Mit der abgeschlossenen Vergaberechtsreform wurde insbesondere im Unterschwellenbereich für die Vergabe öffentlicher Liefer- und Dienstleistungsaufträge nach dem neuen Regelwerk der Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) mit Blick auf die Vergabeverordnung (VgV) im Oberschwellenbereich der vergabepolitische Anspruch auf mehr Flexibilität erhoben. Gleichzeitig sollten die bisher einfacheren Regelungen nach dem Abschnitt 1 der VOL/A erhalten bleiben. In zwei zeitlich nah aufeinander folgenden Beiträgen wird der Frage kritisch nachgegangen, ob die neue Wirklichkeit dem vergabepolitischen Anspruch gerecht geworden ist oder nicht. Dabei werden zwei wesentliche Teilbereiche des neuen Regelwerks näher beleuchtet.
Teil I: Erweiterung des Vergaberegimes auf den Teilnahmewettbewerb / Teilnahmeanträge
1. Einleitung
Die Vergaberechtsreform 2016/2017 ist mit Veröffentlichung der Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) am 07. Februar 2017[i] abgeschlossen. Der Bund setzte die UVgO mit Rundschreiben des Bundesfinanzministeriums vom 1. September 2017 durch Neufassung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 55 BHO am 2. September 2017 in Kraft. Die Länder setzen sukzessive die verpflichtende Anwendung der UVgO für ihren Bereich um.
Alleine für die Vergaberechtsreform 2016 hat der Gesetz- und Verordnungsgeber für den Bereich ab den EU-Schwellenwerte die Messlatte hoch angelegt. In den Begründungen zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) bzw. der Verordnung zur Modernisierung des Vergaberechts[ii] wurde als Leitmotiv formuliert, dass mit der Neuregelung den Rechtsanwendern ein möglichst übersichtliches und leicht handhabbares Regelwerk zur Vergabe öffentlicher Aufträge und von Konzessionen an die Hand gegeben werden soll. Durch eine stärkere Gliederung und Strukturierung der Regelungen soll es – als Ergebnis der Reform – einfacher werden, die beim jeweiligen Verfahrensschritt im Vergabeprozess anzuwendenden Vorschriften zu ermitteln. Zudem sollten nach Angaben auf der Internetseite des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) öffentliche Auftraggeber und Unternehmen mehr Flexibilität bei der Vergabe öffentlicher Aufträge erhalten.
Mehr noch:
Nach den Zielvorgaben des BMWi für die UVgO sollen „die flexiblen Regelungsansätze im neuen Oberschwellenvergaberecht nun auch bei der Vergabe öffentlicher Aufträge für Liefer- und Dienstleistungsaufträge auf nationaler Ebene zur Anwendung kommen. Gleichzeitig sollen aber die auch bisher schon deutlich einfacheren Regeln für den Unterschwellenbereich[iii] erhalten bleiben.“ [iv]
Betrachtet man die Anzahl der Paragraphen vor und nach der Reform, drängt sich prima facie im Vergleich zum bisherigen Rechtsrahmen der Schluss auf, dass das Ziel krachend verfehlt wurde, hat sich doch die Paragraphenzahl insgesamt von ursprünglich 187 auf nunmehr 429 Paragraphen und damit um 129 % erhöht. Wenn man so will, ist dies eine Kehrtwende von 180 Grad nach einer Reform vor acht Jahren, die sich in 2008 das Ziel gesetzt hat, die Vergaberegeln auf das erforderliche Maß zu beschränken, bürokratische Vorgaben zu streichen und die Vergabeordnungen substanziell zu vereinfachen.
Geht man jedoch davon aus, dass nach allgemeiner Schätzung ca. 95 % der Vergaben im Unterschwellenbereich abgewickelt werden, könnte man sich für den Liefer- und Dienstleistungsbereich getrost alleine an die UVgO halten, da doch alles flexibler geworden ist und die deutlich einfacheren Regeln des Abschnitt 1 der VOL/A erhalten geblieben sein sollen.
Frage: Ist das so?
2. Weitgehende Gleichbehandlung der Teilnahmeanträge mit Angeboten
Legt man beide Vorschriften (VOL/A – Abschnitt 1 und UVgO) nebeneinander und vergleicht sie, wird man zunächst feststellen, dass der Regelungsschwerpunkt der VOL/A über die Angebotsabgabe und deren Behandlung durch den öffentlichen Auftraggeber – im Wesentlichen in den Vorschriften zur
- Form und Inhalt der Angebote (§ 13 VOL/A)
- Öffnung der Angebote (§ 14 VOL/A)
- Prüfung und Wertung der Angebote (§ 16 VOL/A)
- Aufhebung, wenn kein Angebot eingegangen ist, das den Bedingungen entspricht (§ 17 VOL/A)
geregelt – in der UVgO um die Teilnahmeanträge und damit den Teilnahmewettbewerb erweitert wurde. Dies drückt sich schwerpunktmäßig in den Vorschriften des Unterabschnitts 6 der UVgO über die Einreichung, Form und Umgang mit Teilnahmeanträgen (und Angeboten) und des Unterabschnitts 7 über die Prüfung und Wertung der Teilnahmeanträge (und Angeboten) aus. Insbesondere die Tatsache, dass nunmehr auch Teilnahmeanträge in verschlossenen Umschlägen eingereicht, gekennzeichnet, bis zum Angebotsschlusstermin verschlossen aufbewahrt werden müssen und erst nach Fristablauf von deren Inhalten Kenntnis genommen werden darf, erfordert zusätzlichen Bearbeitungs- und Kontrollaufwand, der vor dem Hintergrund der großzügig bemessenen Ausnahmeregelungen von der Verpflichtung zur elektronischen Abgabe von Teilnahmeanträgen für einen beträchtlichen Anteil nationaler Vergaben dauerhaft bleiben dürfte.[v] Im Ergebnis wurde das haushaltsrechtlich geprägte Vergaberegime von der reinen Angebotsbetrachtung nach VOL/A auch im Unterschwellenbereich auf den Teilnahmewettbewerb ausgedehnt.
Frage: Warum hat sich der Vorschriftengeber dazu entschieden?
3. Gleichklang mit dem Ziel der EU-Vergaberichtlinien im Unterschwellenbereich
Die Erläuterungen des BMWi nach dem „Warum“ schweigen sich darüber aus. Eine Erklärung ergibt sich aus den eingangs erwähnten Zielvorgaben, durch die ein Gleichziehen mit der Vergabeverordnung (VgV) im Oberschwellenbereich verfolgt wurde. Damit erfolgte eine Abkehr von der bisherigen Schwerpunktsetzung im haushaltsrechtlich geprägten Unterschwellenbereich. Ausgehend vom Haushaltsgrundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit[vi] und der Tatsache, dass öffentliche Aufträge immer zivilrechtliche Verträge zwischen Staat (Bund, Länder, Kommunen) und Unternehmen sind[vii], konzentrierten sich die Vorschriften des 1. Abschnitts der VOL/A folgerichtig auf das Angebot als erste maßgebliche Willenserklärung im Vertragsanbahnungsprozess. Der Haushaltsgrundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit wurde alleine durch den Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot als Annahme des Antrags i.S. des §§ 145 ff BGB durch den der Vertrag zustande kommt, realisiert. Folgerichtig war bisher im Vergabeverfahren nur der Umgang mit Angeboten regelungsrelevant. Der Teilnahmeantrag bzw. Teilnahmewettbewerb war (und ist) für das Zustandekommen des Vertrages vollkommen unerheblich und fand daher auch keine vergleichbare Regelung im 1. Abschnitt der VOL/A. Lediglich in § 3 Abs. 1 Satz 2 VOL/A wurde im Zusammenhang mit der Definition der Beschränkten Ausschreibung der Teilnahmewettbewerb eher am Rande als „öffentliche Aufforderung zur Teilnahme“ definiert. In § 12 VOL/A wurden zudem die „Mindestanforderungen an die Bekanntmachungen“ u.a. mit Blick auf den Teilnahmewettbewerb geregelt, jedoch keinen weiteren Form- und Vertraulichkeitsvorschriften unterworfen. Mit der selbstgewählten Abhängigkeit der UVgO vom Oberschwellenbereich übernahm das BMWi als Vorschriftengeber somit auch für das traditionell haushaltsrechtlich geprägte Unterschwellenvergaberecht eine europäische Richtlinienbetrachtung. Schon der Titel zeugt vom derivativen Charakter der UVgO als „VgV-light“.
Geht man aber von einer Richtlinienbetrachtung bei Schaffung der UVgO aus, so muss man sich auch die Frage stellen, was das eigentliche Ziel von EU-Vergaberichtlinien ist? Dabei muss man die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft bis hin zur Union vor Augen haben. Die kontinuierliche Fortentwicklung der Marktfreiheiten und der Ausbau des europäischen Binnenmarktes konnte an den volkswirtschaftlich bedeutenden öffentlichen Aufträgen nicht vorübergehen – zumal es in allen Mitgliedstaaten der Union üblich war, den öffentlichen Einkauf auf die heimischen Märkte zu beschränken. Daher dienten bis 2014 die als „Koordinierungs“- Richtlinien bezeichneten EU-Vergaberichtlinien dazu, die verschlossenen nationalen Beschaffungsmärkte zugunsten des europäischen Binnenmarktes aufzubrechen. Erst ab des neuen Richtlinienpakets in 2014 kamen die sog. „strategischen“ Ziele wie innovative Lösungen, Sozial- und Umwelterträglichkeit hinzu, die in einer Vielzahl von Detailregelungen zum Ausdruck kommen. Zudem entfiel der Begriff der „Koordinierung“ im Titel der maßgeblichen Richtlinien 2014/23/EU, 2014/24/EU, 2014/25/EU.
Das Aufbrechen der nationalen Beschaffungsmärkte zugunsten des europäischen Binnenmarktes als Ziel der EU-Vergaberichtlinien findet in allen Mitgliedstaaten in Form koordinierter und damit eigens für die Bedarfsdeckung der öffentlichen Hand organisierter Vergabeverfahren statt, die vorrangig im Wettbewerb durchzuführen sind. Dieser Wettbewerb muss, um das Richtlinienziel zu erreichen, grenzüberschreitend stattfinden. Grenzüberschreitender Wettbewerb ist jedoch nur über eine zuvor hergestellte Transparenz möglich. Nur transparente Vergabeverfahren machen Wettbewerb überhaupt erst möglich. Das Transparenzgebot verlangt daher eine umfassende Information der Bewerber und eine nachvollziehbare Gestaltung des Vergabeverfahrens von Anfang an. Daraus folgt, dass der öffentliche Auftraggeber die Bekanntmachungsvorschriften – gewissermaßen als Einfalltor zum Wettbewerb – bei der Ausschreibung einzuhalten hat, damit alle interessierten Unternehmen gleichermaßen über die Vorhaben informiert werden. Aus Sicht des europäischen Gesetzgebers war es daher von Anbeginn seiner vergaberechtlichen Richtliniensetzung selbstverständlich, sich für die Gleichrangigkeit von offenen und nicht offenen Verfahren zu entscheiden, da in beiden Verfahren durch die Verpflichtung zur Veröffentlichung von Bekanntmachungen, in denen entweder öffentlich zur Abgabe von Angeboten oder von Teilnahmeanträgen aufgefordert wird, gleichzeitig auch Transparenz hergestellt wird.[viii]
Beide Verfahren erfüllen somit die unabdingbare Voraussetzung der Transparenz als wettbewerbliches Einfallstor, jedoch mit einem wesentlichen Unterschied:
Während beim offenen Verfahren durch öffentliche Aufforderung zur Angebotsabgab alle interessierten Unternehmen ein Angebot abgeben können, können bei nicht offenen Verfahren nur die Unternehmen ein Angebot abgeben, die nach einem Teilnahmewettbewerb – gfl. nach einer Begrenzung der Anzahl der Bewerber – vom öffentlichen Auftraggeber zur Angebotsabgabe aufgefordert werden. Diese zulässige Möglichkeit der Begrenzung potenzieller Wettbewerber geht letztlich soweit, dass ohne weitere Begründung zumindest 5 Bewerber zur Angebotsabgabe aufgefordert werden müssen, sofern genügend Bewerber als Ergebnis des Teilnahmewettbewerbs zur Verfügung stehen, die die Eignungskriterien erfüllen.[ix] Durch die Festlegung dieser Untergrenze soll ein Mindestwettbewerb im nicht offenen Verfahren sichergestellt werden, den das offene Verfahren logischerweise nicht kennt. Damit hat das nicht offene Verfahren im Gegensatz zum offenen Verfahren das Potenzial zu einer begründungslosen Wettbewerbsbeschränkung.
Dieses wettbewerbliche Defizit des nicht offenen Verfahrens hat den deutschen Gesetz- und Verordnungsgeber bis 2016 davon abgehalten, die Gleichrangigkeit beider Verfahren in nationales Vergaberecht umzusetzen. Der bis 2016 geltende Vorrang des offenen Verfahrens im deutschen Vergaberecht stand somit in der deutschen Tradition des nationalen Vergaberechts durch den Vorrang der öffentlichen Ausschreibung, der sowohl das Transparenzziel der EU-Vergaberichtlinien als auch den haushaltsrechtlichen Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit durch größtmöglichen Wettbewerb im Blick hatte. Dieser Vorrang stand auch nicht im Widerspruch zu den EU- Richtlinien, da auch mit dem offenen Verfahren das richtlinienrelevante Transparenzziel erreicht wurde, allerdings ohne die Möglichkeit, ohne weitere Begründung den Wettbewerb beschränken zu können. Dieses national kodifizierte „Mehr an Wettbewerb“ durch den Vorrang des offenen Verfahrens bei der öffentlichen Beschaffung im Oberschwellenbereich war somit auch richtlinienkonform.
4. Fazit: Weniger flexible Regelungsansätze durch zusätzliche Regulierung des Teilnahmewettbewerbs
Durch die Abkehr von der bisherigen Philosophie eines größtmöglichen Wettbewerbs durch den Vorrang des offenen Verfahrens hin zur Wahlfreiheit und deren 1:1 Übernahme in die UVgO als Wahlfreiheit zwischen öffentlicher Ausschreibung und Beschränkter Ausschreibung mit Teilnahmewettbewerb ergab sich aus Sicht des nationalen Vorschriftengebers im Lichte der VgV zusätzlicher Regelungsbedarf für die Behandlung von Teilnahmeanträgen im Unterschwellenbereich. Dieser Bedarf war jedoch aus haushaltsrechtlicher Sicht und mangels Geltung der EU-Richtlinien für den Unterschwellenbereich nicht zwingend. Ob insbesondere die hohen Vertraulichkeitsanforderungen an die Übermittlung und Verschlusshaltung von Teilnahmeanträgen (wie bei Angeboten)[x] der mit der Reform beabsichtigen Schaffung zusätzlicher flexibler Regelungsansätze im Unterschwellenbereich dienen, darf mit einem vergleichenden Blick auf den 1. Abschnitt der VOL/A, der dazu nichts regelte, bezweifelt werden.
Ausblick auf Teil II: Verhandlungsvergabe vs. Freihändige Vergabe
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[i] Bundesanzeiger AT 07.02.2017 B1
[ii] BGBl. I S. 624
[iii] d.h. der Abschnitt 1 der Vergabe- und Vertragsordnung für Leistungen, Teil A – VOL/A
[iv] http://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Wirtschaft/reform-der-nationalen-vergaben.html[v] §§, 38 Abs. 4+8, 39, 40 Abs. 1 UVgO
[vi] § 6 Abs. 1 Haushaltsgrundsätzegesetz (HGrG), § 7 Abs. 1 Bundeshaushaltsordnung (BHO) entsprechend Landeshaushaltsordnungen (LHO)
[vii] Dem Abschluss von Verträgen über Lieferungen und Leistungen muss eine Öffentliche Ausschreibung oder eine Beschränkte Ausschreibung mit Teilnahmewettbewerb vorausgehen, sofern nicht die Natur des Geschäfts oder besondere Umstände eine Ausnahme rechtfertigen. (§§ 30 HGrG, 55 BHO/LHO)
[viii] Erstmals in Artikel 4 der Richtlinie 77/62/EWG des RATES vom 21. Dezember 1976 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge wurde diese Gleichrangigkeit des „offenen“ und „nicht offenen Verfahrens“ mittels öffentlicher Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften geregelt, die sich über alle nachfolgenden Richtlinien bis heute fortsetzte.
[ix] Artikel 65 RL 2014/24/EU, § 51 VgV
[x] Stichworte: Verschlossener Umschlag, Kennzeichnung, verschlossene Aufbewahrung bis zum Ablauf der Teilnahmefrist, Verbot der vorfristigen Kenntnisnahme vom Inhalt der Teilnahmeanträge
Michael Wankmüller
Herr Wankmüller war bis zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst Mitarbeiter im Vergaberechtsreferat des Bundeswirtschaftsministeriums. In dieser Funktion befasste er sich mit Fragen der Rechtsetzung im öffentlichen Auftragswesen. Hierzu gehörte auch die Mitwirkung bei Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien in deutsches Recht. Insbesondere war er zuständig für Fragen der elektronischen Auftragsvergabe, den Aspekten der innovativen und umweltfreundlichen Beschaffung und war zuletzt maßgeblich mit der Reform der Vergabe- und Vertragsordnung für Leistungen – Teil A 2009 (VOL/A – 2009) betraut. Bis heute ist er Mitautor und Kommentator vergaberechtlicher Fachliteratur (erschienen in der Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm GmbH München), hält Vergaberechtsseminare und ist beratend tätig.
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