Seit der Vergaberechtsreform 2009 wird darüber diskutiert, ob dem Auftraggeber bei der Entscheidung über die Nachforderung von fehlenden Erklärungen und Nachweisen im Rahmen von VOL/A-Vergaben ein Ermessen zustehen soll. In seiner Entscheidung vom 20.09.2011 (Verg W 11/11) hat das OLG Brandenburg diese Frage nunmehr ausdrücklich bejaht: Nach Auffassung des Gerichts spricht der Wortlaut in § 19 Abs. 2 VOL/A-EG eindeutig für eine Ermessensentscheidung des öffentlichen Auftraggebers. Dass sich die VOL/A insoweit von den Regelungen der VOB/A unterscheidet, muss damit – ob gewollt oder nicht – hingenommen werden.
Sachverhalt
Gegenstand des zu entscheidenden Streitfalles war eine EU-weite Ausschreibung zur Beschaffung von Endoskopiegeräten für ein Krankenhaus. Der Auftraggeber forderte die Bieter dabei unter anderem auf, mit dem Angebot auch Angaben zur Vergütung ihrer Mitarbeiter einzureichen – entweder unter Nennung des einschlägigen Tarifvertrages oder des niedrigsten Stundenlohns. Der Antragsteller teilte in seinem Angebot jedoch lediglich mit, dass kein Tarifvertrag bestehe ohne weiter auf die Vergütung seiner Mitarbeiter einzugehen. Aus diesem Grund schloss der Auftraggeber das Angebot des Antragstellers im Laufe des Verfahrens wegen fehlender Erklärung zur Mitarbeitervergütung aus. Zuvor hatte der Auftraggeber entschieden, von der Möglichkeit, die fehlende Erklärung nachzufordern, keinen Gebrauch zu machen.
Der Antragsteller vertrat die Auffassung, dass der Auftraggeber verpflichtet war, im Rahmen seiner Nachforderungsmöglichkeiten aus § 19 Abs. 2 VOL/A-EG die Erklärung nachzufordern.
Entscheidung des OLG Brandenburg
Einer derartigen Auslegung des § 19 Abs. 2 VOL/A-EG erteilte das OLG Brandenburg in seinem Beschluss vom 20.09.2011 nun eine Absage. Nach Auffassung des OLG steht die Entscheidung, ob fehlende Erklärungen und Nachweise vom Bieter nachgefordert werden sollen, eindeutig im pflichtgemäßen Ermessen des Auftraggebers. Ein anderes Ergebnis könne auch nicht daraus hergeleitet werden, dass die VOB/A in diesem Falle eine Nachforderungspflicht des Auftraggebers vorsieht.
„Wie sich aus dem Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 1 VOL/A-EG ergibt, ist der Auftraggeber nicht verpflichtet fehlende Erklärungen oder Nachweise nachzufordern. Eine Verpflichtung hierzu ergibt sich auch nicht etwa aus dem Umstand, dass die entsprechende Regelung im Bereich der Bauaufträge den Auftraggeber zwingt, fehlende Erklärungen oder Nachweise nachzuverlangen, § 16 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A (…). Dem steht der klare Wortlaut des § 19 Abs. 2 Satz 1 VOL/A-EG entgegen.“
Solange der öffentliche Auftraggeber den Grundsatz zur Gleichbehandlung aller Bieter beachtet, steht es ihm daher frei, von der Nachforderungsmöglichkeit fehlender Erklärungen oder Nachweise Abstand zu nehmen und das betroffene Angebot stattdessen vom weiteren Wettbewerbsverfahren auszuschließen.
Restriktive Ausübung des Nachforderungsermessens
Über die klare Bestätigung eines Nachforderungsermessens hinaus lässt sich der Entscheidung entnehmen, dass das OLG für eine restriktive Handhabung der Ermächtigungsnorm aus § 19 Abs. 2 VOL/A-EG plädiert. So gibt das OLG zu Bedenken, dass jede Entscheidung, Erklärungen und Nachweise nachzufordern, eine Ungleichbehandlung der Bieter in sich birgt, die ihre Angebote bereits zu Angebotsfrist vollständig abgegeben haben:
„In einem solchen Fall steht die Nachforderungsmöglichkeit des § 19 Abs 2 VOL/A-EG in einem Spannungsverhältnis zum Gleichbehandlungsgebot. Dieses Gebot zwingt den Auftraggeber in einem solchen Fall, von der Nachforderungsmöglichkeit zurückhaltend Gebrauch zu machen.“
Sofern der der Auftraggeber die Vorlage bestimmter Nachweise oder Erklärungen in den Vergabeunterlagen als zwingend deklariert hat, soll ihm die Möglichkeit einer Nachforderung nach Auffassung des OLG sogar gänzlich verwehrt sein:
„Denn der Auftraggeber, der in den Verdingungsunterlagen mitteilt, dass fehlende Unterlagen oder Erklärungen zwingend mit dem Angebot einzureichen sind, hat sich in seinem Ermessen hinsichtlich der Nachforderbarkeit von fehlenden Erklärungen und Unterlagen insoweit gebunden, dass eine Nachforderung ausscheidet. Ein Bieter kann die Verdingungsunterlagen bei einer derartigen Sachlage nur dahingehend verstehen, dass fehlende Erklärungen und Unterlagen zwingend zum Angebotsausschluss führen.“
Fazit
Auch nach dieser Entscheidung kann die im Vergabeblog bereits an anderer Stelle ausgesprochene Warnung nur wiederholt werden (Beitrag vom 22.03.2011): Die mit der Vergaberechtsreform grundsätzlich eröffnete Nachforderungsmöglichkeit für fehlende Erklärungen und Nachweise sollte nicht dazu verleiten, auf eine Abgabe vollständiger Angebote weniger Sorgfalt zu verwenden. Einen Anspruch darauf, dass der Auftraggeber fehlende Unterlagen nachfordert, wird der Bieter im Regelfall nicht haben.
Die Autorin Julie Wiehler, LL.M., ist bei der Bitkom Servicegesellschaft mbH für den Bereich der Öffentlichen Ausschreibungen/Vergaberecht („Bitkom Consult“) zuständig. Sie ist zudem Partnerin der Kanzlei Frhr. v.d. Bussche Lehnert Niemann Wiehler und berät und unterstützt Unternehmen der ITK-Branche sowie die öffentliche Hand bei öffentlichen Ausschreibungen. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis.
Thema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren.
Julie Wiehler, LL.M.
Die Autorin Julie Wiehler, LL.M., ist Rechtsanwältin und Partnerin der Kanzlei Frhr. v.d. Bussche Lehnert Niemann Wiehler Rechtsanwälte & Notare. Sie berät und unterstützt Unternehmen und die öffentliche Hand bei öffentlichen Ausschreibungen sowie bei vergaberechtlichen Fragen in öffentlich geförderten Projekten.
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