Schon mit Beteiligung des Bieters am Vergabeverfahren entsteht ein vorvertragliches Schuldverhältnis, das wechselseitige Rechte und Pflichten auslöst. Die Verletzung dieser vorvertraglichen Pflichten kann zu Schadensersatzansprüchen führen. Das vorvertragliche Schuldverhältnis verpflichtet den öffentlichen Auftraggeber zur Einhaltung des jeweils anwendbaren Vergaberechtsregimes. Vergaberechtswidriges Verhalten kann eine Schadensersatzpflicht des Ausschreibenden insbesondere gegenüber übergangenen Bietern hervorrufen. Aber auch Bieter unterliegen einer Pflichtenbindung. Das OLG Naumburg hatte darüber zu entscheiden, ob der unterlassene Hinweis des – letztlich beauftragten – Bieters auf einen Planungsmangel in den Ausschreibungsunterlagen eine Schadensersatzpflicht auslöst.
Sachverhalt
Der Bieter und spätere Auftragnehmer nimmt an einer Ausschreibung betreffend Bauleistungen zur Erweiterung des Hochwasserschutzes einer Kläranlage teil. Nach dem Leistungsverzeichnis waren die Spundwandprofile über die gesamte Länge des Hochwasserschutzdeiches mit einer Lieferlänge von 2 m anzubringen. Vor Baubeginn meldet der Auftragnehmer Bedenken gegen diese Ausführung an. Daraufhin erfolgt eine statische Neuberechnung, die nun drei Abschnitte mit unterschiedlichen Spundwandlängen auswies, die teilweise bis zu 5 m betrugen. Die Mehrkosten von fast 250.000,00 EUR rechnete der Auftragnehmer in einen Nachtrag ab. Das OLG Naumburg hatte unter anderem zu prüfen, ob dem Auftraggeber ein Schadensersatzanspruch gegen den Auftragnehmer wegen unterlassener Überprüfung des Leistungsverzeichnisses vor Zuschlagerteilung zusteht.
Die Entscheidung
Einer generellen Prüf- und Hinweispflicht des Bieters im Ausschreibungs- und Angebotsstadium erteilte das Gericht eine Absage. Denn der Bieter nehme die Prüfung der Vergabe- und Vertragsunterlagen in Vorbereitung seines eigenen Angebots nur unter kalkulatorischen Aspekten vor. Eine derartige Pflicht würde im Ergebnis das Gefüge der widerstreitenden Interessen zwischen den potenziellen Vertragspartnern zu sehr zu Lasten des Bieters verschieben.
Aus dem allgemeinen Gebot zu korrektem Verhalten und Rücksichtnahme bei den Vertragsverhandlungen könne eine vorvertragliche Prüfungs- und Hinweispflicht des Bieters indessen dann hergeleitet werden, wenn die Verdingungsunterlagen evident fehlerhaft sind. Ein Bieter sei aber dann verpflichtet, auf Mängel der Ausschreibungsunterlagen hinzuweisen, wenn er die Ungeeignetheit der Ausschreibung vor Vertragsabschluss positiv erkennt bzw. etwaige Unstimmigkeiten und Lücken des Leistungsverzeichnisses klar auf der Hand liegen. Über die von ihm erkannten und offenkundigen Mängel der Vergabeunterlagen müsse er den Auftraggeber dann aufklären, wenn diese ersichtlich ungeeignet sind, das mit dem Vertrag verfolgte Ziel zu erreichen.
Rechtliche Würdigung
Das Gericht gelangt zu dem zutreffenden Ergebnis, dass eine Hinweispflicht nicht entstanden ist. Im Stadium der Vertragsanbahnung war der Bieter nicht gehalten, die von einem Sonderfachmann für die Ausschreibung eigens erstellte Statik einer eingehenden Überprüfung zu unterziehen. Vom Bieter kann somit als vorvertragliche Verpflichtung nicht abverlangt werden, die Ausschreibung auf Planungsmängel hin inhaltlich zu untersuchen und hierfür aufwändige eigene Recherchen anzustellen. Eine Schadensersatzhaftung wegen Hinweispflichtverletzung im Vergabeverfahren schied daher nach zutreffender Auffassung des Gerichts im konkreten Fall aus.
Praxistipp
Bieter sind grundsätzlich nicht verpflichtet, die Vergabeunterlagen in planerischer oder technischer Hinsicht zu überprüfen. Eine Hinweispflicht, deren Verletzung Schadensersatzansprüche auslösen oder die Geltendmachung von Nachtragsforderungen hindern kann, entsteht erst, wenn der Bieter die Ungeeignetheit der Ausschreibung vor Vertragsabschluss positiv erkennt bzw. etwaige Unstimmigkeiten und Lücken des Leistungsverzeichnisses klar auf der Hand liegen. Die Entscheidung des OLG Naumburg reiht sich nahtlos in die bisherige Linie der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung ein. Findige Bieter können Fehler im Leistungsverzeichnis ausnutzen. Das gilt jedenfalls bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit.
Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Herr Dr. Ott berät und vertritt bundesweit in erster Linie öffentliche Auftraggeber umfassend bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsvorhaben. Auf der Basis weit gefächerter Branchenkenntnis liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Gestaltung effizienter und flexibler Vergabeverfahren. Daneben vertritt Herr Dr. Ott die Interessen der öffentlichen Hand in Nachprüfungsverfahren. Er unterrichtet das Vergaberecht an der DHBW und der VWA in Stuttgart, tritt als Referent in Seminaren auf und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichen. Er ist einer der Vorsitzenden der Regionalgruppe Stuttgart des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW).
Sehr geehrter Herr Ott,
sie schreiben das Folgende im Ihrem Praxistipp:
Eine Hinweispflicht, deren Verletzung Schadensersatzansprüche auslösen oder die Geltendmachung von Nachtragsforderungen hindern kann, entsteht erst, wenn der Bieter die Ungeeignetheit der Ausschreibung vor Vertragsabschluss positiv erkennt bzw. etwaige Unstimmigkeiten und Lücken des Leistungsverzeichnisses klar auf der Hand liegen.
Das bedeutet doch für uns, dass wenn ein Bieter z. B. zu niedrig/ zu hoch geschätzte Mengen im LV für sich (also Positionen mit viel zu kleinen/hohen Einheitspreisen versieht) bewusst ausnutzt, dann hätte er darauf hinweisen müssen, oder???
Ich bin sehr gespannt auf Ihre Antwort.
Mit freundlichen Grüßen
Andreas Schmidt