Ein als Ergebnis einer Ausschreibung rechtswirksam abgeschlossener Vertrag kann vom unterlegenen Bieter nicht – auch nicht über „die Hintertür“ einer (angeblich) unzulässigen wesentlichen De-facto-Vertragsänderung – während der Vertragsausführung vergaberechtlich noch angegriffen werden, selbst wenn der bezuschlagte Auftragnehmer ggf. vertragliche Pflichten verletzt hat.
GWB a.F. 101b Abs. 2 [GWB n.F. § 134 Abs. 2]
Leitsatz
- Eine unzulässige De-facto-Vergabe kann auch im Falle von Vertragsänderungen nur innerhalb von sechs Monaten nach Vertragsabschluss geltend gemacht werden. Auf den Zeitpunkt der Änderung kann für den Fristbeginn nur dann abgestellt werden, wenn die Änderung isoliert angegriffen werden kann.
- Ein unterlegener Bieter kann im Rahmen eines Vergabenachprüfungsverfahrens nicht verlangen, dass der Auftraggeber im Rahmen seines Vertragsverhältnisses mit dem bezuschlagten Bieter von etwaigen Leistungsstörungsrechten Gebrauch macht.
Sachverhalt
Der Auftraggeber hatte im Jahr 2014 IT-Dienstleistungen („Nutzung, Migration und Pflege eines online-Rechtsinformationssystems für das Land Hessen“) europaweit ausgeschrieben. Die Antragstellerin war der bisherige Dienstleister für die Datenpflege und hatte sich an der Ausschreibung des Folgeauftrags beteiligt. Der Zuschlag war jedoch der Beigeladenen „als Bestbieter“ erteilt worden. Diese Vergabeentscheidung zugunsten des Wettbewerbers war von der Antragstellerin vergaberechtlich nicht angegriffen worden.
Im Anschluss an die Ausschreibung kam es zu umfangreicher Korrespondenz zwischen allen Beteiligten, um die Migration der bislang von der Antragstellerin gepflegten Daten auf das System der Beigeladenen zu bewerkstelligen. Die vorgesehene Zwei-Monats-Frist zur Datenmigration konnte nicht eingehalten werden, wobei die Gründe für die Verzögerung zwischen den Beteiligten streitig sind.
Die Antragstellerin rügte im Juli 2015 eine bis dahin nach ihrer Ansicht erfolgte dreifache Verlängerung der vertraglichen Ausführungsfrist als eine wesentliche Vertragsänderung, die eine vergaberechtlich unzulässige De-facto-Vergabe darstelle und verlangte Abhilfe dergestalt, dass die Ausschreibung „Nutzung, Migration und Pflege eines online-Rechtsinformationssystems für das Land Hessen“ aus dem Jahr 2014 wiederholt werde. Da der Rüge nicht abgeholfen wurde, beantragte die Antragstellerin im August 2015 die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens.
Die Entscheidung
Das OLG Frankfurt wies – wie bereits die 1. Vergabekammer des Landes Hessen als Vorinstanz, B. v. 18.11.2015 – AZ: 69 d VK 42/2015 – den Nachprüfungsantrag (mit mehreren Anträgen) teilweise bereits als unzulässig, jedenfalls aber als unbegründet zurück und begründete dies im Wesentlichen damit, dass die Antragstellerin mit ihren Anträgen nicht isoliert die von ihr behauptete Vertragsänderung angreife, sondern den zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen bestehenden Vertrag insgesamt. Die Antragstellerin halte den bestehenden Vertrag für unwirksam und begehre die Neuausschreibung der gesamten in dem Vertrag geregelten Dienstleistungen. Der bestehende Vertrag sei aber durch Zuschlagserteilung im Jahr 2014 zustande gekommen. Ein wirksam erteilter Zuschlag kann im Nachprüfungsverfahren nicht mehr aufgehoben werden (§ 114 Abs. 2 Satz 1 GWB a.F. [§ 168 Abs. 2 Satz 1 GWB n.F.]
Soweit sich die Antragstellerin auf eine unzulässige De-facto-Vergabe berufe, sei der Nachprüfungsantrag nach § 101b Abs. 2 Satz 1 GWB a.F. [GWB n.F. § 134 Abs. 2] verfristet, weil er nicht innerhalb von sechs Monaten nach Vertragsschluss geltend gemacht worden sei. Auch wenn der ursprüngliche Vertrag durch nachträgliche Änderungen so verändert worden wäre, dass eine Neuausschreibung erforderlich geworden wäre, könne dieser ursprüngliche Vertrag nach Ablauf der Sechs-Monats-Frist nicht mehr als von Anfang an und damit vollumfänglich rückwirkend als unwirksam angesehen werden.
Ein solcher Vertrag könne vor Ablauf der Vertragslaufzeit wirksam nur von den Vertragsparteien beendet werden (vgl. VK Bund, B. v. 12.11.2012, VK 1 – 109/12 – juris unter Rdnr. 41). Der Antragsgegner sei auch nicht zur außerordentlichen Kündigung der Verträge verpflichtet, da keine wesentliche Vertragsänderung vorliege. Die bei der Migration der Daten aufgetretenen Probleme in der Vertragsausführung seien durch das zivilrechtliche Leistungsstörungsrecht geregelt. Ob und wie der Auftraggeber im Rahmen des Vertrags von seinen Rechten Gebrauch mache, unterliege nicht dem Vergaberecht. Der Antragstellerin stehe kein Recht zu, den Antragsgegner zur Durchsetzung von Gewährleistungsansprüchen zu zwingen.
Etwas anderes gelte nur im Falle quantitativer Vertragsänderungen, bei denen sich die Feststellung der Unwirksamkeit auf den zusätzlichen Auftrag beschränken (vgl. VK Bund, B. v. 2.9.2013, VK 2 – 74/13). Diese Voraussetzungen lagen – so das OLG Frankfurt – im vorliegenden Fall aber nicht vor.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung des OLG Frankfurt zeigt die Grenze zwischen Vergaberecht (als dem Verfahrensrecht zum Abschluss eines Vertrags) und Zivilrecht (das in der Phase der Vertragsausführung ggf. relevant wird) zutreffend auf.
Aus Sicht der Antragstellerin als bisherigem Auftragnehmer mag es zwar misslich sein, einen Folgeauftrag an einen Wettbewerber zu verlieren, der ggf. erst einmal „große Mühe“ hat, den neu gewonnenen Auftrag vertragsgemäß zu erfüllen. Der als Ergebnis einer Ausschreibung rechtswirksam abgeschlossene Vertrag kann jedoch nicht – quasi über „die Hintertür“ einer (angeblich) unzulässigen wesentlichen (De-facto)-Vertragsänderung – während der Vertragsausführung von dem in der Ausschreibung unterlegenen Bieter vergaberechtlich noch angegriffen werden.
Möglicherweise – im entschiedenen Fall blieb dies offen – hatte die Beigeladene in der Vertragsausführung vertragliche Pflichten verletzt und zivilrechtliche Ansprüche des Auftraggebers begründet. Hierzu stellte das OLG Frankfurt indes zurecht fest, dass der Antragstellerin kein (vergaberechtliches) Recht zusteht, den Auftraggeber zur Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen, u.a. Gewährleistungsansprüchen, zu zwingen. Ob und wie ein Antragsgegner im Rahmen der Vertragsausführung von seinen zivilrechtlichen Rechten Gebrauch macht, unterliegt grundsätzlich nicht dem Vergaberecht.
Praxistipp
Die Antragstellerin hätte ggf. bereits die Zuschlagserteilung an ihren Wettbewerber bei der Ausschreibung des Folgeauftrags vergaberechtlich angreifen können/müssen, um die Beauftragung des Wettbewerbers zu verhindern. Während der Vertragsausführung hat der unterlegene Bieter keine Möglichkeit mehr, den Vertrag „anzugreifen“. Auch im Falle einer wesentlichen Vertragsänderung (vgl. § 132 GWB n.F.) kann grundsätzlich nur diese und nicht der Ausgangsvertrag vergaberechtlich angegriffen werden.
Dr. Beatrice Fabry
Die Autorin Dr. Beatrice Fabry ist Rechtsanwältin der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie berät seit vielen Jahren die öffentliche Hand und deren Unternehmen umfassend in allen Organisationsfragen sowie bei der Konzeption / Durchführung von Vergabeverfahren und Investorenwettbewerben.
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