Verteidigungs- oder sicherheitsrelevante Vergabeverfahren, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie 2009/81/EG, aber vor deren Umsetzung ins deutsche Recht begonnen wurden, sind europaweit auszuschreiben. Dabei ist das geltende Vergaberecht richtlinienkonform auszulegen (1. VK Bund, Beschluss vom 20.12.2012, VK 1-130/12).
Art. 346 AEUV; RL 2009/81/EG; § 131 Abs. 9 GWB; VSVgV; VOL/A 2009
Das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) veröffentlichte im April 2010 auf der Homepage der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) eine Vorankündigung zur geplanten Beschaffung von Körperschutzausstattungen für Kampfmittelbeseitigungskräfte. Diese Vorankündigung enthielt noch keine Angaben zu weiteren Veröffentlichungen oder Verfahrensschritten oder zu dem durchzuführenden Vergabeverfahren. Im Oktober 2011 machte das BAAINBw in einer weiteren Anzeige auf dem Portal der EDA Einzelheiten zu Beschaffungsgegenstand, Auftragswert, Vertragsdauer und dem Vergabeverfahren bekannt. Den Auftrag schrieb es nach dem 1. Abschnitt der VOL/A 2009 aus.
Ein unterlegener Bieter wehrte sich gegen die Zuschlagserteilung mit der Begründung, der Auftrag hätte in einem europaweiten Vergabeverfahren durchgeführt werden müssen. Nach erfolgloser Rüge stellte er einen Nachprüfungsantrag und bekam Recht!
Zeitpunkt des Verfahrensbeginns für Rechtswahl entscheidend
Dem Argument, bei Beginn des Vergabeverfahrens sei die Richtlinie 2009/81/EG noch nicht anwendbar gewesen, da die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen sei, folgte die 1. Vergabekammer des Bundes nicht. Denn für den Beginn des Vergabeverfahrens ist nach ständiger Rechtsprechung auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem der öffentliche Auftraggeber seinen Beschaffungsentschluss durch nach außen wahrnehmbare Maßnahmen konkretisiert (vgl. etwa OLG Düsseldorf, 01.08.2012, VII-Verg 10/12). Dies war zum Zeitpunkt der ersten Vorankündigung im April 2010 nicht der Fall. Eine Vorinformation erzeugt keine Rechtswirkungen. Zudem enthielt sie keine Einzelheiten zum Verfahren.
Die Veröffentlichung konkreter Einzelheiten zum Auftrag und damit der Beginn des Vergabeverfahrens erfolgte nach Auffassung der Vergabekammer aber mit der Bekanntmachung im Oktober 2011. Da die Vergabeverordnung für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit (VSVgV) erst zum 19.07.2012 in Kraft trat, war das Vergabeverfahren gemäß § 131 Abs. 9 GWB nach dem im Oktober 2011 geltenden Recht durchzuführen. Da der maßgebliche Schwellenwert überschritten wurde, hätte das BAAINBw den Auftrag daher nach dem 2. Abschnitt der VOL/A 2009 in einem europaweiten Vergabeverfahren ausschreiben müssen.
Ausnahmen vom neuen Vergaberecht eng auszulegen
Auch das Argument, der Auftrag habe überhaupt nicht ausgeschrieben werden müssen, da sich das BAAINBw auf Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV (ex. Art. 296 Abs. 1 lit. b) EGV) berufen durfte, ließ die Vergabekammer nicht gelten. Die Vorschrift lautet auszugsweise:
„Jeder Mitgliedstaat kann die Maßnahmen ergreifen, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen.“
Zwar sind die hier ausgeschriebenen Güter ausdrücklich in der Kriegswaffenliste vom 15.04.1958 aufgeführt, für die gemäß Art. 346 Abs. 2 AEUV die Ausnahme des Abs. 1 lit. b) gilt. Dies allein reicht jedoch nicht aus, um von einer Ausschreibung der Leistungen abzusehen.
Hierzu führt die Vergabekammer aus:
„Die Ag hat sich insoweit nur pauschal auf Art. 346 AEUV berufen, ohne bestimmte Sicherheitsinteressen im Einzelnen darzulegen. Demgegenüber hat sie ein transparentes, im Internet (EDA Plattform) bekannt gegebenes förmliches Verhandlungsverfahren durchgeführt und dabei die Beteiligung von mindestens elf internationalen Unternehmen zugelassen, denen die vollständigen Vergabeunterlagen übermittelt wurden. Vor diesem Hintergrund ist schon nicht erkennbar, inwieweit trotz der bereits im Rahmen des Vergabeverfahrens praktizierten Transparenz wesentliche Sicherheitsinteressen i. S. d. Art. 346 AEUV zu wahren waren. Insbesondere ist auch nicht erkennbar, inwieweit gerade durch die Durchführung eines vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahrens nach dem Vierten Teil des GWB wesentliche Sicherheitsinteressen der Ag tangiert werden.“
Zudem verweist die Vergabekammer auf Sinn und Zweck der Richtlinie 2009/81/EG, wonach europaweite Vergabeverfahren künftig auch im Verteidigungs- und Sicherheitssektor die Regel sind (vgl. Erwägungsgrund 17 der Richtlinie 2009/81/EG). Hierzu heißt es in dem Beschluss weiter:
„Ausnahmen sind hiernach im Interesse eines wettbewerbsoffenen europäischen Markts für Verteidigungsgüter nur unter noch engeren Voraussetzungen als bisher zulässig. Auch hierfür hätte die Ag mehr vortragen müssen als sich nur pauschal auf die Vorschrift des Art. 346 AEUV zu berufen. Außerdem spricht viel dafür, dass es sich vorliegend um ein sog. „Dual-use-Gut“ handelt, für das die Ausnahmeregelung des Art. 346 AEUV gemäß dessen Abs. 1 lit. b.) 2. Halbsatz von vornherein nicht eingreift.“
Schließlich weist die Vergabekammer darauf hin, dass die Richtlinie 2009/81/EG, auch wenn sie noch nicht umgesetzt ist, seit Ablauf der Umsetzung am 21.08.2011 bei der Auslegung des nationalen Vergaberechts zu berücksichtigen ist (vgl. zur unmittelbaren Geltung der Richtlinie 2009/81/EG auch Soudry, Vergabeblog vom 22.08.2011).
Fazit
Die Entscheidung hat Bedeutung für alle zwischen Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie 2009/81/EG und Inkrafttreten des neuen nationalen Vergaberechts begonnenen Vergabeverfahren.
Die Vergabekammer des Bundes unterstreicht mit dem Beschluss in erfreulicher Klarheit den Willen des europäischen Gesetzgebers, durch das neue Vergaberecht für Sicherheits- und Verteidigungsgüter einen transparenten und diskriminierungsfreien Wettbewerb zur Regel zu machen. Die häufig praktizierte allgemeine Berufung auf Ausnahmetatbestände, hier Art. 346 AEUV, genügt nicht mehr, um von einer Ausschreibung abzusehen. Es ist zu vermuten, dass höhere Gerichte dieses Verständnis bestätigen werden.
Herr Dr. Daniel Soudry ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner der Sozietät SOUDRY & SOUDRY Rechtsanwälte (Berlin). Herr Soudry berät bundesweit öffentliche Auftraggeber und Unternehmen bei Ausschreibungen, in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren und im Öffentlichen Wirtschaftsrecht. Darüber hinaus publiziert er regelmäßig in wissenschaftlichen Fachmedien zu vergaberechtlichen Themen und tritt als Referent in Fachseminaren auf.
0 Kommentare