Das Leistungsbestimmungsrecht kann vor der Vergabe im Wege der Markterkundung eine Produktvorgabe (auch ohne den Zusatz „oder gleichwertig“) rechtfertigen.
Kann ein öffentlicher Auftraggeber unter Inanspruchnahme seines Leistungsbestimmungsrechts ein Markterkundungsverfahren durchführen und als dessen Ergebnis eine EU-weite Produktvorgabe rechtfertigen? Ja. Dies hat die VK Bund unmissverständlich entschieden und damit dem öffentlichen Auftraggeber eine weitere Verfahrensvariante ermöglicht.
§ 7 Abs. 11 SektVO, Art. 58 und Art. 60 Abs. 4 S. 1 Richtlinie 2014/25/EU
Sachverhalt
Eine Sektorenauftraggeberin (Ag“), die von dem Verfasser in dem vorliegenden Verfahren vertreten worden ist, schreibt die Vergabe einer Standardsoftware mittels Produktvorgabe europaweit im offenen Verfahren aus. Im Vorfeld der Vergabe hatte die Ag mehrere hausinterne Workshops und Gespräche mit unterschiedlichen Softwareunternehmen zur Ermittlung der Anforderungen an die in Rede stehende Softwarelösung geführt. Sodann führte die Ag über ihre eigene Homepage ein Markterkundungsverfahren in Gestalt einer Marktanfrage durch. Als Grundlage der Marktanfrage verwendete sie einen Fragebogen, aus dem sich 14 Mindestanforderungen ergaben, die vollständig durch das [zukünftig zu beschaffende] Kaufprodukt erfüllt sein müssen.
An der Marktanfrage beteiligte sich eine Vielzahl von Unternehmen. Im Ergebnis dieser Marktanfrage kam die Ag nach Auswertung der eingereichten Fragebögen und der Durchführung praktischer Tests zu dem Schluss, dass nur ein Produkt, nämlich die vorgegebene Standardsoftware, alle ihre Anforderungen erfüllt. Sie schrieb daher europaweit die Beschaffung dieser konkreten Software aus. Dagegen wandte sich mittels Rüge und späterem Nachprüfungsantrag die Antragstellerin (ASt“) und machte unter anderem geltend, dass die Ag gegen das vergaberechtliche Gebot der Produktneutralität verstoßen habe.
Die Entscheidung
Die Vergabekammer weist den Nachprüfungsantrag als „jedenfalls unbegründet“ zurück. Da es sich vorliegend um die Vergabe eines Sektorenauftraggebers handelte und die Entscheidung daher auf der Grundlage der Sektorenverordnung (SektVO) erging, stellte die Vergabekammer zunächst zu § 7 Abs. 11 SektVO fest, dass die Vorschrift entgegen ihrem missverständlichen Wortlaut richtlinienkonform so auszulegen ist, dass ein öffentlicher Auftraggeber in seinen technischen Anforderungen nicht nur dann auf bestimmte Produkte verweisen darf, wenn der Auftragsgegenstand anderenfalls nicht hinreichend genau und allgemein verständlich beschrieben werden kann, sondern dass er auf den Gleichwertigkeitszusatz auch dann vollständig verzichten darf, wenn die Ausschreibung eines ganz bestimmten Produktes durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist (siehe unter anderem Art. 60 Abs. 4 S. 1 Richtlinie 2014/25/EU und OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9. Januar 2013 – Az. Verg 33/12).
Diese Klarstellung ist begrüßenswert, da die Nachprüfungsinstanzen teilweise vertreten, dass eine Produktvorgabe zwingend den Zusatz oder gleichwertig enthalten muss (in diesem Sinne z.B. VK Nordbayern, Beschl. v. 24. September 2014 – Az. 21.VK-3194-26/14 zu § 8 EG Abs. 7 VOL/A und VK Sachsen, Beschl. v. 19. April 2011 – Az. 1/SVK/010-11 zu § 7 Abs. 8 VOB/A).
Sodann betont die Vergabekammer den weiten, durch die Rechtsprechung des OLG Düsseldorf in den letzten Jahren geprägten Grundsatz des Leistungsbestimmungsrechts des öffentlichen Auftraggebers. „Denn das Vergaberecht regelt nicht, was der öffentliche Auftraggeber beschafft, sondern nur die Art und Weise der Beschaffung; auch für einen öffentlichen Auftraggeber gilt grundsätzlich die Vertragsfreiheit„. Des Weiteren betont die Vergabekammer unter Hinweis auf die Rechtsprechung des OLG Düsseldorf:
“Die vergaberechtlichen Grenzen sind nur dann überschritten, wenn die Bestimmung des Beschaffungsgegenstands nicht durch den Auftragsgegenstand sachlich gerechtfertigt ist, keine nachvollziehbaren objektiven und auftragsbezogenen Gründe vom Auftraggeber angegeben worden sind und die Bestimmung nicht willkürfrei erfolgte, wenn solche Gründe tatsächlich nicht vorhanden sind oder wenn die Bestimmung andere Wirtschafteilnehmer diskriminiert.”
In dem zu entscheidenden Fall, erachtet die Vergabekammer diese Grenzen von der Ag als eingehalten. Denn wenn ein Auftraggeber objektive und auftragsbezogene Gründe für eine Produktvorgabe angibt und diese wie vorliegend tatsächlich vorliegen, hat ein Bieter gerade keinen Anspruch darauf, einem öffentlichen Auftraggeber eine andere Leistung mit anderen Beschaffenheitsmerkmalen und Eigenschaften anzudienen (vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17. Februar 2010 – Az. Verg 42/09 und v. 1. August 2012 – Az. Verg 10/12).
Schließlich hat die Vergabekammer keine Bedenken bezüglich des Verfahrens zur Bestimmung der Produktvorgabe:
Zum einen ist die Festlegung des Beschaffungsgegenstandes durch die Ag deshalb nicht zu beanstanden, weil vor der Ausschreibung zunächst Gespräche mit mehreren Softwareunternehmen sowie eine Marktanfrage stattgefunden haben. Die Durchführung eines Markterkundungsverfahrens zur Ermittlung eines bestimmten Produktes, welches Gegenstand einer späteren europaweiten Produktvorgabe sein kann, ist nicht zu beanstanden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein öffentlicher Auftraggeber den Markt in Bezug auf die Umsetzbarkeit seines Beschaffungsbedarfs zunächst eruiert. Im Gegenteil könnte eine ohne vorher erforderliche Markterkundung erfolgte Ausschreibung mangels Ausschreibungsreife sogar vergaberechtswidrig sein (unter Hinweis auf die Entscheidung des OLG Celle, Beschl. v. 22. Mai 2008 – Az. 13 Verg 1/08). Zum anderen lässt auch die neue EU-Sektorenrichtlinie solche vorherigen Marktkonsultationen zukünftig nach Art. 58 Richtlinie 2014/25/EU zu. Die aus einer zulässigen Bestimmung des Beschaffungsbedarfs resultierende Einengung des Wettbewerbs ist von den übrigen Anbietern deshalb grundsätzlich hinzunehmen (so auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17. Februar 2010 – Az. VII Verg 42/09).
Rechtliche Würdigung
Nach der Entscheidung der Vergabekammer des Bundes steht fest, dass ein öffentlicher Auftraggeber ein Markterkundungsverfahren vor Durchführung des eigentlichen EU-weiten Vergabeverfahrens durchführen kann (und ggf. sogar muss), um eine etwaige Produktvorgabe zu rechtfertigen. Dies ist schon deshalb gut vertretbar, weil die Einbindung von Markterkundungselementen in die Vergabe rechtlich ausgeschlossen und unzulässig ist (siehe VK Düsseldorf, Beschl. v. 4. August 2000 Az. VK-14/2000-L und VK Lüneburg, Beschl. v. 29. April 2005 Az. VgK-19/2005). Führt dieses Markterkundungsverfahren dann tatsächlich zu dem Ergebnis, dass für die nachgefragte Leistung nur ein Produkt in Betracht kommt, kann der Auftraggeber dieses Produkt auch im Sektorenbereich ohne den Zusatz oder gleichwertig ausschreiben. Dieses Vorgehen ist von dem Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers gedeckt und erweitert damit den Spielraum des öffentlichen Auftraggebers ein weiteres Mal.
Praxistipp
Ungeachtet der Möglichkeit, ein Produkt im Vorfeld des Vergabeverfahrens mittels einer Markterkundung ermitteln zu können, ist bei der Durchführung eines solchen Markterkundungsverfahrens zu beachten, dass es den vergaberechtlichen Grundprinzipien des Wettbewerbs, der Gleichbehandlung und der Transparenz genügt und vor allem auf eindeutigen und im Vorfeld transparent bekannt gemachten Verfahrensregeln aufbaut. Ein ordnungsgemäßes“ Markterkundungsverfahrens setzt insofern voraus, dass die wesentlichen Verfahrensschritte und -regeln aus dem (sich anschließenden) Vergabeverfahren in einem solchen Verfahren ebenfalls berücksichtigt und in transparenter Art und Weise umgesetzt werden.
Der Autor Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG, ist Fachanwalt für Vergaberecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Wirtschaftskanzlei LEXTON Rechtsanwälte in Berlin. Er berät seit über 20 Jahren öffentliche Auftraggeber und Bieterunternehmen umfassend bei allen vergabe-, zuwendungs-, haushalts- und preisrechtlichen Fragestellungen. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.
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