Der seit dem 1. September 2019 für das Vergaberecht zuständige XIII. Zivilsenat des BGH stellt sich in einem sorgfältig begründeten Beschluss gegen die nahezu einhellige Rechtsprechung der OLG-Vergabesenate zur Ablehnungsfiktion des § 171 Abs. 2 GWB. Danach droht dem Antragsteller bei Untätigkeit der Vergabekammer nun nicht mehr der Verlust der ersten Instanz. Damit stärkt der BGH den Rechtsschutz des Antragstellers im Nachprüfungsverfahren.
§§ 167 Abs. 1, 171 Abs. 2, 172 Abs. 1 GWB
Leitsatz
Entscheidet die Vergabekammer über einen Antrag auf Nachprüfung nicht innerhalb der Frist des § 167 Abs. 1 GWB, gilt der Antrag nur dann nach § 171 Abs. 2 GWB als abgelehnt, wenn der Antragsteller innerhalb der Notfrist des § 172 Abs. 1 GWB sofortige Beschwerde einlegt.
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten um die Wirksamkeit eines Vertrags über die Anmietung von Bordrechnern und Fahrscheindruckern für Fahrzeuge des ÖPNV. Mit dem am 30. Dezember 2018 eingereichten Nachprüfungsantrag will der Antragsteller feststellen lassen, dass der Vertrag, den der Antragsgegner und der Beigeladene am 14. September 2018 geschlossenen haben, unwirksam ist. Der Antragsteller meint, die Beschaffung hätte unionsweit ausgeschrieben werden müssen.
Der Vorsitzende der Vergabekammer bestimmte den Termin zur mündlichen Verhandlung zunächst auf den 31. Januar 2019. Am 29. Januar 2019 hob er den Termin wieder auf und teilte den Beteiligten mit, dass ein neuer Termin von Amts wegen bestimmt werde. Das geschah mit Schreiben vom 5. Februar 2019, mit dem der Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 19. Februar 2019 bestimmt wurde. Mit Beschluss vom 25. Februar 2019 erklärte die Vergabekammer den Vertrag für unwirksam und verpflichtete den Antragsgegner, die Leistung bei fortbestehender Vergabeabsicht unionsweit auszuschreiben.
Auf die sofortige Beschwerde möchte das OLG Karlsruhe den Beschluss der Vergabekammer ohne sachliche Prüfung aufheben. Die Vergabekammer habe über den Nachprüfungsantrag nicht innerhalb der Frist des § 167 Abs. 1 Satz 1 GWB entschieden und die Entscheidungsfrist auch nicht verlängert. Mit Ablauf der Fünf-Wochen-Frist gelte der Nachprüfungsantrag daher nach § 171 Abs. 2 GWB als abgelehnt. Die Vergabekammer sei nach der (fingierten) Ablehnung nicht mehr befugt, noch einmal über den Streitgegenstand zu entscheiden.
Das OLG Karlsruhe sieht sich an der beabsichtigten Entscheidung durch die abweichende Rechtsprechung des OLG Rostock (Beschl. v. 17. Oktober 2001 – 17 W 18/00) und des KG Berlin (Beschl. v. 7. November 2001 – KartVerg 8/01) gehindert. Wegen dieser Divergenz legt das OLG die Sache mit Beschluss vom 20. November 2019 (15 Verg 4/19, n.v.) nach § 179 Abs. 2 Satz 1 GWB dem BGH vor.
Die Entscheidung
Der BGH legt § 171 Abs. 2 GWB dahin aus, dass der Nachprüfungsantrag mit Ablauf der fünfwöchigen (und ggf. verlängerten) Entscheidungsfrist des § 167 Abs. 1 GWB nur dann als abgelehnt gilt, wenn der Antragsteller innerhalb von zwei Wochen (§ 172 Abs. 1 GWB) die sofortige Beschwerde einlegt.
Der BGH zeigt zunächst, dass der Wortlaut des § 171 Abs. 2 GWB auch eine von der bisher herrschenden Meinung abweichende Lesart erlaubt. Danach ist der 2. Halbsatz des § 171 Abs. 2 GWB („in diesem Fall gilt der Antrag als abgelehnt“) auf den 1. Halbsatz bezogen. Die Ablehnung des Nachprüfungsantrags werde also (nur) in dem Fall fingiert, dass der Antragsteller nach § 171 Abs. 2, 1. Halbs. GWB die sofortige Beschwerde eingelegt hat.
Außerdem betrachtet der BGH die systematische Stellung des § 171 Abs. 2 GWB im Abschnitt über die sofortige Beschwerde (§§ 171 ff. GWB) und in der Norm über deren Zulässigkeit. Eine mit Ablauf der Entscheidungsfrist stets eintretende Ablehnungsfiktion hätte der Gesetzgeber sinnvollerweise nicht in diesem Kontext, sondern im Abschnitt über das Verfahren vor der Vergabekammer (§§ 162 ff. GWB) geregelt.
Schließlich zieht der BGH die Gesetzesbegründung zu der wortlautgleichen Vorgängernorm heran und diskutiert den Sinn und Zweck der Regelung. Daraus ergebe sich, dass der Gesetzgeber dem Antragsteller ein Instrument zur Verfahrensbeschleunigung an die Hand geben wollte, dass der Antragsteller nutzen kann, aber nicht nutzen muss.
Zur Bestätigung der damit gefundenen Auslegung verweist der BGH darauf, dass dieses Ergebnis auch mit den Anforderungen der Rechtsmittelrichtlinie in Einklang steht.
Rechtliche Würdigung
Der BGH kippt überraschend die seit der „Urzeit“ des Kartellvergaberechts quasi unangefochtene Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, nach der die Vergabekammer innerhalb einer absoluten zeitlichen Grenze entscheiden muss oder aber der Nachprüfungsantrag als abgelehnt gilt. Die Entscheidung des BGH ist vergleichsweise knapp begründet, sie überzeugt aber durch die konsequente Anwendung der klassischen Methoden der Gesetzesauslegung.
Praxistipp
Nach Ablauf der Entscheidungsfrist liegt es im Belieben des Antragstellers abzuwarten, bis die Vergabekammer in der Sache entscheidet. Das regelmäßig stärkere Interesse des Auftraggebers (und auch des beigeladenen Zuschlagsprätendenten) an einer zügigen Aufhebung des Zuschlagsverbots steht dahinter zurück. Er hat keine Möglichkeit, das Verfahren in die zweite Instanz zu heben und es so zu beschleunigen. Für die staatlichen Auftraggeber, die sich die (Un-)Tätigkeit der Vergabekammern in einem weiteren Sinne „zurechnen“ lassen müssen, mag das angehen. Für die außerhalb der öffentlichen Verwaltung stehenden Sektorenauftraggeber erhält das Nachprüfungsverfahren damit jedoch eine Unwucht.
Dr. Martin Kunde ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht bei Carl Hilger Becker & Partner Rechtsanwälte PartG mbB in Düsseldorf. Er berät Bieter und Auftraggeber im Vergaberecht und privaten Baurecht.
Gut erklärt!