Nach mehr als zwei Jahren seit dem Inkrafttreten der Richtlinie 2014/24/EU hat der EuGH erstmals zum neuen Vergaberecht entschieden. Die Luxemburger Richter haben zu einem offenen Verfahren geurteilt, wonach im Rahmen der Auswahl des wirtschaftlichsten Angebotes das zwingende Erreichen einer Mindestpunktzahl bei einem technischen Zuschlagskriterium Voraussetzung für die abschließende Preisbewertung der Angebote war.
§§ 127 Abs. 1, 119 Abs. 3 GWB; Art. 67, 27 Richtlinie 2014/24/EU.
Leitsatz
Die Richtlinie 2014/24/EU ist dahin auszulegen, dass in den Vergabebedingungen eines offenen Verfahrens Mindestanforderungen hinsichtlich der Bewertung eines technischen Zuschlagskriteriums derart festgelegt werden können, als die abgegebenen Angebote, die nach abgeschlossener technischer Bewertung eine vorab festgelegte Mindestpunktzahl nicht erreichen, von der weiteren preislichen Angebotswertung ausgeschlossen werden.
Sachverhalt
Eine öffentliche Stiftung in Spanien hat verschiedene musikalische Ausrüstungsgegenstände im offenen Verfahren europaweit ausgeschrieben. Die Vergabebedingungen sahen zwei jeweils mit 50 Punkten gewichtete Zuschlagskriterien vor. Dies war zum einen der Preis, der für die sogenannte Phase der Wirtschaftlichkeit von Bedeutung war. Zum anderen war das in gesonderte Unterkriterien unterteilte Zuschlagskriterium Darstellung und Beschreibung des Projekts festgelegt, das für die sogenannte technische Phase relevant war. Für letztere wurde in den Vergabebedingungen eine erforderliche Mindestpunktzahl von 35 bestimmt, die zwingend erreicht werden musste, damit das Angebot in der Phase der Wirtschaftlichkeit abschließend bewertet wurde.
Gegen diese Vergabebedingungen beantragte das Unternehmen Montte die Nachprüfung. Es war vor allem der Ansicht, dass die für die technische Phase nötige Mindestpunktzahl den Bieterzugang zur Phase der Wirtschaftlichkeit rechtswidrig beschränken und damit die in den Vergabebedingungen festgelegte Gewichtung der technischen und preislichen Zuschlagskriterien de facto außer Kraft setzen würde.
Die angerufene Nachprüfungsstelle ersuchte den EuGH um Vorabscheidung nach Art. 267 AEUV, weil sie u.a. aufeinanderfolgende eliminatorische Phasen der Auswahl des wirtschaftlichsten Angebotes nur in Verfahren für möglich hielt, in denen diese Möglichkeit ausdrücklich vorgesehen ist (bspw. bei Verhandlungsverfahren), nicht aber in offenen und nicht offenen Verfahren.
Die Entscheidung
Der EuGH hat klargestellt, dass bei einem offenen Verfahren zwar jeder am Auftrag Interessierte auf die Auftragsbekanntmachung hin ein Angebot abgeben kann. Jedoch gestattet die Richtlinie 2014/24/EU öffentlichen Auftraggebern auch, Mindestanforderungen für die Bewertung technischer Zuschlagskriterien in offenen Verfahren festzulegen. Denn mit Ausnahme der zu beachtenden Mindestfristen enthält Art. 27 Richtlinie 2014/24/EU (Offenes Verfahren) keine weiteren Vorschriften über den Ablauf des offenen Verfahrens (Rdnr. 27 f.).
Öffentliche Auftraggeber müssen deshalb bei der Festlegung der Zuschlagskriterien zwar den generellen Anforderungen des Art. 67 Richtlinie 2014/24/EU (Zuschlagskriterien) und die Einhaltung der Grundsätze der Transparenz, Nichtdiskriminierung und Gleichbehandlung gewährleisten, um einen objektiven Vergleich des relativen Wertes der Angebote und somit einen wirksamen Wettbewerb sicherzustellen (Rdnr. 31). Hierzu zählt insbesondere auch der in Art. 18 Abs. 1 Richtlinie 2014/24/EU (Grundsätze der Auftragsvergabe) geregelte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Rdnr. 38).
Es steht aber öffentlichen Auftraggebern frei, einerseits vor allem die technische Qualität gemäß ihren Bedürfnissen zu bestimmen, welche die abgegebenen Angebote nach den Eigenschaften und Gegenstand des Auftrages gewährleisten müssen, und andererseits zu diesem Zweck eine Untergrenze festzulegen, die diese Angebote in technischer Hinsicht einhalten müssen. Insoweit hindert Art. 67 Richtlinie 2014/24/EU (Zuschlagskriterien) öffentliche Auftraggeber nicht daran, in der Phase der Zuschlagserteilung in einem ersten Schritt Angebote auszuschließen, die bei der technischen Bewertung eine vorab festgelegte Mindestpunktzahl nicht erreichen. Ein Angebot, das eine solche Mindestpunktzahl nicht erzielt, entspricht grundsätzlich nicht den Bedürfnissen des öffentlichen Auftraggebers und braucht bei der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebotes nicht weiter berücksichtigt zu werden (Rdnr. 32).
Diese Feststellung wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, weil bestimmte andere als offene Vergabeverfahren in aufeinanderfolgenden Phasen durchgeführt werden können, wie beim Verhandlungsverfahren (Art. 29 Abs. 6 Richtlinie 2014/24/EU), wettbewerblichen Dialog (Art. 30 Abs. 4 Richtlinie 2014/24/EU) und bei der Innovationspartnerschaft (Art. 31 Abs. 5 Richtlinie 2014/24/EU). Hieraus kann nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass bei einem offenen Verfahren wie hier – eine Bewertung in zwei Angebotsrunden nicht zulässig ist. Denn der öffentliche Auftraggeber darf vorliegend nur diejenigen Angebote von der abschließenden Bewertung anhand der Preise ausschließen, welche die Mindestanforderungen hinsichtlich des technischen Zuschlagskriteriums und somit seine Bedürfnisse nicht erfüllen. Bei den anderen oben genannten Verfahren hingegen besteht die Möglichkeit, Angebote abzulehnen, die zwar die Mindestanforderungen erfüllen, aber nicht zu den besten Angeboten zählen. Beide Verfahrenssituationen unterscheiden sich (Rdnr. 35 ff.).
Dementsprechend ist auch das zum Verhandlungsverfahren und wettbewerblichen Dialog in Art. 66 Richtlinie 2014/24/EU (Verringerung der Zahl der Angebote und Lösungen) verortete Erfordernis auf offene Verfahren nicht anwendbar, wonach bis zur Schlussphase des Verfahrens ein echter Wettbewerb zu gewährleisten ist (Rdnr. 43). Ein öffentlicher Auftraggeber ist bei einem offenen Verfahren allerdings auch nicht gezwungen, den Zuschlag zu erteilen, selbst wenn nach der technischen Bewertung nur ein einziges von ihm zu berücksichtigendes Angebot übrigbleibt. Hält der öffentliche Auftraggeber den Wettbewerb angesichts des Auftragsgegenstandes und der merkmale für unzureichend, steht es ihm unter diesen Umständen frei, das offene Verfahren zu beenden und erforderlichenfalls ein neues Verfahren mit anderen Zuschlagskriterien einzuleiten (Rdnr. 41).
Rechtliche Würdigung
Das Urteil des Luxemburger Richter ist zu begrüßen. Es überzeugt inhaltlich und spiegelt die von der deutschen Rechtsprechung (z.B. VK Bund, Beschl. v. 16.4.2018 VK 1-21/18) bestätigte Beschaffungspraxis wider.
Die Entscheidung ist sachlich zutreffend, weil bei der Auswahl des wirtschaftlichsten Angebotes im Rahmen offener Vergabeverfahren nach § 119 Abs. 3 GWB kein normativer Grund ersichtlich ist, welcher der Bestimmung einer mit dem Ausschluss sanktionierten Mindestpunktzahl bei Qualitätskriterien, wie etwa beim technischen Wert, entgegensteht. Vielmehr entspricht ein solches Wertungsvorgehen dem auftraggebereigenen Leistungsbestimmungrecht und dem geübten Vergabealltag zahlreicher Beschaffungsstellen, die dadurch den ihren Bedürfnissen entsprechenden Bezug qualitativ hochwertiger Leistungen auch im Rahmen von § 127 GWB sicherstellen wollen. Damit ist grundsätzlich weder eine unzulässige Marginalisierung der übrigen Zuschlagskriterien noch eine nivellierende Wirkung des Preiskriteriums verbunden (vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.11.2017 VII-Verg 16/17).
Ebenso trifft die richterliche Einschätzung auf Verständnis, dass die speziellen Regelungen für Verhandlungsverfahren, den wettbewerblichen Dialog und die Innovationspartnerschaft, keine einschränkenden Rückschlüsse auf die allgemeinen Regelverfahren (offenes und nicht offenes Verfahren) zulassen. Soweit der EuGH klarstellt, dass öffentliche Auftraggeber grundsätzlich nicht verpflichtet sind, einen Zuschlag zu erteilen (vgl. etwa § 63 Abs. 1 Satz 2 VgV), ist zu ergänzen, dass die rechtmäßige Beendigung eines offenen Verfahrens allerdings einen entsprechenden Aufhebungsgrund erfordert.
Praxistipp
Öffentliche Auftraggeber können, müssen aber nicht von den Bietern zwingend zu erreichende Mindestpunktzahlen bei qualitativen Zuschlagskriterien bestimmen. Wenn sie von dieser Möglichkeit jedoch Gebrauch machen, sind die allgemeinen Vergabegrundsätze der Transparenz, Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und vor allem der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Das bedeutet unter anderem, dass Mindestpunktzahlen nicht so hoch festgelegt werden dürfen, dass von vornherein ein wirksamer Vergabewettbewerb faktisch ausgeschlossen ist, weil nur ein einziges Unternehmen in der Lage ist, die vorgegebenen Mindestpunktzahlen zu erzielen.
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.
Ich halte das Urteil des EuGH für äußerst bedenklich: habe soeben in Italien den deutschen Marktführer eines Produkts verteidigt (ca. 80% des Marktes), der bei nur zwei Bewerbern wegen Nicht-Erreichens der Mindestpunktezahl ausgeschlossen wurde. Der Übriggebliebene darf sich freuen, der Preis spielt ja keine Rolle mehr. Die Gerichte berufen sich auf den EuGH und erklären die Vorgangsweise für korrekt. De facto wird das Preiselement überflüssig, durch die Mindestpunktezahl weiß die Vergabekommission vorab, wie man bewerten muss, um jemanden auszuschließen, der EuGH hat also ein probates Instrument geliefert um Vergaben besser zu „steuern“. In Italien wird die technisch-qualitative Bewertung aufgrund der Gewaltenteilung Exekutive-Justiz keiner Revision mehr unterzogen. M.E. eine katastrophale Entwicklung für den Wettbewerb.
RA Dr. Anton von Walther, Bozen (Südtirol-Italien)