Als letzten „Rettungsanker“ für den Ausschluss eines Angebots bemühen Auftraggeber zuweilen den Ausschlussgrund des ungewöhnlich niedrigen Angebots. Im Ringen um objektive Maßstäbe kursieren in Rechtsprechung und Literatur seit Langem verschiedene Prozentwerte. Das OLG Karlsruhe ist dabei sehr weit gegangen und hat an diese nun offenbar ein vergaberechtliches Aufklärungsverbot geknüpft.
§ 19 Abs. 6 EG VOL/A
Leitsätze (nicht amtlich)
Sachverhalt
In einem Vergabeverfahren für Pforten- und Schließdienstleistungen schloss der Auftraggeber den Bestbieter wegen eines ungewöhnlich niedrigen Preises nach unergiebiger Aufklärung aus.
Er stützte sich dabei auf verschiedene Argumente. Zum einen lag der Angebotspreis 7,6 % unterhalb der Auftragswertschätzung, welche von einem bestimmten Stundenlohn zuzüglich eines Kalkulationsaufschlags von 70% ausging. Dieser Prozentsatz war einem Schreiben der Bundesfinanzdirektion West in Bezug auf den Lohn für das Reinigungsgewerbe entnommen. Zum anderen waren die Positionen Tarifurlaub, Lohnfortzahlung, Mitarbeiterentwicklung/Schulung/Einweisung und allgemeine Verwaltung aus Sicht des Auftraggebers um 10% zu niedrig kalkuliert. Er errechnete unter Berücksichtigung der weiteren Positionen und eines fiktiven Gewinns von 2,23 % ein Defizit für den Auftrag von mehr als 7,5%. Diesen Ausschluss griff der Bestbieter in einem Nachprüfungsverfahren an.
Die Entscheidung
Mit Erfolg! Das OLG Karlsruhe entschied, dass der Auftraggeber auf Basis der festgestellten und feststellbaren Kriterien nicht von einem ungewöhnlich niedrigen Preis ausgehen durfte, die Einordnung als ungewöhnlich niedriges Angebot war beurteilungsfehlerhaft zustande gekommen. Auf die Qualität und Plausibilität der Auskünfte des Bieters im Rahmen der Aufklärung kam es daher nicht mehr an. Auch ob das Angebot nicht möglicherweise tatsächlich wegen eines Missverhältnisses zwischen Preis und Leistung auszuschließen gewesen wäre, war aus Sicht des Gerichts nicht mehr zu entscheiden. Der Auftraggeber musste daher die Angebotswertung unter Einschluss des ausgeschlossenen Bieters wiederholen.
Aufgreifschwelle bei 10-20% Abstand zum nächsten Angebot
Das OLG Karlsruhe benannte unter Verweis auf die bisherige Rechtsprechung als Schwelle für einen ungewöhnlich niedrigen Preis einen Abstand zum nächst höheren Gebot von mindestens 10 bis 20 %. Dabei kam es nur auf den Angebotsendpreis an. Dieser lag im entschiedenen Fall nur rund 3 % niedriger als derjenige des nächst höheren Angebots. Zudem lag auch der durchschnittliche Angebotspreis (einschließlich aller als unauskömmlich behandelten Angebote) nur rund 9% höher. Insoweit sah der Senat die Aufgreifschwelle von wohl mindestens 10% als nicht erreicht an. Schon das Aufklärungsverlangen war darum vergaberechtswidrig und der Bestbieter dadurch in seinen Rechten verletzt.
Übertragbarkeit der Maßstäbe im Reinigungsgewerbe nicht dargelegt
Soweit der Auftraggeber den Angebotspreis mit seiner eigenen Auftragswertschätzung verglichen hatte, war zudem nicht hinreichend dargelegt, inwieweit die für das Reinigungsgewerbe geltenden Maßstäbe auf die hier vorliegenden Leistungen übertragbar waren. Deswegen war der dort entnommene Zuschlag von 70 % auf den produktiven Lohn nicht plausibel hergeleitet. Der Senat stellte die Anwendbarkeit insbesondere deswegen in Frage, weil insgesamt fünf und damit die Hälfte der abgegebenen Angebote unterhalb dieses Schätzwerts lagen. Ergänzend monierte das Gericht, dass der Auftraggeber lediglich seine eigene Kalkulation gegen die des Bieters gesetzt hatte, ohne abweichende Kalkulationsgrundlagen des Bieters etwa im Bereich der Krankheitstage zu berücksichtigen oder als unzutreffend zu widerlegen. Insgesamt fehlte es damit aus Sicht des OLG Karlsruhe an einer feststehenden, tatsächlich gesicherten Tatsachengrundlage, welche Zweifel des Auftraggebers an dem Preisleistungsverhältnis plausibel begründen konnte.
Rechtliche Würdigung
Einordnung der Entscheidung: Bedeutung fester Prozentsätze für den Beurteilungsspielraum
Soweit der Senat an die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 19 Abs. 6 EG VOL/A gleichermaßen eine Aufklärungspflicht und ein Aufklärungsrecht knüpft, ist dies nicht zu beanstanden. Es ist auch konsequent, ein Aufklärungsverlangen außerhalb der tatbestandlichen Voraussetzungen als Rechtsverletzung gemäß § 97 Abs. 7 GWB einzuordnen.
Problematisch wird es jedoch, wenn konkrete Prozentsätze dafür ausgeworfen werden, ab wann der Auftraggeber ein Angebot als ungewöhnlich niedrig anzusehen hat und wann nicht.
Der Tatbestand des § 19 Abs. 6 EG VOL/A sieht vor, dass der Auftraggeber den Eindruck eines ungewöhnlich niedrigen Angebots hat. Dies setzt anerkanntermaßen einen Beurteilungsspielraum voraus, der bei korrekter Ausübung eine Einzelfallbetrachtung erfordert. Dies steht festen Prozentsätzen, die keine Rücksicht auf den jeweils betroffenen Markt oder den Standardisierungsgrad der konkret ausgeschriebenen Leistung nehmen, gerade entgegen (vgl. auch die insoweit zutreffenden Anwendungshinweise und Erläuterungen zum Gesetz über die Sicherung von Tariftreue und Sozialstandards sowie fairen Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (Tariftreue- und Vergabegesetz Schleswig Holstein TTG, des Wirtschaftsministeriums des Landes Schleswig-Holstein vom 01.04.2014 zu § 10). Insoweit dürften auch landesrechtliche Regelungen mit festen Prozentgrenzen kritisch zu sehen sein (vgl. z.B. § 5 Abs. 1 TVG Nds in Bezug auf die Aufklärungspflicht ab 10% Preisabstand zum nächst höheren Angebot für Bauleistungen). Auch die Festlegung auf eine Bandbreite von 10 bis 20% wird diesem Beurteilungsspielraum nicht gerecht von dem inneren logischen Widerspruch, eine Mindestschwelle mit einer Bandbreite zu verbinden, einmal abgesehen.
Vergleich mit der bisherigen Rechtsprechung
Ein starres Aufklärungsverbot unterhalb von 10% Preisabstand lässt sich im Übrigen so auch nicht aus der Rechtsprechung ableiten. Das OLG Brandenburg hat beispielsweise auch schon einen Abstand von nahezu 10 % zum nächsthöheren Angebot als ausreichend angesehen, um eine Aufklärungspflicht zu begründen (OLG Brandenburg, Beschluss vom 22.03.2011, Az.: Verg W 18/10). Ähnliches gilt umgekehrt in Bezug auf eine Aufklärungspflicht oberhalb einer Aufgreifschwelle von 10%: das OLG Celle sah bei einem Abstand von rund 13% zum nächsthöheren Gebot gerade kein Indiz für ein unangemessen niedriges Angebot. Bei VOL-Leistungen sah es eine solche erst ab 20% Preisabstand, die deutlich unterschritten wurde (OLG Celle, Beschluss vom 17.11.2011, Az.:13 Verg 6/11). Richtiger dürfte es daher sein, entsprechende prozentuale Schwellen zwar als Indiz zu sehen, jedoch an diese weder starre Aufklärungsrechte noch pflichten zu knüpfen, sondern Raum für die Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Marktes zu lassen (vgl. Horn in: Müller-Wrede, VOL/A, 2014, § 19 Rn. 208).
Der Ausschluss eines Unterkostenangebots über den Weg der Auskömmlichkeitsprüfung bleibt für Auftraggeber riskant und schwer rechtssicher durchzuführen. Auch ob und in welchem Umfang er sich das Leben hier durch entsprechende Gestaltungen vereinfachen kann, ist zumindest zweifelhaft (bejahend: Horn in: Müller-Wrede, VOL/A, 2014, § 19 EG Rn. 210; ablehnend in Bezug auf eine Aufgreifschwelle von 15% im Vergleich zum Angebotsdurchschnitt: VK Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.08.2014, Az.: 1 VK 33/14). Wer Dumping-Angebote vermeiden will, dürfte daher besser beraten sein, Angaben zur Plausibilisierung der Angebote abzufragen, die bereits in der ersten Wertungsstufe zu prüfen sind (vgl. Beitrag der Autorin: OLG Düsseldorf: Härtere Zeiten für Dumping-Angebote? (Beschluss v. 08.09.2011 Verg 80/11), Vergabeblog.de vom 6. Dezember 2011, Nr. 11489)
Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.
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