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Liefer- & Dienstleistungen

Bei der Angebotsauslegung gilt kein Grundsatz „in dubio pro Bieter“ (VK Westfalen, Beschl. v. 07.04.2017 – VK 1-07/17)

EntscheidungUngenauigkeiten und Widersprüche in Angeboten verlangen Auftraggebern häufig die schwerwiegende Entscheidung ab: Ausschluss des Angebotes oder nicht? Bei einem Ausschluss droht die Rüge gefolgt vom Nachprüfungsantrag. Wenn der Auftraggeber das Angebot aufklärt und in der Wertung belässt, besteht ebenfalls das Risiko, dass ein konkurrierender Bieter dies angreift oder die Vergabekammer den Ausschlussgrund in einem Nachprüfungsverfahren selbst erkennt. Die Vergabekammer Westfalen entwickelt für diese Problematik eine nachvollziehbare und praktikable Lösung, die Auftraggebern mehr Sicherheit gibt.

§ 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV

Leitsatz

  1. Bestehen Zweifel daran, wie ein Angebot zu verstehen ist, weil dieses zwei sich widersprechende Aussagen enthält, bedarf es zunächst einer Auslegung.
  2. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, wie der öffentliche Auftraggeber das Angebot in dem streitgegenständlichen Punkt bei objektiver Würdigung aller Umstände und mit Rücksicht auf Treu und Glauben zu verstehen hatte. Anders ausgedrückt: Zu ermitteln ist nicht der subjektive innere Wille des Bieters, sondern der objektive Erklärungswert.
  3. Führt diese Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis und bleiben deshalb Zweifel, ob das Angebot den Vorgaben der Leistungsbeschreibung entspricht, ist das Angebot auszuschließen.

Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb Entsorgungsdienstleistungen in einem offenen Verfahren aus. Gemäß der Leistungsbeschreibung war der gesammelte Abfall vom Auftragnehmer direkt zu vorgegebenen Anlieferstellen zu transportieren. Die Nutzung von eigenen Umschlagstellen durch den Auftragnehmer war in der Leistungsbeschreibung ausdrücklich untersagt.

Der Bestbieter führte in seinem Angebot aus, dass sein Abfuhrbetrieb der Leistungsbeschreibung entspräche. Im Folgenden ergänzte er, dass er den Restmüll in seiner Umschlaganlage umladen und dann zu den vorgegebenen Verwertungsanlagen transportieren würde.

Aufgrund der Rüge eines konkurrierenden Bieters bat der Auftraggeber den Bestbieter um Klarstellung der unklaren Angaben in seinem Angebot. Der Bestbieter tat dies und bestätigte, dass er die Abfuhrorganisation gemäß der Leistungsbeschreibung durchführen würde. Er begründete seinen Fehler im Angebot mit der versehentlichen Übernahme von textlichen Bausteinen aus anderen Ausschreibungen.

Der Auftraggeber wollte weiterhin den Zuschlag auf das Angebot des Bestbieters erteilen. Der konkurrierende Bieter ließ diese Entscheidung von der Vergabekammer überprüfen.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer Westfalen schloss das Angebot des Bestbieters gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV aus. Der Bestbieter hatte ein Angebot abgegeben, das inhaltlich von den Vorgaben der Leistungsbeschreibung abwich und damit wegen einer unzulässigen Änderung an den Vergabeunterlagen von der Wertung auszuschließen war. Er hatte nämlich die Nutzung einer eigenen Umschlagstelle angeboten, was unzulässig war.

An dem Ergebnis änderte aus Sicht der Vergabekammer auch der Umstand nichts, dass der Bestbieter in seinem Angebot parallel erklärt hatte, dass seine Abfuhrorganisation den Regelungen der Leistungsbeschreibung entspräche. Für die Auslegung des Angebotes war der objektive Erklärungswert entscheidend. Bei der Auslegung von Angeboten als Mittel zur Behebung ihnen anhaftender Fehler oder Unvollständigkeiten ist Zurückhaltung geboten. Der Sinn und Zweck der vergaberechtlichen Ausschlussgründe liegt darin, mehr Transparenz in einem zügigen und für den Auftraggeber leicht zu handhabenden Vergabeverfahren zu schaffen, in dem die Gleichbehandlung der Bieter sichergestellt ist.

Das Angebot war – wenn auch versehentlich – objektiv in sich widersprüchlich und entsprach nicht der Leistungsbeschreibung. Nach einem Zuschlag auf solch ein Angebot könnte es bei der Durchführung des Vertrags zu Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich dieses Punktes kommen. Außerdem wäre es zirkulär, im Vergabeverfahren zur Auslegung eines Angebotes die Anforderungen eines Leistungsverzeichnisses heranzuziehen und auf diese Weise Irrtümer beim Ausfüllen des Leistungsverzeichnisses zu korrigieren.

Aus Sicht der Vergabekammer Westfalen gibt es gerade keinen Erfahrungssatz, dass der Bieter stets das vom Ausschreibenden Nachgefragte anbieten will, auch wenn ihm redliche und interessengerechte Absichten zu unterstellen sind. Vielmehr kann es Gründe für eine Abweichung des Angebotes von den Anforderungen geben, und sei es, dass die Anforderungen übersehen worden sind oder irrtümlich angenommen worden ist, sie würden erfüllt.

Rechtliche Würdigung

Die Vergabekammer Westfalen stellt sehr klar die Grenzen der Auslegung von Angeboten dar. Wenn ein Auftraggeber Birnen möchte, sind die von einem Bieter angebotenen Äpfel nicht plötzlich Birnen, nur weil der Auftraggeber diese ausgeschrieben hat. Ein Auftraggeber darf die Auslegung eines Angebotes nicht dahingehend überspannen, dass die zwingenden Ausschlussgründe ausgehebelt werden. Insbesondere eine eindeutige Abweichung von den Vergabeunterlagen darf ein Auftraggeber nicht durch eine Aufklärung des Angebotes bereinigen.

Die Rechtsprechung der letzten Jahre nahm in vielen, teils deutlich divergierenden Einzelfallentscheidungen eine für Auftraggeber verunsichernde Entwicklung. Die Grenzen zwischen einer Angebotsaufklärung und einem – zumindest im offenen und nicht offenen Verfahren – unzulässigen Nachverhandeln wurden fließend. Bei vielen Entscheidungen über den Ausschluss eines Angebotes bestand für die öffentliche Hand das Risiko, dass eine Nachprüfungsinstanz eine abweichende Ansicht vertreten würde.

Ein Vergabeverfahren verpflichtet aber nicht nur den öffentlichen Auftraggeber, die Vergabeunterlagen widerspruchsfrei und transparent zu gestalten. Das vorvertragliche Schuldverhältnis, in dem sich Bieter und Auftraggeber bewegen, sollte von den Bietern ebenfalls ein genaues Arbeiten bei der Angebotserstellung verlangen. Häufig wird der Auftraggeber andernfalls bei der späteren Vertragsausführung mit dem Risiko leben müssen, dass Widersprüche oder Unklarheiten einer rechtlichen Durchsetzbarkeit seiner vertraglichen Forderungen entgegenstehen können.

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Praxistipp

Bei der Prüfung von Ausschlussgründen für Angebote gibt es nicht immer nur schwarz und weiß. Ein Auftraggeber muss, wenn er sich in der rechtlichen Grauzone bewegt, seine Entscheidung sehr genau prüfen und dokumentieren. Im besten Fall kann er den Angebotsausschluss auf mehrere Angebotsmängel stützen, was ihn rechtlich stärker absichert.

Wenn die Aufklärung eines Angebotes erlaubt und erforderlich ist, sollte ein Auftraggeber präzise Fragen stellen. Nicht selten reitet sich ein Bestbieter in der schriftlichen Aufklärungsphase tiefer in einen Ausschlussgrund hinein, da er vorschnell und unüberlegt auf eine unklare Frage des Auftraggebers antwortet. Soweit dies möglich ist, sollte der Auftraggeber eine Frage so formulieren, dass der Bieter nur mit ja oder nein antworten kann.

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Über Dr. Jens Biemann

Dr. Jens Biemann ist Rechtsanwalt bei der Anwaltskanzlei HAAK + PARTNER in Düsseldorf und Krefeld. Er berät bundesweit öffentliche Auftraggeber und Unternehmen bei Vergabe- sowie Wettbewerbsverfahren und vertritt diese vor den Nachprüfungsinstanzen. Außerdem veröffentlicht er regelmäßig Fachaufsätze und referiert zu vergaberechtlichen Themen, beispielsweise als Lehrbeauftragter für Vergabe- und Subventionsrecht an der Hochschule Konstanz Technik, Wirtschaft und Gestaltung.

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