbewerber des ausgeguckten Herstellers … auf Klagen verzichten…“
(Auszug, Quelle: Der Tagesspiegel, 23.08.2017, S.-6-, Meinung, online nicht verfügbar, Hervorhebung durch Verf.).
Mit anderen Worten: Zum Wohle der Berliner U-Bahn-Nutzer sollen die anderen Unternehmen, die nicht von dem lukrativen millionenschweren Auftrag profitieren, stillhalten. Wenn nicht, wird ihnen der schwarze Peter für die Versäumnisse der BVG zugeschoben. Eine seltsame Verdrehung der Verantwortlichkeiten.
Es bleibt abzuwarten, ob professionelle und wirtschaftlich am Markt agierende Unternehmen die Ansicht des Kommentators teilen.
Hinweis: Das Thema Notstand bei der BVG: Dringlichkeitsbeschaffung bei der Berliner U-Bahn ist derzeit Gegenstand einer angeregten Diskussion im Mitgliederbereich des DVNW. Zur Diskussion geht es hier. Noch nicht Mitglied? Hier geht es zur Mitgliedschaft.
Monika Prell ist Fachanwältin für Vergaberecht und Partnerin bei der Kanzlei SammlerUsinger in Berlin. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrung im Vergaberecht und berät sowohl öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung, Konzeption und Gestaltung sowie der anschließenden Durchführung von Vergabeverfahren als auch Bieterunternehmen umfassend bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen. Darüber hinaus vertritt Monika Prell ihre Mandanten vor den Vergabenachprüfungsinstanzen. Neben ihrer anwaltlichen Tätigkeit ist sie als Kommentarautorin tätig, veröffentlicht regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.
Zu den Problemen der Berliner U-Bahn kommen ja auch nun auch noch die Probleme der Berliner S-Bahn dazu:
https://www.golem.de/news/s-bahn-berlin-softwareprobleme-ausgerechnet-zur-ifa-1708-129793.html
Siemens ist vor die Vergabekammer gezogen, zum aktuellen Stand: https://www.welt.de/regionales/berlin/article172098272/U-Bahn-Auftrag-Laengere-Prueffrist-fuer-Siemens-Beschwerde.html