Fehlende Unterlagen führen auch dann zum zwingenden Angebotsausschluss, wenn der materielle Wettbewerbsnachteil gering erscheint. Im Fall zweier Hauptangebote fehlten die geforderten Oberstoffmuster für eines der eingereichten Hauptangebote, mit der Folge des Ausschlusses. Der Beschluss verdeutlicht erneut die enge Bindung an klar formulierte Ausschlusskriterien, die weder durch Auslegung noch durch Nachforderung oder Verhältnismäßigkeit aufgeweicht werden dürfen.
Sachverhalt
Im Rahmen der europaweiten Ausschreibung von Dienstbekleidung im offenen Verfahren durch den Antragsgegner gab die Antragstellerin (Produzentin von Behördenkleidung) zwei Hauptangebote ab, die sich ausschließlich im verwendeten Reißverschluss unterschieden. Die Einreichung mehrere Hauptangebote war gemäß der Vergabeunterlagen zugelassen. Gemäß den Vergabeunterlagen mussten für jedes Angebot jeweils zwei Oberstoffmuster DIN A4 zusammen mit den restlichen Musterstücken eingereicht werden. Die Antragstellerin übersandte „2 Stück Oberstoff DIN A4“ jedoch nur für das zweite Hauptangebot und argumentierte nachträglich, da die Stoffe identisch seien, reiche eine einmalige Vorlage für beide Hauptangebote aus. Der Antragsgegner ordnete anhand des beigefügten Lieferscheins die übersandten Oberstoffmuster nur dem Hauptangebot 2 zu und schloss das Hauptangebot 1 wegen Fehlens der zwei Oberstoffmuster aus.
Die Entscheidung
Die Vergabekammer bestätigte den Ausschluss gemäß §§ 57 Abs. 1 Nr. 2, 53 Abs. 7 Satz 2 VgV. Sie stellte klar, dass die Ausschlusskriterien in den Vergabeunterlagen mehrfach und eindeutig durch den Antragsgegner als Muss-Anforderungen gekennzeichnet waren. Der Antragsgegner hat insoweit von seinem Leistungsbestimmungsrecht gemäß § 121 Abs. 1 Satz 1 GWB Gebrauch gemacht und mit der vorliegenden Ausschreibung seinen konkreten Beschaffungsbedarf sowie die Verfahrensbedingungen definiert.
Das Fehlen der Oberstoffmuster im Karton zum Hauptangebot 1 ließ aus objektiver Sicht – sowohl aufgrund des Lieferscheins als auch des tatsächlichen Inhalts – keinen Spielraum für eine abweichende Auslegung zugunsten der Antragstellerin. Die Vergabekammer hob hervor, dass eine nachträgliche Auslegung, Aufklärung oder Nachforderung in diesem Fall ausgeschlossen sei, zumal die Antragstellerin sich durch Angebotsabgabe den Bedingungen unterworfen habe und keine vorherige Rüge angebracht hatte.
Rechtliche Würdigung
Der Beschluss der Vergabekammer Hessen zeigt abermals, wie strikt das Vergaberecht zwingende Ausschlusskriterien behandelt.
1. Strenge Bindung an Ausschlusskriterien
Zwingende Ausschlusskriterien, wie im vorliegenden Fall die Vorlage von „2 Stück Oberstoff DIN A4“ je Angebot, lassen dem öffentlichen Auftraggeber, so wie in den Vergabeunterlagen aufgestellt, keinen Ermessensspielraum. Sind solche Kriterien in den Vergabeunterlagen eindeutig und für den fachkundigen Bieter zweifelsfrei erkennbar formuliert, muss der Ausschluss erfolgen, wenn die Anforderungen nicht erfüllt werden. Die Vergabekammer bestätigt damit die herrschende Rechtsauffassung: Durch die klare Kennzeichnung erhalten die Mindestvorgaben bindende Wirkung, die nicht durch Nachsicht umgangen werden dürfen.
2. Objektiver Empfängerhorizont und Auslegung
Die Auslegung der Vergabeunterlagen und der von Bietern abgegebenen Erklärungen erfolgt nach dem sogenannten objektiven Empfängerhorizont. Maßgeblich ist, wie ein verständiger, fachkundiger Bieter die Anforderungen versteht und nicht das subjektive Verständnis eines einzelnen Bieters oder des Auftraggebers. Im vorliegenden Sachverhalt wirkt der Lieferschein sogar gegen die Antragstellerin, da die Muster ausdrücklich nur einem Angebot zugeordnet wurden. Die Vergabekammer stellt fest: Auch wenn die Bieterin argumentiert, der Stoff sei identisch und daher ein Muster ausreichend, kommt es auf die formalen Vorgaben an und auf das, was ein mit dem Verfahren vertrauter Dritter den Unterlagen entnimmt.
3. Grenzen von Nachforderung, Aufklärung und Verhältnismäßigkeit
Das Vergaberecht sieht vielfach eine Nachforderung fehlender Unterlagen vor, soweit dies nicht ausdrücklich ausgeschlossen wird oder zwingende Ausschlusskriterien betroffen sind (§§ 56, 57 VgV). Im Fall der zwingenden Muss-Anforderungen sind Nachforderung und Aufklärung ausgeschlossen: Würde der Auftraggeber diese Möglichkeit dennoch einräumen, würde er gegen die Grundsätze der Transparenz, Gleichbehandlung und Vergleichbarkeit im Wettbewerb verstoßen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nach überwiegender Meinung nicht geeignet, zwingenden Ausschlussgründen die Bindung zu nehmen
4. Konsequenzen für Praxis und Rechtsschutz
Fehlende Unterlagen, Angaben oder Muster bei formalen Ausschlusskriterien führen unmittelbar zum Angebotsausschluss, selbst wenn die materielle Wettbewerbsrelevanz gering erscheint. Bietern bleibt nur, vor Angebotsabgabe rechtliche Unklarheiten zu rügen. Ein nachträglicher Verweis auf Zweckmäßigkeit, Auslegungsprobleme oder kleine materielle Fehler kann den formalen Ausschluss nicht abwenden.
Die Entscheidung der Vergabekammer ist rechtskräftig.
Praxistipp
Der Beschluss stellt nochmals unmissverständlich fest: Strenge Transparenz und Gleichbehandlung im Vergaberecht gebieten, dass zwingende Ausschlusskriterien nicht nachträglich durch Willenserklärungen, Aufklärung oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufgeweicht werden dürfen. Die Vergabekammer betont, dass die Unterscheidung von „bloßer Förmelei“ und materieller Vergaberelevanz in der Entscheidung des Gesetzgebers angelegt ist, nicht im Ermessen des Auftraggebers. Eine Nachforderung ist bei klaren Ausschlusskriterien auch dann ausgeschlossen, wenn die Wettbewerbsrelevanz gering erscheint; hierin folgt die Vergabekammer ausdrücklich der Rechtsprechung des EuGH (Urteil C-336/12 vom 10.10.2013).
Bieter müssen Vergabeunterlagen akribisch beachten, auch bei scheinbar identischen Positionen oder Mustern, insbesondere wenn Ausschlusskriterien eindeutig als „Muss-Anforderung“ ausgestaltet sind. Spekulationen über nachträgliche Auslegung, Nachforderung oder Verhältnismäßigkeit bergen ein erhebliches Risiko. Zweifel oder Beanstandungen müssen vor Abgabe des Angebots als Rüge erhoben werden, andernfalls droht der zwingende Ausschluss aus dem Verfahren.
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Marco Führer
Marco Führer leitet die zentrale Vergabestelle im Hessischen Polizeipräsidium für Technik (HPT) und verfügt über umfassende Expertise im Einkauf polizeilicher Spezialbedarfe: von Bekleidung über Fahrzeuge (Luft, Wasser, Land) bis hin zu Waffen, Gerät, Informations- und Kommunikationstechnik sowie polizeilichen Dienstleistungen. Seit 2015 ist er zudem als selbständiger Fachreferent im öffentlichen Auftragswesen tätig. Seine Themenschwerpunkte liegen in den Bereichen Vertrags- und Vergaberecht, Beschaffungsmanagement mit Fokus auf der effizienten Einrichtung und Führung von Vergabestellen sowie Korruptionsprävention und Compliance.
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