Der Bundesgerichtshof hat sich in einer aktuellen Entscheidung zur Reichweite des Bieterschutzes bei ungewöhnlich niedrigen Angeboten geäußert. Nach (weitgehend) übereinstimmender Rechtsprechung hatten Bieter bislang nur unter sehr engen und schwer nachzuweisenden Ausnahmetatbeständen die Möglichkeit, gegen die Bezuschlagung von ungewöhnlich niedrigen Angeboten vorzugehen. Der BGH stellt nun klar, dass unterlegene Bieter einen Anspruch auf Einhaltung der Pflicht zur Prüfung unangemessen niedriger Angebote haben. Zugleich hat er die Voraussetzungen der Zulässigkeit eines entsprechenden Nachprüfungsantrages erheblich abgesenkt und das praxisrelevante Zwischenverfahren über die Entscheidung zur Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen in der Vergabeakte ausführlich erläutert.
§ 16 Abs. 6 S. 1 VOL/A 2009; § 19 EG Abs. 6 S. 1 VOL/A 2009; § 60 VgV, § 16d Abs. 1 und 16d EU Abs. 1 VOB/A
Leitsatz
Sachverhalt
Die Berliner Feuerwehr schrieb die Gestellung von Notärzten aus. Ein unterlegener Bieter beantragte die Nachprüfung der beabsichtigten Vergabe unter Berufung auf § 16 Abs. 6 S. 1 VOL/A 2009: das Angebot des Zuschlagsaspiranten sei ungewöhnlich niedrig und müsse ausgeschlossen werden. Der Abstand zum nächstbesten Angebot betrug über 30 %. Die Vergabekammer wies den Antrag allerdings in Übereinstimmung mit der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur mangels drittschützender Wirkung der Norm ab. Das Beschwerdegericht wollte sich dem anschließen; aufgrund einer divergierenden Entscheidung des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 29.10.2003, Az. 1 Verg 2/03 sah es sich jedoch an einer Entscheidung gehindert und legte die Sache dem BGH vor.
Die Entscheidung
Der BGH stellt zunächst klar, dass die Divergenzvorlage nicht an dem vergleichsweise fortgeschrittenen Alter der Saarländischen Entscheidung scheitert. Eine Divergenzvorlage zum BGH ist demnach unabhängig von zeitlichen Erwägungen immer dann zulässig, wenn das vorlegende Gericht seine Entscheidung auf einer Rechtsauffassung gründen will, die mit einer die Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichtes tragenden Rechtsauffassung unvereinbar wäre (vgl. § 179 Abs. 2 GWB).
Die Abweichung lag hier darin, dass nach Auffassung des Saarländischen Oberlandesgerichts ein Recht des zweitplatzierten Bieters auf Nachprüfung der Zuschlagsentscheidung im Fall eines ungewöhnlich niedrigen Angebotes besteht, während das Kammergericht dieses Recht mangels bieterschützender Norm verneinen wollte. Nach ständiger Rechtsprechung vieler Vergabesenate kommt § 16 Abs. 6 VOL/A 2009 bzw. § 19 EG Abs. 6 VOL/A nämlich nur dann bieterschützende Wirkung zu, wenn das niedrige Angebot mit dem Ziel der Verdrängung anderer Wettbewerber aus dem Markt (nicht nur der Ausschreibung!) abgegeben wird. Gleiches soll gelten, wenn die niedrige Preisgestaltung den Bieter voraussichtlich in so erhebliche Schwierigkeiten bringen würde, dass er den Auftrag nicht ordnungsgemäß zu Ende führen könnte.
Der BGH führt zunächst aus, dass für die Zulässigkeit des Nachprüfungsantrages die Darlegung von Indizien genüge, aus denen sich die Unangemessenheit des Preises ergebe. Das sei in der Regel der Abstand zum nächstgünstigen Angebot, könne aber auch in einer auffälligen Abweichung von Erfahrungswerten liegen. Die Darlegung einer etwaigen Marktverdrängungsabsicht verlangt der BGH hingegen nicht. Ein Antragsteller könne mangels Einblick in die Sphäre des Konkurrenten und auch in Anbetracht der knappen Zeit hierzu nichts vortragen.
Des Weiteren bekräftigt der BGH die Prüfungspflicht des öffentlichen Auftraggebers bei entsprechender Indizienlage. Darauf aufbauend – und das ist das Neue an dieser Entscheidung – gesteht der BGH den Wettbewerbern zu, sich ebenfalls auf die Einhaltung der Vorgaben des § 60 Abs. 3 VgV (sowie der parallelen Vorschriften in VOB/A und VOL/A) berufen zu können. Das Verbot des Zuschlags auf ein Unterkostenangebot konkretisiere den Wettbewerbsgrundsatz (§ 97 Abs. 1 GWB). Da ein Verstoß hiergegen die Position der übrigen Bewerber beträfe, könnten diese sich auf die Einhaltung der Vorschriften berufen.
Der Anspruch der Wettbewerber ist darauf gerichtet, dass der Auftraggeber die vorgeschriebene Prüfung vornimmt. § 60 Abs. 2 VgV statuiert hierfür einige Kriterien, die bei der Bewertung der Angemessenheit des Preises eine Rolle spielen können. Der BGH lässt dabei nicht unerwähnt, dass diese Kriterien ebenso bei Bauvergaben gelten, auch wenn sie in § 16d EU Abs. 1 VOB/A (anders als übrigens in § 16d Abs. 1 Nr. 2 S. 2 VOB/A) nicht ausdrücklich aufgeführt sind.
Erst wenn diese Prüfung die geringe Höhe des Preises nicht zufriedenstellend aufklären konnte, darf der Auftraggeber den Zuschlag ablehnen. Das Wort “dürfen” in § 60 Abs. 3 VgV bedeute allerdings nicht, dass die Ablehnung eines Angebots im Belieben des Auftraggebers stünde. Vielmehr sei die Ablehnung eines Angebotes grundsätzlich geboten, wenn verbleibende Ungewissheiten nicht zufriedenstellend aufgeklärt werden könnten; allerdings seien hierbei Art und Umfang der drohenden Gefahren zu berücksichtigen.
Ein zu geringer Angebotspreis berge für den Auftraggeber die Gefahr, dass der Auftragnehmer in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten kann, so bislang die Rechtsprechung. Der BGH ergänzt nun, dass öffentliche Auftraggeber auch unterhalb dieser doch eher seltenen Fälle ein Interesse daran haben können, ein zu niedriges Angebot nicht bezuschlagen zu müssen. Der Auftragnehmer könne beispielsweise versuchen, den Auftrag möglichst unaufwändig und damit möglicherweise nicht vertragsgerecht abzuarbeiten, über Nachträge eine Kompensation zu erhalten oder seine Ressourcen auf andere, profitablere Aufträge zu konzentrieren. Ein Angebotsausschluss kommt sodann in Betracht, wenn sich ein sehr günstiger Angebotspreis, dem zugleich ein erhebliches potentielles Verlustrisiko anhaftet, nicht zufriedenstellend aufklären lässt.
Die Entscheidung im konkreten Fall, nämlich ob diese Prüfung in ausreichendem Maße stattgefunden hatte, verwies der BGH zurück an die Vergabekammer. Trotz der Rückverweisung befasste sich der Senat allerdings noch sehr ausführlich mit der Frage, wie die Geheimhaltungsinteressen des betroffenen Bieters bei der Prüfung des Preises berücksichtigt werden können. Wird die Vergabeakte samt Geschäftsgeheimnissen des betroffenen Bieters dem Antragsteller zur Akteneinsicht überlassen, soll zunächst in einem Zwischenverfahren (angelehnt an § 72 GWB), dessen Ablauf der BGH ausführlich erläutert, über die Offenlegung der Geschäftsgeheimnisse entschieden werden. Die Vergabekammer entscheidet mittels rechtsmittelfähigem Beschluss; Akteneinsicht darf erst nach Bestandskraft dieser Entscheidung gewährt werden.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung betraf zwar noch die alte Rechtslage vor April 2016, der BGH sieht jedoch keinen Unterschied im Regelungsgehalt der alten Normen im Vergleich zu § 60 VgV bzw. § 16d Abs. 1 und 16d Abs. 1 EU VOB/A. Ebenso gilt sie für soziale und besondere Dienstleistungen im Sinne des § 130 GWB. Es steht zu vermuten, dass die Entscheidung angesichts der parallelen Interessenlage auch im Anwendungsbereich der Konzessionsvergabeverordnung sowie im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich Geltung finden wird. Nebenbei bemerkt offenbart die Entscheidung wiederum das zweifelhafte Nebeneinander von VgV und EU VOB/A. In letzterer fehlt ohne erkennbaren Grund ein mit § 60 Abs. 2 VgV vergleichbarer Prüfkatalog, welcher angesichts des gemeinsamen europarechtlichen Ursprungs der Normen (vgl. Artikel 69 Abs. 2 der Richtlinie 2014/24/EU) selbstverständlich trotzdem Anwendung findet.
In der Sache ist die Entscheidung des BGH nachvollziehbar und im Interesse einer wirtschaftlichen und wettbewerblichen Beschaffung zu begrüßen. Die Vorschrift des § 60 VgV, wonach auf ein Angebot mit ungewöhnlich niedrigem Preis der Zuschlag nicht erteilt werden darf, fußt nach althergebrachter Meinung auf dem haushaltsrechtlichen Grundsatz der wirtschaftlichen und sparsamen Mittelverwendung. Geschützt wurde damit das öffentliche Vermögen. Auf diese Erwägung stützte sich die bisherige Rechtsprechung, wonach Wettbewerber keine Handhabe hatten, gegen ungewöhnlich niedrige Angebote vorzugehen (vgl. VK Bund, Beschl. v. 19.08.2016 VK-2-75/16, Entscheidungsbesprechung Michael Werner, Vergabeblog.de vom 20/10/2016, Nr. 27569). Die Norm schütze eben nicht den Wettbewerb, sondern den Haushalt. Damit war § 19 Abs. 6 EG VOL/A 2009 die einzige nicht-bieterschützende vergaberechtliche Vorschrift.
Konkurrenten konnten den Zuschlag auf ein Unterkostenangebot daher nicht verhindern. Dieser Umstand führte bei Wettbewerbern häufig zu großer Frustration und leistete dem Vorwurf an das Vergaberecht Vorschub, es würde zu einem ruinösen Preiswettbewerb und zur Anschaffung billiger (d.h. nicht unbedingt wirtschaftlicher) Leistungen führen. Selbst bei öffentlichen Auftraggebern war bisweilen Unzufriedenheit über die vermeintliche Pflicht zur Anschaffung schlechter Produkte und Leistungen festzustellen.
Insofern ist die Entscheidung des BGH sowohl für Bieter als auch für Auftraggeber von großer Bedeutung. Bieter sollten die neue Rechtsschutzmöglichkeit nutzen und bei Vorliegen entsprechender Indizien gegen eine geplante Unterkostenvergabe vorgehen. Auftraggeber bekommen klarere Regeln für die Prüfung und ggf. den Ausschluss von Unterkostenangeboten an die Hand. Die Pflicht zur Prüfung ungewöhnlich niedriger Angebote sollten Auftraggeber ernst nehmen und den Prozess ausführlich dokumentieren.
Der BGH hat allerdings offen gelassen, ob ein Antragsteller im Einzelfall auch einen Angebotsausschluss nicht nur die Prüfung der Angemessenheit des Preises durchsetzen könnte. Nach allgemeinen Grundsätzen dürfte dies bei einer Ermessensreduzierung auf Null, das heißt wenn der Angebotsausschluss die einzig rechtmäßige Handlungsalternative des Auftraggebers ist, durchaus möglich sein. Die Situation dürfte vergleichbar sein mit anderen Ausschlussgründen. Ohnehin ist die Vergabekammer nicht an die Anträge gebunden und kann der Vergabestelle entsprechende Handlungsanweisungen auf den Weg geben. Insofern kann die künftige Entscheidungspraxis der Vergabenachprüfungsinstanzen mit Spannung erwartet werden.
Ebenfalls offen gelassen hat der BGH den alten Streit zur Höhe der Aufgreifschwelle: 10 % oder 20 % Abstand zum nächsthöheren Angebot. Nach wie vor ist daher je nach Indizienlage im Einzelfall zu entscheiden, ob eine Prüfung des Preises vorgenommen werden sollte oder nicht.
Praxistipp
Nach der Entscheidung wird für Bieter die Möglichkeit eröffnet, Vergabestellen zur Prüfung von ungewöhnlich niedrigen Preisen zu zwingen. Damit geht eine Absenkung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Nachprüfung einher: Statt einer kaum realistischen Darlegung einer Marktverdrängungsabsicht genügt eine erhebliche Abweichung des Preises von dem nächstgünstigen Angebot oder von Erfahrungswerten.
Bei der Vergabe nach VgV werden allerdings die Preise, anders als bei Bauvergaben, nicht bekannt gegeben, so dass hier nach wie vor ein Nachweisproblem besteht. Der BGH will jedoch allgemein die Anforderungen an die Darlegung der möglichen Rechtsverletzung als nicht zu hoch angesetzt wissen, so dass Bieter auch bei VgV-Verfahren nicht vor einer Rüge bzw. einem Nachprüfungsantrag zurückschrecken sollten.
Anm. d. Red.: Siehe hierzu auch den Kurzbericht auf
Die Autorin Sonja Stenzel ist Rechtsanwältin in Berlin und bei der BG Kliniken - Klinikverbund der gesetzlichen Unfallversicherung gGmbH tätig.
Sehr interessant!