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Irrtümlich falsches Vertragsverständnis schützt nicht vor dem Unwirksamkeitsverdikt bei De-facto Vergaben (OLG Schleswig, Beschluss vom 09.12.2021 54 Verg 8/21)

EntscheidungDer Vergabesenat des OLG Schleswig hat sich in seiner Entscheidung vom 09.12.2021 klar dazu positioniert, dass die Verlängerung von Verträgen mit befristeter Laufzeit, bei denen das Zeitmoment ein wesentliches Element der geschuldeten Leistung ist, als eine wesentliche Auftragsänderung und damit als neuer Beschaffungsvorgang zu werten ist. Dies gilt jedenfalls dann, wenn mit der Vertragsverlängerung eine erhebliche Ausweitung des Leistungsvolumens einhergeht. Solche Auftragsänderungen sind vergaberechtlich unzulässig und stellen eine De-facto Vergabe dar. Dabei kommt es für die Frage, ob eine Auftragsänderung vorliegt oder die Leistungserbringung vom bestehenden Vertrag gedeckt ist, nicht allein auf die im gerichtlichen Verfahren vorgetragenen Vorstellungen der Parteien, sondern auf den durch Auslegung zu ermittelnden objektiven Vertragsinhalt an. Bei dieser Auslegung spielt die EU-Bekanntmachung eine maßgebliche Rolle.

§§ 132 Abs.1, 135 Abs. 1, 2 GWB; §§ 133, 157 BGB

Leitsatz

1. Die Verlängerung von Verträgen mit befristeter Laufzeit ist bei Verträgen, bei denen das Zeitmoment ein wesentliches Element der geschuldeten Leistung ist, bei einer erheblichen Ausweitung des Leistungsvolumens als eine wesentliche Vertragsänderung und damit als neuer Beschaffungsvorgang zu werten.

2. Für das Unwirksamkeitsverdikt nach § 135 Abs. 1 GWB kommt es nicht darauf an, ob die Vertragsparteien eine ausdrückliche Vereinbarung zur nachträglichen Verlängerung des Vertrages geschlossen haben. Ausreichend ist ein selbständiger vergaberechtsrelevanter Beschaffungsvorgang, wobei eine mündliche, konkludente oder nach einer überwiegenden Lebenswahrscheinlichkeit vorliegende Beauftragung ausreicht.

3. Ein derartiger Beschaffungsvorgang ist auch dann zu bejahen, wenn Auftraggeber und Auftragnehmer einen Beschaffungsvorgang übereinstimmend irrtümlich von einem früher abgeschlossenen und bei zutreffender Würdigung beendeten Vertrag für gedeckt halten und die Vertragsleistungen weiterhin erbringen.

Sachverhalt

Der Auftraggeber führte im Jahr 2011 ein offenes Verfahren zur Vergabe von Busverkehrsleistungen für die Beförderung von Schülern mit Handicap mit Los A und Los B durch. In der Bekanntmachung hieß es unter „Optionen“: „Die beschriebene Verkehrsleistung soll zunächst für 4 Jahre (B-Lose)/8 Jahre (A-Lose) erbracht werden (einschließlich Schuljahr 2014/2015 bzw. 2018/2019). Der Vertrag verlängert sich automatisch um 2 Jahre, wenn er nicht 12 Monate vor Ablauf der Vertragslaufzeit gekündigt wird.

Weiterhin hieß es unter „Vertragslaufzeit bzw. Beginn und Ende der Auftragsausführung“:

Beginn: 2.5.2011. Ende: 31.7.2019″.

Im Januar 2011 wurde der Zuschlag für Los A und Los B an ein Unternehmen erteilt. Nach Zuschlagserteilung wurde der Vertrag, der ursprünglich leicht verändert als Vertragsentwurf den Vergabeunterlagen beigefügt war,  wie folgt in der Fassung am 27. Juli/1. August 2011 von Auftraggeber und Auftragnehmer unterzeichnet:

Der Leistungszeitraum beginnt zum 02.05.2011. Die beschriebene Verkehrsleistung wird zunächst für das Förderzentrum Sprache (S. 4) vier und für die Förderzentren mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung acht Jahre erbracht werden (einschließlich Schuljahr 2014/2015 bzw. 2018/2019). Maßgeblich ist insoweit der 31. Juli. Der Vertrag verlängert sich automatisch um 2 Jahre, wenn er nicht 12 Monate vor Ablauf der jeweiligen Vertragslaufzeit gekündigt wird. Die Beförderungsleistungen zum Förderzentrum Sprache (S. 4) bzw. zu den Förderzentren mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung können unabhängig voneinander gekündigt bzw. weitergeführt werden.“ (§ 10 des Verkehrsvertrags).

Im Jahr 2014 hat der Auftraggeber den Vertrag für Los B gekündigt und neu ausgeschrieben. Den Vertrag für Los A kündigte der Auftraggeber nicht. Hierzu antwortete der Auftraggeber auf Nachfrage der Antragstellerin, die Ausschreibung sei „zum Ablauf des Schuljahres 2022/2023 auf Basis der Verlängerung um 2 Jahre ab Schuljahr 2020/2021″ vorgesehen.

Hiergegen wendete sich die Antragstellerin mit einem Nachprüfungsantrag. Im Wesentlichen führte sie aus, dass eine Beauftragung über das Schuljahresende 2020/2021 hinaus eine unzulässige De-facto Vergabe darstellte. Auch mit der Verlängerungsoption um zwei Jahre habe der Vertrag eine maximale Laufzeit bis 31.07.2021.

Der öffentliche Auftraggeber vertrat dagegen die Auffassung, es könne schon deshalb keine unzulässige Auftragsänderung vorliegen, weil er gerade keine rechtsgeschäftliche Erklärung gegenüber einem Dritten im Hinblick auf die Erteilung eines öffentlichen Auftrages zur Erbringung von erweiterten Beförderungsleistungen abgegeben habe. Im Übrigen liege auch deshalb keine De-facto Vergabe vor, weil die Vertragsverlängerung über das Jahr 2019 hinaus von der Regelung des § 10 des Verkehrsvertrags gedeckt sei. Dem Wortlaut des Vertrages sei keine Beschränkung auf eine einmalige Verlängerung zu entnehmen, die automatische Verlängerung sei ohne Angabe der möglichen Anzahl der Verlängerungen normiert.

Die Entscheidung

Der Vergabesenat des OLG Schleswig folgte dem nicht und stellte fest, dass die Leistungserbringung durch den bisherigen Vertragspartner ab dem 1. August 2021 nicht durch den Verkehrsvertrag gedeckt sei und einen nach § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GWB unwirksamen öffentlichen Auftrag darstelle.

Der Vergabesenat führt aus, dass die einvernehmliche Fortführung des Verkehrsvertrages zu Los A über dessen ursprünglich vom Auftraggeber vorgegebenes Laufzeitende am 31. Juli 2021 hinaus um zwei Jahre eine wesentliche Änderung des Auftrags darstelle, die nach § 132 Abs. 1 GWB ein neues Vergabeverfahren für die ab dem 1. August 2021 zu erbringende Beförderungsleistung erfordere.

Dabei verwies der Senat darauf, dass die Verlängerung des Verkehrsvertrages mit einer Laufzeit von zehn Jahren um zwei Jahre eine erhebliche Ausweitung  des Leistungsvolumen um 20 % darstelle. Damit seien auch die Voraussetzungen des § 132 Abs. 3 GWB (sog. „Bagatellklausel“) nicht gegeben. Den Ausführungen des OLG zufolge handle es sich bei der Verlängerung von Verträgen mit befristeter Laufzeit, bei denen das Zeitmoment ein wesentliches Element der geschuldeten Leistung ist, bei einer erheblichen Ausweitung des Leistungsvolumens um eine wesentliche Vertragsänderung nach § 132 Abs. 1 GWB und damit einen neuen Beschaffungsvorgang.

Hinsichtlich der Beendigung des Verkehrsvertrages für das streitgegenständliche Los stellt der Vergabesenat fest, dass gemäß §§ 133, 157 BGB nur eine einmalige Verlängerung der Vertragslaufzeit um zwei Jahre möglich gewesen sei. Der Vergabesenat legt im Rahmen  seiner Entscheidung den Vertragsentwurf, die Auftragsbekanntmachung sowie die abgeänderte Form des Vertrages zugrunde. Maßgeblich für das Verständnis von öffentlich bekannt gemachten Vergabeunterlagen sei der objektive Empfängerhorizont der potenziellen Bieter. Der eigentliche Leistungszeitraum könne der Auftragsbekanntmachung zu „Vertragslaufzeit bzw. Beginn und Ende der Auftragsausführung“ entnommen werden: „Beginn 2.5.2011. Ende: 31.07.2019″.

Eine verlängerte Vertragslaufzeit infolge der unterbliebenen Kündigung, des abweichenden Parteiwillens oder aus dem Inhalt der Vergabeakte könne nicht hergeleitet werden. Der Vergabesenat betont:

Das für die Auslegung von Vergabeunterlagen geltende Gebot der am objektiven Empfängerhorizont der Bieter orientierten Auslegung erstreckt sich insoweit auch auf die Auslegung bei einer übereinstimmenden Fehlvorstellung eines durch Zuschlag im Vergabeverfahren geschlossenen Vertrages“.

Dass ferner der Auftraggeber und die Auftragnehmerin keine ausdrückliche Vereinbarung zur nachträglichen Verlängerung des Vertrages geschlossen haben, stehe einer Unwirksamkeit nach § 135 Abs. 1 GWB nicht entgegen, denn eine „mündliche, konkludente oder nach einer überwiegenden Lebenswahrscheinlichkeit vorliegende Beauftragung“ reiche aus. Der Auftraggeber und Auftragnehmer haben dabei „übereinstimmend irrtümlich von einem früher abgeschlossenen und bei zutreffender Würdigung beendeten Vertrag für gedeckt halten und die Vertragsleistungen weiterhin“ erbracht.

Rechtliche Würdigung

Im Ergebnis wird die bislang verbreitete Ansicht zur Verlängerung befristeter Verträge durch den Vergabesenat OLG Schleswig bestätigt. Die Verlängerung von Verträgen mit befristeter Laufzeit stellen eine wesentliche Auftragsänderung i.S.d. § 132 GWB dar, wenn der Zeitpunkt der Leistung nicht nur eine bloße Modalität der Leistung darstellt, sondern das Zeitmoment selbst wesentliches Element der geschuldeten Leistung ist.

Vorliegend war die Laufzeit des Vertrages mit dem Ablauf der ersten Vertragsverlängerung zu Ende. Die weitere Dienstleistungserbringung durch die Beigeladene war folglich nicht vom ursprünglichen öffentlichen Auftrag erfasst. Der Senat hat unter Berücksichtigung der Grundsätze der §§ 133, 157 BGB darauf abgestellt, dass es sich nur um eine einmalige Verlängerungsoption des Vertrages handle und es nicht drauf ankomme, ob die Vertragsparteien davon ausgehen, dass von der Verlängerungsoption mehrfach Gebrauch gemacht werden kann. Denn maßgeblich ist, welche Regelungen dem Vertrag bei Auslegung innewohnen und nicht, ob die Vertragsparteien, wenn auch irrtümlich, von einer Verlängerungsoption ausgehen. Die (unzulässige) Vertragsverlängerung muss nicht ausdrücklich vereinbart worden sein.

Praxistipp

Vergabekammern sind im Rahmen eines Nachprüfungsantrages befugt, eine Vertragsauslegung vorzunehmen, um Vergabeverstöße festzustellen. Damit können Verträge zum Gegenstand von Nachprüfungsverfahren werden, wenn die Gefahr eines Vergabeverstoßes vorliegt.

Vertragsregelungen zur Vertragslaufzeit sollten stets mit den Angaben in den Vergabeunterlagen verglichen werden und möglichst identische Formulierungen haben. Denn die zugrunde liegende Entscheidung hat gezeigt, dass etwa die Angaben in der Bekanntmachung entscheidend für die Auslegung der Verträge sein können und nicht etwa der (vermeintliche) Wille der Parteien.

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Über Darja Amelcenko, LL.M.

Darja Amelcenko, LL.M. ist Rechtsanwältin bei Luther, Berlin. Sie berät private Unternehmen und öffentliche Auftraggeber in den Bereichen Privates Baurecht und Vergaberecht. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Beratung bei digitalen Themen im Vergaberecht, insbesondere im Hinblick auf die Durchführung von Vergabeverfahren.

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