“Für die deutsche Bauwirtschaft ist das ein Durchbruch zu einer faireren Verteilung der Risiken im Vergabeverfahren”, kommentierte der Hauptgeschäftsführer des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, RA Michael Knipper, die Entscheidung des Bundesgerichtshof (BGH) vom 11. Mai 2009 (VII ZR 11/08). Danach hat der öffentliche Auftraggeber künftig die Mehrkosten aus der Verzögerung des Zuschlags – im entschiedenen Fall aufgrund eines Nachprüfungsverfahrens – zu tragen. Diese Verzögerungen hatten in der Vergangenheit gerade den Bauunternehmen immer wieder Zusatzkosten verursacht, weil die Preise für Baustoffe wie Stahl, Bitumen oder Beton in der Zwischenzeit mitunter stark angestiegen waren. Dabei gilt nach dem BGH die Kostentragungspflicht auch dann, wenn der sich der Auftragnehmer ohne einen entsprechenden Vorbehalt mit der Verlängerung der Bindefrist seines Angebots einverstanden erklärt hat.
Bei einem andauernden Nachprüfungsverfahren – in dieser Zeit darf der Zuschlag nicht erteilt werden (§ 115 I GWB) – werden die Bieter nicht selten zu einer Verlängerung der Bindefrist für ihr Angebot aufgefordert. Entstehen durch die Verschiebung Mehrkosten, etwa weil sich für den Auftragnehmer die Einkaufspreise für das Material erhöht haben (im entschiedenen Fall Stahl und Zement), so machen die Auftragnehmer oftmals Ansprüche auf Ersatz der Mehrkosten geltend. In aller Regel berufen sich dann beide Parteien darauf, dass das Risiko der Verschiebung des Zuschlags und der Bauzeit die jeweils andere Partei zu tragen habe, weil keine der Parteien die Verzögerung verschuldet hat. Der Auftraggeber macht zudem oft geltend, der Bieter, der die Bindefrist verlängere, habe dadurch das Risiko von Mehrkosten übernommen.
Der BGH fällte hierzu nun ein Grundsatzurteil: Da der Vertrag aufgrund der Formstrenge des Vergaberechts trotz der zeitlichen Verschiebung nicht einfach abgeändert werden kann, kommt er entsprechend den in der Ausschreibung postulierten Bedingungen zustande, obwohl die Parteien diese, z.B. bestimmte Baufertigstellungstermine, mitunter wegen des Zeitablaufs nicht mehr einhalten können. Nach Treu und Glauben sei die so entstandene Vertragslücke im Wege der sog. ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen: Hierzu gehöre die Vereinbarung über neue Fertigstellungstermine ebenso wie über sich aufgrund der Verschiebung geänderte Preise.
Die Mehrkosten berechneten sich dabei im vorliegenden Fall gem. § 2 Nr. 5 VOB/B. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass die Kostentragungspflicht des Auftraggebers auch in den Fällen gilt, in denen sich der Unternehmer ohne Vorbehalt damit einverstanden erklärt hat, die Bindefrist für sein Angebot zu verlängern. Dazu heißt es im Urteil:
Auch den Erklärungen der Klägerin, der Verlängerung der Bindefrist zuzustimmen, hat das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei lediglich die Bedeutung zugemessen, dass das ursprüngliche Vertragsangebot inhaltlich konserviert und die rechtsgeschäftliche Bindungsfrist an das Angebot gemäß § 148 BGB, zugleich Bindefrist nach § 19 Nr. 3 VOB/A, verlängert werden sollte. Aussagen dazu, was vertraglich zu gelten hatte, wenn die Ausführungsfristen der Ausschreibung und des Angebots nicht mehr würden eingehalten werden können, waren damit nicht verbunden.
Nach Auffassung des BGH ist kein Vorbehalt nötig, um die grundsätzliche Möglichkeit zu behalten, die angebotenen Preise im Falle einer Änderung der vertraglichen Ausführungsfristen nach Vertragsschluss anpassen zu können: “Denn die Preise beziehen sich zunächst nur auf die angebotenen Vertragsbedingungen und damit auch auf die zunächst vorgesehenen Fristen. Eine Verlängerung der Bindefrist ändert hieran nichts.” Es sei deshalb auch keine – vergaberechtwidrige – Angebotsänderung notwendig, um sich die Möglichkeit zu erhalten, gegebenenfalls eine Preisanpassung zu verlangen. “Umgekehrt kann dies ohne Angebotsänderung aber auch nicht positiv vereinbart werden. Richtig ist vielmehr, dass es nach wie vor dabei bleibt, dass über die Auswirkungen einer eventuellen zeitlichen Überholung gar nichts geregelt ist”, so die Richter.
Eine ausdrückliche Erklärung des Bieters im Zusammenhang mit einer Bindefristverlängerung, man behalte sich im Falle verschobener Ausführungsfristen und hierdurch erhöhter Kosten die Geltendmachung einer Mehrvergütung vor, bedeutet nach Ansicht des BGH im Zweifel auch nicht, das Angebot modifizieren zu wollen, sondern nur, gegebenenfalls mögliche Ansprüche aus dem später abgeschlossenen, nach den Vergabebedingungen zustande gekommenen Vertrag auch geltend machen zu wollen. Es könne nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass ein Bieter eine Erklärung mit einer (stillschweigenden) Änderung an den Verdingungsunterlagen abgegeben habe und damit riskierte, aus dem Vergabeverfahren ausgeschlossen zu werden, so die Richter.
“Ich bin davon überzeugt, dass die Entscheidung im gesamten Baubereich eine bahnbrechende Wirkung entfalten wird”, kommentierte Knipper weiter. Nach Ansicht des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie ist für die Bauwirtschaft die wirtschaftliche Bedeutung des Urteils erheblich: Erfahrungsgemäß würden mindestens 10 % der öffentlichen Aufträge im Bausektor verspätet abgeschlossen – nicht selten wegen noch nicht abgeschlossener Nachprüfungsverfahren – wodurch den Bauunternehmen schätzungsweise Mehrkosten von bis zu 1 Mrd. EUR jährlich entstünden.
Sie finden das Urteil des BGH im Volltext hier.
Leitsatz, BGH – Urteil vom 11.05.2009, Aktenzeichen VII ZR 11/08
a) Ein Zuschlag in einem durch ein Nachprüfungsverfahren verzögerten öffentlichen Vergabeverfahren über Bauleistungen erfolgt auch dann zu den ausgeschriebenen Fristen und Terminen, wenn diese nicht mehr eingehalten werden können.
b) Der so zustande gekommene Bauvertrag ist ergänzend dahin auszulegen, dass die Bauzeit unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und der vertragliche Vergütungsanspruch in Anlehnung an die Grundsätze des § 2 Nr. 5 VOB/B anzupassen sind.
Marco Junk
Der Jurist Marco Junk gründete im Jahr 2007 den Vergabeblog und 2010 gemeinsam mit Dipl.-Kaufmann Martin Mündlein das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW). Er begann seine berufliche Laufbahn im Jahr 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und war danach als Bereichsleiter Vergaberecht beim Digitalverband bitkom tätig. Im Jahr 2011 leitete er die Online-Redaktion des Verlags C.H. Beck. Von 2012 bis 10/2014 war er Mitglied der Geschäftsleitung des bitkom und danach bis 10/2021 Geschäftsführer des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. Seit 2022 ist Marco Junk zudem als Leiter Regierungsbeziehungen für Eviden tätig. Seine Beiträge geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
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