Der Beitrag befasst sich anlässlich der aktuellen Entscheidung des OLG Hamburg zur Angebotsauswahl per Losentscheid mit den vergaberechtlichen Anforderungen an eine solche – aus Sicht der Autoren auf wenige Ausnahmefälle zu beschränkende – Verfahrensweise. Das OLG Hamburg äußert sich – anders als zuletzt die Vergabekammer Baden-Württemberg – vergleichsweise wohlwollend zur Zuschlagsentscheidung per Losentscheid. Darüber hinaus räumt das Gericht dem Auftraggeber relativ große Freiheiten bei der Ausgestaltung des Losverfahrens ein.
§ 97 Abs. 1, Abs. 2 GWB, § 127 Abs. 4 S. 1 GWB, § 75 Abs. 6 VgV
Sachverhalt
Der Entscheidung des OLG Hamburg lag ein Vergabeverfahren zur Lieferung von Streusalz zu Grunde. In diesem Verfahren sah der Auftraggeber neben dem Preis weitere Zuschlagskriterien vor. Bei Punktgleichheit sollte die Entscheidung in einem vorab nicht näher definierten Losverfahren fallen. In einem der zu vergebenden Lose trat schließlich genau dieser Fall ein, so dass das Losverfahren zur Anwendung kam. Hierfür zog der Auftraggeber drei Mitarbeiter aus seinem Justitiariat hinzu, die mit der Ausschreibung nicht befasst gewesen waren, und legte sechs Loszettel, je drei verschlossene Loszettel mit dem Namen des einen Bieters und drei des anderen Bieters in einen Losbehälter. Sodann ließ er jeden der hinzugezogenen Mitarbeiter je einen Loszettel ziehen. Die Loszettel wurden erst geöffnet, nachdem alle drei Lose gezogen waren. Zwei der Lose enthielten den Namen des einen Bieters und eines den des anderen Bieters. Der Auftraggeber dokumentierte die Durchführung des Losverfahrens im Vergabevermerk.
Die Entscheidung
Das OLG Hamburg ging in seiner Entscheidung zunächst davon aus, dass der unterlegene Bieter mit seiner Beanstandung des Losentscheids teilweise präkludiert gewesen sei, äußert sich dann aber doch ausführlich zur vergaberechtlichen Zulässigkeit des Losverfahrens.
Nach Auffassung des Gerichts gilt hier folgendes:
– Die grundsätzliche Zulässigkeit des Losentscheids folge aus der Natur der Sache, da bei einem Punktgleichstand schlichtweg keine anderweitige Differenzierung möglich sei. In diesen Fällen entspreche gerade der Losentscheid den vergaberechtlichen Grundsätzen der Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung, Verhältnismäßigkeit und Transparenz. Das mögliche Provozieren eines Punktgleichstands spielt nach Auffassung des OLG Hamburg keine Rolle. Es obliege dem Auftraggeber, welche Zuschlagskriterien er für erforderlich hält. Er sei nicht verpflichtet, diese um das nach seiner Meinung nach notwendige Maß zu ergänzen, um die Chancen auf einen möglichen Punktgleichstand zu verringern. Aufgrund der in der Praxis äußerst geringen Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Punktgleichstand kommen könne, sei auch keine Flucht in den Losentscheid durch öffentliche Auftraggeber zu befürchten, um sich den Mühen der Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebots zu entziehen.
– Auch die Art und Weise, wie der Losentscheid durchgeführt wurde, sei rechtlich nicht zu beanstanden. Mangels konkreter gesetzlicher Vorgaben sei es dem Auftraggeber überlassen, im Rahmen der allgemeinen Vergaberechtsgrundsätze zu bestimmen, welche Form des Losentscheides gewählt werden soll. Dieses Verfahren ist allerdings so zu wählen, dass für alle Teilnehmer am Losentscheid die gleichen Chancen bestehen, und ein hinreichender und den Umständen nach angemessener Schutz vor Manipulationen besteht. Um das zu gewährleisten, muss das Verfahren so gestaltet sein, dass es einerseits nicht zu schlicht, andererseits aber doch so übersichtlich ist, dass seine einzelnen Vorgänge ohne besonderen Aufwand erfassbar und überprüfbar sind. Diesen Anforderungen genügt das im entschiedenen Fall gewählte Verfahren.
– Der Auftraggeber war nicht gehalten, schon in den Vergabeunterlagen mitzuteilen, in welcher Weise er bei einer Gleichbewertung mehrerer Angebote das Los entscheiden lassen würde. In den Vergabeunterlagen ist anzugeben, welche Schritte der öffentliche Auftraggeber unternehmen wird, um aus den eingehenden Angeboten das zu ermitteln, welches den Zuschlag erhalten wird; diese Schritte müssen indessen nicht bis in einzelne hinein beschrieben werden.
– Es muss aber vor Beginn der Durchführung des Losentscheides sicher feststehen, wie die Durchführung erfolgen soll. Ansonsten bestünde tatsächlich die Gefahr einer Manipulation. Die Dokumentation der Durchführung des Losentscheides sollte daher im Vergabevermerk gleichsam zweigliedrig in der Weise erfolgen, dass vorab festgehalten wird, wie der Losentscheid durchgeführt werden soll, und sodann dessen tatsächliche Durchführung anhand dieser Vorgabe protokolliert wird.
Rechtliche Würdigung
Das OLG Hamburg gesteht den Auftraggebern deutlich mehr Freiheit bei der Wahl des Losentscheids zu als zuletzt die VK Baden-Württemberg (Beschl. v. 22.07.2019 – 1 VK 34/19). Die Vergabekammer hatte in der genannten Entscheidung grundlegende Bedenken gegen das Losverfahren geäußert und sah dieses nur unter strengen Anforderungen als zulässig an. Nach Auffassung der VK fehlt es beim Losentscheid an dem vom Vergaberecht geforderten Leistungs- und Eignungsbezug. Gegen die generelle Zulässigkeit des Losentscheids spreche zudem, dass es im Gegensatz zu § 75 Abs. 6 VgV, der ausdrücklich einen Losentscheid bei Architekten- und Ingenieursleistungen vorsehe, keine allgemeine ausdrückliche Ausnahmevorschrift gebe. Eine solche sei jedoch erforderlich, weil der Losentscheid gegen den Wettbewerbsgrundsatz verstoße. Gemäß § 127 Abs. 4 S. 1 GWB müssten die Zuschlagskriterien so festgelegt und bestimmt sein, dass sie einen effektiven Wettbewerb der konkurrierenden Angebote zulassen und das wirtschaftlichste Angebot den Zuschlag erhält. Demnach habe der Auftraggeber bei der Auswahl der Zuschlagskriterien im Rahmen des ihm grundsätzlich zustehenden Beurteilungsspielraums dem Sinn und Zweck der Norm Rechnung zu tragen. Daraus folge, dass die gewählten Zuschlagskriterien ein hinreichendes Differenzierungspotenzial haben müssten. Schöpft der Auftraggeber ein solches Differenzierungspotenzial nicht aus, sei das Losverfahren nicht gerechtfertigt.
Praxistipp
Auch wenn das OLG Hamburg im entschiedenen Fall eine Entscheidung im Losverfahren für vergaberechtlich zulässig gehalten hat, handelt es sich hierbei nicht um einen „Freifahrtschein“ für die „Flucht in den Losentscheid“. Es bleibt dabei, dass das Losverfahren nur ultima ratio ist, wenn sich in Ausnahmefällen trotz ausdifferenzierter leistungsbezogener Zuschlagskriterien ein Punktegleichstand ergibt. Keinesfalls sollte die Entscheidung als Einladung dafür verstanden werden, nun möglichst wenig aussagekräftige Auswahlkriterien zu wählen und anschließend zu losen. Schließlich sollte es auch unabhängig von vergaberechtlichen Erwägungen im Interesse des Auftraggebers sein, seine Zuschlagsentscheidung vorrangig an Sachkriterien auszurichten und nicht dem Zufall zu überlassen.
Kontribution
Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Rechtsanwalt Manuel Zimmermann verfasst.
Manuel Zimmermann ist Fachanwalt für Vergaberecht. Er berät seit 2016 sowohl Auftraggeber als auch Bieter bei verschiedensten Fragen des Vergaberechts. Seit Feburar 2020 ist er Anwalt der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH.
Dr. Rut Herten-Koch berät sowohl die öffentliche Hand und ihre Unternehmen als auch private Eigentümer, Investoren, Projektentwickler und Bieter in Vergabeverfahren. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrung in der Begleitung und Gestaltung komplexer Verfahren – sei es im Bauplanungs- oder im Vergaberecht. Darüber hinaus vertritt Rut Herten-Koch ihre Mandanten vor den Vergabenachprüfungsinstanzen und den Verwaltungsgerichten. Seit 2002 ist sie als Rechtsanwältin im Bereich öffentliches Recht und Vergaberecht in Berlin tätig. Rut Herten-Koch ist seit Juli 2015 Partnerin bei Luther.
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