Der Ausschluss wegen schwerer beruflicher Verfehlung kann grundsätzlich unter den Vorbehalt einer Verhältnismäßigkeitsprüfung gestellt werden. Legt sich der Auftraggeber jedoch auf einen zwingenden Ausschluss fest, ist er daran gebunden.
Art. 45 Abs. 2 RL 2004/18/EG; Art. 57 Abs. 2 lit. c) RL 2014/24/EU; § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB
Leitsatz
Sachverhalt
Der Auftraggeber, ein niederländisches Ministerium, schrieb im Jahre 2012 einen Dienstleistungsauftrag über die Beförderung behinderter Menschen europaweit aus. Die Ausschreibungsunterlagen enthielten folgenden Passus: Ein Angebot, auf das ein Ausschlussgrund Anwendung findet, bleibt unberücksichtigt und kommt nicht für eine nähere (inhaltliche) Beurteilung in Betracht. Die Bieter hatten in einer Selbstauskunft zu erklären, dass auf sie keine Ausschlussgründe Anwendung finden. Noch während der Wartefrist verhängte die niederländische Wettbewerbsbehörde Geldbußen wegen Wettbewerbsverstößen gegen zwei an der obsiegenden Bietergemeinschaft beteiligte Unternehmen. Obgleich der Auftraggeber dies als schwere berufliche Verfehlung ansah, hielt er an seiner Vergabeentscheidung fest, weil ein Ausschluss der Bietergemeinschaft unverhältnismäßig sei. Das niederländische Recht stellt einen Ausschluss wegen schwerer beruflicher Verfehlung unter den Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit. Gegen die Entscheidung des Auftraggebers suchte der zweitplatzierte Bieter gerichtlichen Rechtsschutz. Der oberste Gerichtshof der Niederlande legte die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Er fragte, ob die Regelung, den Ausschluss eines Bieters, der eine schwere berufliche Verfehlung begangen hat, von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abhängig zu machen, richtlinienkonform sei. Er fragte weiter, ob dabei von Belang sei, dass der Auftraggeber in den Ausschreibungsunterlagen einen zwingenden Ausschluss für diesen Fall vorgesehen hatte.
Die Entscheidung
Eine nationale Regelung, die den Ausschluss eines Bieters, der eine schwere berufliche Verfehlung begangen hat, von einer Verhältnismäßigkeitsprüfung abhängig macht, ist richtlinienkonform und verstößt insbesondere nicht gegen Art. 45 Abs. 2 der RL 2004/18/EG. Wenn ein öffentlicher Auftraggeber in den Ausschreibungsunterlagen angibt, dass ein Angebot, auf das ein Ausschlussgrund Anwendung findet, zwingend auszuschließen ist, darf er angesichts des Gleichbehandlungsgrundsatzes und des daraus abgeleiteten Transparenzgebots jedoch keine Verhältnismäßigkeitsprüfung mehr vornehmen. Es bestünde die Gefahr, dass Wirtschaftsteilnehmer aufgrund der Ausschlussklausel des Auftraggebers von vornherein nicht an der Ausschreibung teilnehmen würden, während andere darauf spekulieren könnten, dass ihr Angebot im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht ausgeschlossen würde. Dies benachteilige insbesondere Wirtschaftsteilnehmer aus anderen Mitgliedsstaaten, die die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach dem nationalen Recht nur schwer erkennen könnten.
Rechtliche Würdigung
Der Wortlaut der Richtlinie und die bisherige Rechtsprechung des EuGH sind eindeutig die Umsetzung der fakultativen Ausschlussgründe wird ins Ermessen der Mitgliedsstaaten gestellt (vgl. EuGH Urteil vom 10.07.2014 – C-358/12 – IBRRS 2014, 1889, Rn. 36.). Diese können hier mildere, flexiblere oder gar keine Regelungen vorsehen. Die Pflicht zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der auch im Anwendungsbereich der Vergaberichtlinien gilt, kann vor diesem Hintergrund daher keine Bedenken auslösen. Die neue Vergaberichtlinie macht dies deutlicher und fordert die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen der fakultativen Ausschlussgründe sogar (Erwägungsgrund 101 RL 2014/24/EU).
Der EuGH setzt seine strikte Linie zur Selbstbindung des Auftraggebers in den Ausschreibungsunterlagen fort. Er zwingt damit zum möglicherweise unverhältnismäßigen Ausschluss eines Bieters, weil der Auftraggeber in seiner Auftragsbekanntmachung einen zwingenden Ausschluss vorgesehen hatte. Der EuGH stellt in diesem Fall die Gleichbehandlung und Transparenz über die Verhältnismäßigkeit. Aus den Erwägungsgründen der alten und neuen Vergaberichtlinie ergibt sich jedoch, dass Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung, Verhältnismäßigkeit und Transparenz (gleichberechtigt) zu den in Vergabeverfahren zu beachtenden Grundsätzen der europäischen Verträge zählen. Für den EuGH war hier auch entscheidend, dass sich das Erfordernis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im vorliegenden Fall aus einer nationalen Vorschrift ergab, und so nur schwer für Wirtschaftsteilnehmer anderer Mitgliedsstaaten erkennbar war. Die Entscheidung überrascht jedoch auch deshalb, weil der EuGH bisher gerade im Falle der schwerer beruflichen Verfehlung einen automatischen Ausschluss als nicht richtlinienkonform eingestuft hatte (EuGH, Urteil vom 13.12.2012 C-465/11 – NZBau 2013, 116.). In der deutschen Rechtsprechung ist eine ähnliche Fallgestaltung bisher anders beurteilt worden. So konnte sich ein öffentlicher Aufraggeber nicht vorab selbst dahingehend binden, dass er fehlende Erklärungen und Nachweise nicht nachfordern würde, obwohl ihm das Gesetz diesbezüglich ein Ermessen einräumte. Denn dadurch nehme der Auftraggeber sein Ermessen zu einem Zeitpunkt vorweg, zu dem ihm der Sachverhalt noch gar nicht vollständig bekannt sei (VK Bund, Beschluss vom 05.03.2015 VK 2-13/15). Es ist zudem fraglich, ob die Rechtsprechung des EuGH zum alten Vergaberecht auch nach der Reform noch in dieser Form Geltung beanspruchen kann. In Erwägungsgrund 101 der Richtlinie 2014/24/EU wird die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Rahmen der fakultativen Ausschlussgründe gerade gefordert. Dies hat der deutsche Gesetzgeber in § 124 Abs. 1 GWB richtlinienkonform umgesetzt. Vor diesem Hintergrund scheint ein Verzicht auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den Auftraggeber schwer zu rechtfertigen, zumal die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich der fakultativen Ausschlussgründe nun für jeden Wirtschaftsteilnehmer gut erkennbar aus der Richtlinie hervorgeht.
Den Auftraggebern ist von der Verwendung absoluter Ausschlussklauseln abzuraten. Bleibt der EuGH seiner strengen Linie auch nach der Vergaberechtsreform treu, verengt der Auftraggeber den eigenen Handlungsspielraum unnötig und kann zu unverhältnismäßigen Ausschlüssen von Bietern gezwungen sein. Zugleich ist auch das hier besprochene Urteil nicht geeignet, um abschließende Rechtssicherheit zu vermitteln. Es ist nicht abzusehen, wie nationale Gerichte entscheiden werden und ob die Rechtsprechung des EuGH auch nach der Vergaberechtsreform weiter Bestand haben wird. Auch Bieter sollten sich daher nach wie vor nicht völlig auf die Wirksamkeit der Ausschlussklauseln verlassen.
Der Autor Alexander Falk ist Rechtsanwalt bei Orth Kluth Rechtsanwälte in Düsseldorf. Als Mitglied der dortigen Praxisgruppe Öffentliches Recht und Vergaberecht berät und begleitet er bundesweit öffentliche Auftraggeber und Bieter bei verschiedensten Ausschreibungen.
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