Der Dresdner Vergabesenat bestätigt die Rechtsauffassung, dass die Anforderung der „Unverzüglichkeit“ der Rüge europarechtskonform ist. Einige Vergabekammern der Länder (VK Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20.04.2010 – VK 2-7/10; VK Hamburg, Beschluss vom 07.04.2010 – VK BSU 2/10) hatten der VK Bund (Beschluss v. 05.03.2010, VK 1-16/10) widersprochen, welche die EuGH-Rechtsprechung vom Januar diesen Jahres (Rs. C-406/08 und C-456/08) aus verschiedenen Gründen für nicht einschlägig erachtet hatte. Die letztere Rechtsauffassung hat nun im OLG Dresden einen wichtigen Mitstreiter gefunden. Zwar dürfte der Disput damit noch nicht endgültig erledigt sein, jedoch ist mit der Dresdner Entscheidung eine wichtige weitere Etappe erreicht, wie der nachfolgende Beitrag zeigt.
Die Begründung des Dresdner Vergabesenates
Das OLG Dresden stellt zu Recht heraus, dass die EuGH-Rechtsprechung schon im Ansatz nicht auf die deutsche Rechtssituation passt. Maßgeblichen Anstoß hat der EuGH an der englischen/irischen Regelung insofern genommen, als die dortige 3-monatige Klagefrist an das objektive Entstehen des Grundes für eine Klage anknüpft. In Deutschland wird demgegenüber aber an die subjektive Kenntnis des Bieters von einem Verstoß angeknüpft. Das OLG Dresden führt dazu aus:
„Zum einen ist darauf zu verweisen, dass diejenigen Erwägungen des Europäischen Gerichtshofs, mit denen nationale Rechtsvorschriften als gemeinschaftsrechtswidrig beanstandet werden, die eine Rügefrist unabhängig davon in Lauf setzen, ob der Bieter von dem zu rügenden Vergabeverstoß Kenntnis hatte oder haben musste, auf § 107 Abs. 3 GWB (in der Fassung des Vergaberechtsmodernisierungsgesetzes § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB) von vornherein nicht zutreffen, weil die Obliegenheit, unverzüglich zu rügen, nach deutschem Recht nur den Bieter trifft, der den Verstoß gegen Vergabevorschriften im Vergabeverfahren (tatsächlich und rechtlich) erkannt hat.“
Bereits dieser Unterschied ist ganz fundamentaler Natur, und darf nicht dazu verleiten, die Aussagen des EuGH zur Vorhersehbarkeit und Bestimmbarkeit einer (Klage-)Frist unreflektiert auf die deutsche Rechtslage zu übertragen.
Des Weiteren hebt der Dresdner Senat hervor, dass die deutschen Regelungen über die „Unverzüglichkeit“ der Rüge eine materielle Präklusionsregel betreffen, wohingegen sich der EuGH in den Urteilen von Januar 2010 mit Klagefristen auseinandersetzt. Auch dies stellt einen Umstand dar, der allzu häufig übersehen wird.
„Überdies enthält § 107 Abs. 3 GWB im Unterschied zu den vom Europäischen Gerichtshof entschiedenen Konstellationen keine Frist zur Einleitung des Nachprüfungsverfahrens (…), sondern eine materiell-rechtliche Präklusionsregel, wonach der Bieter sich auf bestimmte, ihm positiv bekannte Vergabefehler nicht mehr berufen darf, wenn er sie nicht so rechtzeitig gerügt hat, wie es ihm möglich gewesen wäre.“
Der Senat sieht bereits hierin so große rechtstechnische Unterschiede, dass eine Übertragbarkeit der beurteilten englischen/irischen Konstellationen ausgeschlossen ist. Genau auf dieses Risiko hatte der Verf. mit dem Begriff „Trugschluss“ im Vergabeblog-Beitrag vom 12.05. hingewiesen. Nicht alles, was gleich zu sein scheint, ist es dann später auch in der Wirklichkeit. Nicht ohne Grund wurde in dem Beitrag auch auf die Parallelität zu den Grundstücksverkäufen (Teatro Biacocca/Ahlhorn) verwiesen, wo gleichermaßen in fehlerhafter Weise die Besonderheiten der italienische Rechtslage nicht richtig beachtet wurden und eine schlichte Überinterpretation stattgefunden hat.
Schließlich verweist das OLG Dresden auf die bewusste gesetzgeberische Entscheidung, bei der Schaffung des § 107 Abs. 3 GWB im Jahre 1998 an die über 100-jährige Rechtsprechungstradition zu § 121 BGB anzuknüpfen. Schon vor der Inkraftsetzung des § 107 Abs. 3 GWB stand daher fest, dass es eine absolute Obergrenze von 14 Tagen für die Erfüllung des Merkmals der Unverzüglichkeit der Rüge geben würde, und dass die Rechtsprechung innerhalb dieses definierten Zeitraumes Leitlinien entwickeln wird, inwieweit sich dieser Zeitraum, in dem rechtswirksam gerügt werden kann, für bestimmte Fallgruppen verkürzt. Dabei hat sich gemäß dem OLG Dresden ein Mittelwert von einer Woche (7 Tagen) herausgebildet, der sich je nach Außergewöhnlichkeit der Umstände beim Bieter oder der Erkennbarkeit von Fehlern (nebst den erforderlichen Schlussfolgerungen) nach oben oder unten verschiebt.
In diesem Zusammenhang ist insbesondere von Bedeutung, dass § 107 Abs. 3 GWB den Nachprüfungsorganen gerade keinerlei „freies Ermessen“ einräumt, wie dies aber im angel-sächsischen Rechtskreis der Fall ist. Eben dieses „freie Ermessen“ gibt es im deutschen System des geschriebenen Rechts nicht. Hierzu muss vielmehr der Verweis auf die gesetzliche Bestimmung des § 121 BGB gewürdigt werden, die eine Regelung mit jahrzehntelang gefestigter Rechtstradition beinhaltet, welche das gesamte Zivilrecht prägt.
Siehe nur: Ahrens, in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB-Kommentar, 3. Aufl. 2008, Rdn. 3 zu § 121 BGB: „Die Anfechtung gem. § 121 I 1 muss unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern erfolgen. Diese Legaldefinition gilt für das bürgerliche Recht, §§ 111 S 2,149 S 1, 174 S 1,230 III, 318 II, 352, 353, 374 II, 384 II, 396 I, 410 1, 469 I, 536c I, 543 II 3, 625, 650 II, 663, 727 II, 777 I, 789, 960 II, 961, 965 I, 978 I, 1042, 1160 II, 1166, 1218 II, 1220 II, 1241, 1285 II, 17991, 1831, 1894, 1909 II, 1980 I, 2045, 2146 1, 2215 1, 2259 I, 2384, ebenso im Zweifel bei einer Verwendung in AGB (BGH NJW-RR 94, 1109; Hamm NJW-RR 04, 58) oder bei geschäftsähnlichen Handlungen (RGZ 75, 357) sowie in allen anderen Rechtsbereichen, §§ 377 I HGB, 92 I AktG, 107 III GWB (Ddorf NJW 00, 145),9 I 1 Hs 2 MuSchG (BAG DB 88, 2107), 216 II, 269 III 3 ZPO, 295 I Nr 3 InsO, 23 II VwVfG, 37b, 140 SGB III, 91 V SGB IX, 118 I SGB XII; 68b I StGB, auch im Tarifrecht (LAG Köln DB 83, 1771).“
Zu denken ist im Baubereich beispielsweise auch an die Pflicht des Auftragnehmers zur „unverzüglichen“ Anzeige von Behinderungen gegenüber dem Bauherrn (§ 6 Abs. 1 VOB/B), mit der Folge von Schadensersatzpflichtigkeit im Falle der Nichterfüllung.
Mit ihrer Definition der Anforderung „ohne schuldhaftes Zögern“ spiegelt die Bestimmung des § 121 BGB genau die Bedürfnisse des Vergaberechts wider.
Ahrens, in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB-Kommentar, 3. Aufl. 2008, Rdn. 4 zu § 121 BGB: „Unverzüglich verlangt keine sofortige, sondern eine unter den gegebenen Umstanden und bei Berücksichtigung der Interessen der Gegenseite alsbald mögliche und zumutbare Erklärung (RGZ 124, 118; BGH NJWRR 94, 1108. Der Anfechtungsberechtigte darf den Anfechtungsgrund prüfen und Rechtsrat einholen (Oldbg NJW 04, 168). Abzustellen ist auf die konkreten Verhältnisse des Einzelfalls (…)“.
Dass man angesichts dieser verfestigten Rechtslage, die nicht im Ansatz mit dem vom EuGH kritisierten „freien Ermessen“ etwas zu tun hat, nun teilweise versucht, mit der „Keule des Europarechts“ (um mit Marx zu sprechen) Rechtsunsicherheit und eine große Irritation bei vielen öffentlichen Auftraggebern zu schaffen, muss schon sehr verwundern.
Was sind die Schlussfolgerungen?
Der Dresdner Senat hat in seinem Beschluss darauf hingewiesen, dass diese seine Positionierung zu der Frage der Unverzüglichkeit letztlich nicht entscheidungserheblich gewesen ist. Dies war es gleichermaßen nicht in dem vom OLG Celle entschiedenen Fall (Beschluss vom 26.04.2010 – 13 Verg 4/10), in dem der dortige Senat – allerdings ganz vorsichtig in einem Nebensatz – zu der gegenteiligen Position neigt, dass in der Anforderung der „Unverzüglichkeit“ der Rüge eine Europarechtskonformität nicht gegeben sei.
Es wird nach alledem eine BGH-Entscheidung abzuwarten sein, für die eine Vorlage durch ein OLG erforderlich ist, das von einer entscheidungserheblichen Positionierung eines anderen OLG zu dieser Frage abweichend entscheidend will. Mit anderen Worten: Es bedarf eines OLG, das sich – für den Fall entscheidungserheblich – auf die Rechtskonformität der Unverzüglichkeitsanforderung festgelegt hat, und eines weiteren OLG, das sich – gleichfalls für den Fall entscheidungserheblich – abweichend positionieren möchte.
Bis dahin ist im Bund, in Sachsen und in denjenigen Bundesländern, in denen kein Votum des zuständigen Vergabesenates vorliegt, zu raten, sich der überzeugenderen Argumentation der VK Bund und des OLG Dresden anzuschließen. In den anderen Bundesländern, insbesondere in Niedersachsen, wird man sich vorerst auf die Gültigkeit der Unverzüglichkeitsanforderung nicht mehr einstellen können. Dann wird man eine zeitliche Grenze für die Zulässigkeit von Rügen von 14 Tagen unterstellen müssen – mit allen negativen Konsequenzen erheblicher Zeitverluste.
Mehr Informationen über den Autor Dr. Rainer Noch finden Sie im Autorenverzeichnis.
Dr. Rainer Noch
Der Autor, Dr. Rainer Noch, ist Rechtsanwalt bei Böck Oppler Hering, München. Er berät und vertritt insbesondere öffentliche Auftraggeber, aber auch Bieter und Verbände, in allen Fragen des Ausschreibungsrechts, speziell auch im Dienstleistungsbereich. Mehr Informationen finden Sie in unserem Autorenverzeichnis.
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