Im Vorabentscheidungsverfahren „Vossloh Laeis“ (Rs. C-124/17) hat Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona am 16. Mai 2018 seine Schlussanträge vorgelegt. Die Vorlagefragen der Vergabekammer Südbayern betreffen die Voraussetzungen für eine vergaberechtliche Selbstreinigung eines wegen Kartellbeteiligung ausgeschlossenen Unternehmens. Kernfrage ist, ob von einem Unternehmen zur Zulassung zu einem Vergabeverfahren verlangt werden kann, dass es dem öffentlichen Auftraggeber Informationen zu seinem Fehlverhalten und dem hierdurch entstandenen Schaden liefert. Für ein Unternehmen kann eine solche Verpflichtung heikel sein, da der Auftraggeber die Informationen u.U. für einen zivilrechtlichen Schadensersatzprozess gegen das Unternehmen verwenden kann. Vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren aufgedeckten Submissionsabsprachen (u.a. bei Feuerwehrfahrzeugen, LKWs, Schienen/Weichen und Auftausalz), die vielfach auch zu Lasten öffentlicher Auftraggeber gingen, ist das Vorlageverfahren von besonderer Brisanz. Die Schlussanträge des Generalanwalts wurden daher sowohl von Unternehmensseite als auch seitens kartellgeschädigter Auftraggeber mit Spannung erwartet.
Schlussanträge des Generalanwalts Manuel Campos Sánchez-Bordona (gekürzt)
1. Art. 80 der Richtlinie 2014/25/EU in Verbindung mit Art. 57 Abs. 6 Unterabs. 2 der Richtlinie 2014/24/EU
steht dem entgegen, dass ein Wirtschaftsteilnehmer, der trotz des Vorliegens eines einschlägigen Ausschlussgrundes seine Zuverlässigkeit nachweisen will, aktiv mit dem öffentlichen Auftraggeber zusammenarbeiten muss, um die Tatsachen und die Umstände, unter denen er als Mittäter an Vereinbarungen zur Verfälschung des Wettbewerbs beteiligt war, umfassend aufzuklären, wenn dieser Wirtschaftsteilnehmer bereits aktiv mit der Wettbewerbsbehörde, die diese Tatsachen untersucht und geahndet hat, zusammengearbeitet und deren Umstände umfassend geklärt hat;
steht dem nicht entgegen, dass ein Mitgliedstaat diese aktive Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Auftraggeber als Voraussetzung dafür, dass der Wirtschaftsteilnehmer seine Zuverlässigkeit nachweist und nicht vom Vergabeverfahren ausgeschlossen wird, verlangt, wenn es sich um rechtswidrige Verhaltensweisen handelt, bei denen der öffentliche Auftraggeber selbst die betreffenden Tatsachen und Umstände feststellen muss.
2. Liegt im Hinblick auf einen Wirtschaftsteilnehmer ein in Art. 57 Abs. 4 Buchst. d der Richtlinie 2014/24 vorgesehener Ausschlussgrund vor, weil er Vereinbarungen getroffen hat, die auf eine Verzerrung des Wettbewerbs abzielen und die bereits Gegenstand einer Sanktionsentscheidung waren, ist der höchstzulässige Ausschlusszeitraum ab dem Datum dieser Entscheidung zu berechnen.
Vorlagebeschluss der Vergabekammer Südbayern
Das Vorabentscheidungsverfahren geht auf einen Vorlagebeschluss der Vergabekammer Südbayern vom 7. März 2017 (Z3-3-3194-1-45-11/16) zurück. Im dortigen Nachprüfungsverfahren wehrt sich das antragstellende Unternehmen (Vossloh Laeis GmbH) gegen seinen Ausschluss von einem für den Bereich der Beschaffung von Oberbaumaterialien eingerichteten Prüfungssystem i.S.v. § 24 SektVO a.F. Das Unternehmen bestreitet seine Kartellbeteiligung nicht, sieht aber die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Selbstreinigung als erfüllt an. Die Vergabestelle (Stadtwerke München) meint, dass das Unternehmen mit ihr nicht zielgerichtet zur Aufklärung der Kartellbeteiligung und des entstandenen Schadens zusammengearbeitet habe.
Mit ihrem Vorlagebeschluss möchte die Vergabekammer Südbayern zum einen wissen, ob § 125 Abs. 1 Nr. 2 GWB, der das Unternehmen bei der Aufklärung der Tatsachen und Umstände im Zusammenhang mit dem Fehlverhalten und dem verursachten Schaden zur aktiven Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden und dem öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, mit den EU-Richtlinien vereinbar ist. Hintergrund ist, dass die Richtlinienvorgabe in Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24/EU nur von einer aktiven Zusammenarbeit mit den „Ermittlungsbehörden“ spricht, ohne den öffentlichen Auftraggeber zu erwähnen.
Zum anderen hat die Vergabekammer dem EuGH die Frage vorgelegt, ob die dreijährige Ausschlussfrist nach § 126 Nr. 2 GWB bereits ab Verwirklichung des Ausschlusstatbestands durch das Unternehmen oder erst ab Vorliegen einer gesicherten und belastbaren Kenntnis des Auftraggebers über den Ausschlussgrund läuft.
Schlussanträge des Generalanwalts
Auf die Frage nach einer Verpflichtung zur aktiven Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Auftraggeber gibt der Generalanwalt eine differenzierte Antwort. Nach Auffassung des Generalanwalts entspricht es nicht den Richtlinienvorgaben, wenn ein Unternehmen trotz Vorliegen eines einschlägigen Ausschlussgrunds seine Zuverlässigkeit nachweisen will und hierfür zur Klärung der Umstände, unter denen es als Mittäter an Vereinbarungen zur Verfälschung des Wettbewerbs beteiligt war, aktiv mit dem öffentlichen Auftraggeber zusammenarbeiten muss, obwohl es bereits aktiv mit der Wettbewerbsbehörde, die diese Tatsachen untersucht und geahndet hat, zusammengearbeitet und die in Rede stehenden Umstände umfassend geklärt hat. Demgegenüber stünden die Richtlinienvorgaben dem Erfordernis einer aktiven Zusammenarbeit dann nicht entgegen, wenn es um rechtswidrige Verhaltensweisen gehe, bei denen der öffentliche Auftraggeber selbst die betreffenden Tatsachen und Umstände feststellen muss.
Der Generalanwalt begründet diese Differenzierung mit dem Befund, dass der Auftraggeber im Rahmen der ihm obliegenden Prüfung der Ausschlussgründe zwar „einige Funktionen mit Ermittlungscharakter“ ausführe, er hierdurch jedoch nicht zu einer „Ermittlungsbehörde“ im Sinne von Art. 57 Abs. 6 Richtlinie 2014/24/EU werde. Denn im Rahmen der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen der Selbstreinigung müsse der Auftraggeber nicht unbedingt selbst Ermittlungstätigkeiten anstellen. Dies werde auch dadurch belegt, dass die Tatsachen, die das Unternehmen zum Beleg der Selbstreinigung nachweisen muss, in der Vergangenheit liegen. Dem Auftraggeber komme insoweit nur die passive Aufgabe einer Beweiswürdigung zu. Es ergäbe keinen Sinn, die Verpflichtung des Unternehmens zur Klärung der in Rede stehenden Tatsachen und Umstände durch eine Ausweitung auf die Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Auftraggeber zu verdoppeln. Eine solche Verdoppelung der Verpflichtung sei auch deshalb problematisch, weil ein geschädigter Auftraggeber möglicherweise nicht mit der nötigen Neutralität und Unparteilichkeit über das Vorliegen der Voraussetzungen der Selbstreinigung entscheiden könne.
Andererseits verbiete das europäische Recht den Mitgliedstaaten nicht, strengere Anforderungen für den Nachweis der während des Ausschlusszeitraums wieder eingetretenen Zuverlässigkeit eines Unternehmens vorzusehen, so dass insoweit, wie in § 125 Abs. 1 Nr. 2 GWB vorgesehen, neben der Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden auch eine Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Auftraggeber verlangt werden könne. Um die v.g. Verdoppelung der Verpflichtungen zu vermeiden, dürfe diese Zusammenarbeit aber nicht denselben Gegenstand haben, wie diejenige die das Unternehmen gegenüber den Ermittlungsbehörden zu leisten habe. Vielmehr müsse diese Zusammenarbeit Verhaltensweisen betreffen, deren Einstufung als Ausschlussgrund vom öffentlichen Auftraggeber selbst beurteilt und bewertet werden müssen.
Die Frage nach der Ausschlussfrist beantwortet der Generalanwalt für den im Vorlageverfahren relevanten Ausschlussgrund wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen (Art. 57 Abs. 4 lit. d Richtlinie 2014/24/EU, § 124 Abs. 1 Nr. 4 GWB) dahingehend, dass für den Fristbeginn nicht auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Verhaltens des Unternehmens, sondern auf den Zeitpunkt der juristischen Einstufung und Ahndung als wettbewerbsbeschränkendes Verhalten abzustellen sei. Dies ergebe sich aus dem Umstand, dass die Existenz wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen in Anbetracht der Unschuldsvermutung nur aufgrund einer Gerichts- oder Verwaltungsentscheidung als nachgewiesen erachtet werden könnten.
Rechtliche Würdigung
Hinsichtlich der Frage der Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Auftraggeber legt der Generalanwalt den Finger in die Wunde. Kann erwartet werden, dass ein Auftraggeber neutral und unvoreingenommen über das Vorliegen der Voraussetzungen der Selbstreinigung entscheiden kann, wenn er selbst Kartellgeschädigter ist und die Aussichten auf Durchsetzung eines Schadensersatzanspruchs durch weitere Informationen von dem kartellbeteiligten Unternehmen verbessern kann? Tatsächlich spricht viel dafür, dass der Begriff „Ermittlungsbehörde“ aus Art. 57 Abs. 6 Richtlinie 2014/24/EU nur die Wettbewerbsbehörden meint, deren Aufgabe die Einstufung und Ahnung wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen ist.
Ganz vom Haken lassen will der Generalanwalt ehemalige Kartellanten jedoch auch nicht. Denn nach Auffassung des Generalanwalts ist die Regelung in § 125 Abs. 1 Nr. 2 GWB jedenfalls dann mit den europäischen Vorgaben vereinbar, wenn man sie (im Wege der Auslegung) auf die Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Auftraggeber hinsichtlich solcher Umstände beschränkt, die nicht schon seitens der Wettbewerbsbehörde geklärt wurden. Auch dies überzeugt im Ergebnis, denn die Beurteilung der Voraussetzungen der Selbstreinigung durch den Auftraggeber dient einem anderen Zweck (Prognose, ob sich das Unternehmen zukünftig rechtskonform verhält) als die Ermittlungen der Wettbewerbsbehörde (Aufklärung und Ahndung des Fehlverhaltens). Es erscheint daher konsequent, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, dass sie von den Unternehmen zumindest eine gewisse Zusammenarbeit mit dem Auftraggeber in Bezug auf den Umstände des Ausschlussgrunds und den Nachweis der Selbstreinigung verlangen dürfen. Offen bleibt die Frage, wie weit diese Zusammenarbeit konkret gehen muss.
Hinsichtlich der Vorlagefrage zum Beginn der dreijährigen Ausschlussfrist zeigt der Verweis des Generalanwalts auf die Unschuldsvermutung, dass nicht ohne weiteres von „hinreichend plausiblen Anhaltspunkten“ für das Vorliegen des fakultativen Ausschlussgrunds einer wettbewerbsbeschränkende Abrede im Sinne von Art. 57 Abs. 4 lit. d) Richtlinie 2014/24/EU ausgegangen werden kann. Dies entspricht der deutschen Praxis, nach der ebenfalls eher hohe Anforderungen an das Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte für eine wettbewerbsbeschränkende Abrede zu stellen sind. Auch nach Auffassung des deutschen Gesetzgebers soll die bloße Durchführung von kartellbehördlichen Untersuchungsmaßnahmen wie beispielsweise Durchsuchungen nicht ausreichen (BT-Drs. 18/6281, S. 106).
Praxistipp
Soweit der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwalts folgt (was er statistisch in mehr als 80% der Fälle tut), dürfte dies für kartellgeschädigte Auftraggeber die Aussichten erschweren, über den Hebel der vergaberechtlichen Selbstreinigung an Informationen zu kommen, die für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen verwendet werden können. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, wie der EuGH entscheiden wird.
Der Autor Dr. Tobias Schneider ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht im Berliner Büro der Kanzlei Dentons. Er berät Unternehmen und öffentliche Auftraggeber bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen und vertritt deren Interessen in Vergabeverfahren und vor den Nachprüfungsinstanzen.
0 Kommentare