Die vergaberechtliche Rechtsprechung entwickelt zunehmend strengere Anforderungen an den Ausschluss unauskömmlicher Angebote. Das OLG München bildet hier keine Ausnahme.
Die Frage, ab wann ein Auftraggeber ein ungewöhnlich niedriges Angebot ausschließen darf, hat viele Facetten. Die Rechtsprechung tendiert aktuell dahin, die Aufgreifschwelle für die Aufklärung von Unterkostenangeboten eher bei 20% als bei 10% anzusiedeln. Eine Ausnahme bilden dagegen solche Unterkostenangebote, die zugleich befürchten lassen, dass ein gesetzlicher Mindestlohn nicht eingehalten werden kann. Hier kommt ein Ausschluss unabhängig vom Preisabstand zum nächsthöheren Angebot in Betracht.
§ 19 Abs. 6 EG VOL/A, § 19 Abs. 5 EG VOL/A
Sachverhalt
Anlass der Entscheidung war eine europaweite Ausschreibung von Reinigungsleistungen. Das Angebot des bestplatzierten Bieters wich nicht wesentlich von dem nächstplatzierten ab. Allerdings ergab sich aus dem Angebot, dass der Bieter einen Stundenverrechnungssatz von 14,76 Euro kalkuliert hatte. Der Auftraggeber hatte demgegenüber angenommen, dass erst ein Stundenverrechnungssatz von 15,30 Euro auskömmlich sein könne. Dieser Wert ergab sich aufgrund des gesetzlichen Mindestlohns von 9,00 Euro zzgl. eines Zuschlags von 70% für die weiteren lohngebundenen Kosten nach einer Vorgabe der Bundesfinanzdirektion West. Der Stundenverrechnungssatz des Bieters lag bei 64% über dem Mindestlohn. Der Auftraggeber schloss den Bieter zunächst ohne Aufklärung aus und verlor deshalb ein erstes Vergabenachprüfungsverfahren. Sodann bat er den Bieter um weitere Aufklärung und beauftragte sogar einen eigenen Gutachter, der zu dem Ergebnis kam, dass der Stundenverrechnungssatz von 14,76 Euro deutlich unter einem für diesen Objekttyp auskömmlichen Wert liege. Der Bieter argumentierte dagegen, die günstigen Stundenverrechnungssätze ergäben sich daraus, dass er eine außergewöhnlich niedrige Krankheitsquote habe, was deutliche Einsparungen bei den Lohnfortzahlungen bedeute. Daraufhin schloss der Auftraggeber den Bieter erneut vom Verfahren aus. Die Ausführungen zur niedrigen Krankheitsquote hielt er wohl nicht für glaubhaft. Der Bieter wehrte sich dagegen erneut mit einem Vergabenachprüfungsverfahren.
Die Entscheidung
Sowohl die Vergabekammer Nordbayern als auch der Vergabesenat des OLG München beurteilten den Ausschluss erneut als vergaberechtswidrig. Eine Aufklärung eines ungewöhnlich niedrigen Angebots nach § 19 Abs. 6 Satz 1 EG VOL/A komme erst bei einem Preisabstand von 20% zum nächsthöheren Angebot in Frage (sog. Aufgreifschwelle); dieser Abstand war hier nicht erreicht. Es komme dabei auch nur auf den Preisabstand des Gesamtpreises an, nicht auf den Preisabstand einzelner Positionen.
Ob ein Ausschluss vom Vergabeverfahren unabhängig davon möglich sei, dass die Aufgreifschwelle nicht erreicht ist, ließ das OLG München dahinstehen. Ein solcher Ausschluss könnte dann begründet sein, wenn die Unauskömmlichkeit eines Angebots zugleich dazu führt, dass der Bieter einen gesetzlichen Mindestlohn nicht einhalten kann. Der Auftraggeber konnte den Vergabesenat aber nicht ausreichend davon überzeugen, dass das betroffene Angebot hier derart unauskömmlich ist. Die Erklärung des Bieters, dass seine niedrige Krankenquote ihm kalkulatorische Vorteile verschaffe, konnte der Auftraggeber auch mithilfe eines Privatgutachtens nicht entkräften.
Rechtliche Würdigung
Die Frage, ab wann ein Auftraggeber ein ungewöhnlich niedriges Angebot ausschließen darf, hat viele Facetten.
Zum einen kommt ein Angebotsausschluss dann in Betracht, wenn der Preis in einem offenbarem Missverhältnis zur Leistung steht (§ 19 Abs. 6 EG VOL/A). Bestehen hierfür Anhaltspunkte, muss der Auftraggeber den Bieter zunächst um Aufklärung bitten. Wann eine solche Aufklärung angezeigt ist, wird in der Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt. Das OLG München hat sich für eine hohe Schwelle ab 20% Preisabstand zum nächsthöheren Angebot entschieden und geht wohl davon aus, dass unterhalb dieser Aufgriffsschwelle eine Aufklärung mit dem Ziel eines Ausschlusses nach § 19 Abs. 6 EG VOL/A unzulässig ist. Wie bereits in dem Beitrag auf Vergabeblog.de vom 9. Oktober 2014, Nr. 20267 von Frau Dr. Valeska Pfarr treffend dargestellt, ist die Anwendung von festen Schwellen insofern problematisch, als sie die Einbeziehung weiterer Umstände wie z.B. Besonderheiten des betroffenen Markts nicht zulässt, die aber ebenfalls eine gewichtige Bedeutung für den Einzelfall haben können.
Zum zweiten kommt ein Angebotsausschluss aber auch dann in Betracht, wenn das Angebot so kalkuliert ist, dass die Einhaltung eines gesetzlichen Mindestlohns gefährdet ist. Es spricht einiges dafür, dass es dabei nicht auf einen bestimmten Preisabstand zum nächsthöheren Angebot ankommen kann und der Auftraggeber bei Zweifeln per se zur Aufklärung berechtigt ist. Das OLG München lässt zwar offen, ob Fragen der Eignung auf diese Weise zu einem Aspekt der Preisbildung gemacht werden können. Das OLG Düsseldorf hat das indes bejaht und als weiteren Anwendungsfall von § 19 Abs. 6 EG VOL/A qualifiziert (Beschluss vom 31.10.2012 VII-Verg 17/12). Es kann m.E. im Ergebnis auch keinen Unterschied machen, ob man diesen Aspekt als Eignungsmangel im Sinne von § 19 Abs. 5 EG VOL/A qualifiziert oder als Unterfall des Unterkostenangebots. Beides kann zum Ausschluss führen. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wen die Darlegungs- und Beweislast trifft, wenn Zweifel bestehen. Das OLG München hat sich hierzu nicht explizit geäußert. Mittelbar lässt sich aber aus der Entscheidung ableiten, dass der Auftraggeber hier die Darlegungslast trägt. Er muss eine Prognoseentscheidung darüber treffen, ob hinreichend wahrscheinlich ist, dass der Bieter den Auftrag zu dem Preis nicht oder nur unter Verletzung gesetzlicher Bestimmungen erfüllen kann. Dafür steht ihm zwar ein Beurteilungsspielraum zu; er muss aber gleichwohl eine plausible und nachvollziehbare Entscheidung treffen. Wie sich an dem vorliegenden Fall zeigt, gelingt das trotz Heranziehung eines Gutachters nicht immer zur Überzeugung des Gerichts. Kommt der Auftraggeber jedoch methodisch korrekt zu dem Ergebnis, dass eine Verletzung des gesetzlichen Mindestlohns wahrscheinlich ist, darf er den Zuschlag auf dieses Angebot nicht erteilen.
Der Unterschied zu der ersten Fallgruppe (Unterkostenangebot, jedoch ohne Gefährdung eines Mindestlohns) besteht darin, dass der Auftraggeber auch unauskömmliche Angebote bezuschlagen darf. Er muss jedoch wiederum zuvor im Wege einer Prognose feststellen, dass der Bieter trotz Unauskömmlichkeit eine ordnungsgemäße Leistungserbringung erwarten lässt und er das Unterkostenangebot nicht aus Marktverdrängungsabsicht abgegeben hat. Dafür kann es viele Gründe geben, die ein Bieter im Rahmen der Aufklärung angibt, z.B. die Sicherstellung einer gewissen Grundauslastung aus Kostengründen (besser einen Unterkostenauftrag als völligen Leerstand) oder den Abbau von Lagermaterial zur Reduzierung der Vorhaltekosten.
Praxistipp
Die Rechtsprechung tendiert aktuell dahin, die Aufgreifschwelle für die Aufklärung von Unterkostenangeboten eher bei 20% als bei 10% anzusiedeln. Da konkurrierende Bieter nach der überwiegenden Auffassung die unterlassene Aufklärung von Unterkostenangeboten nicht mit Erfolg rügen können (Ausnahme: es liegt zugleich eine Marktverdrängungsabsicht vor), ist Auftraggebern eher zu empfehlen, eine hohe Schwelle von 20% anzusetzen, als bei Anwendung einer 10% Schwelle das Risiko zu übernehmen, im zu erwartenden Nachprüfungsverfahren zu unterliegen.
Dr. Michael Sitsen ist Rechtsanwalt bei Orth Kluth Rechtsanwälte in Düsseldorf und Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Er berät und begleitet seit vielen Jahren Auftraggeber und Bieter bei Ausschreibungen aller Art. Neben dem Vergaberecht gehört auch das Beihilfenrecht zu seinen Beratungsschwerpunkten. Er hält Schulungen zum Vergaberecht, u.a. für den Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME), und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen. Vor seiner anwaltlichen Tätigkeit war er mehrere Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter des bekannten Vergaberechtlers Prof. Dr. Jost Pietzcker in Bonn.
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