Die Bundeskanzlerin hat in ihrem TV-Interview auf ARD am 02.02.2021 zurückblickend die bisherige Bewältigung der Corona-Pandemie in Deutschland als gut bewertet (Merkel im ARD-Interview, Tagesschau). Ihr Ausspruch: „Ich glaube, dass im Großen und Ganzen nichts schief gelaufen ist“, wird nicht von Allen geteilt. So liegt Deutschland im Vergleich vor Ländern wie Israel oder das Vereinigte Königreich deutlich zurück, was die Durchimpfung der Bevölkerung angeht. Eingekauft wurde der Impfstoff bekanntermaßen „zentral“ über die EU-Kommission. Im Handelsblatt vom 25.01.2021 bezeichnete Gerd Kerkhoff die Beschaffung als ein „Vollversagen“ und gibt der EU die Note 6 („ungenügend“) (siehe ) und in einem Podcast von Capital vom 02.02.2021 ruft er nach einem „Beschaffungsminister“. Der Geschäftsführer des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW), Marco Junk, sprach dazu mit Rechtsanwalt Dr. Roderic Ortner, da dieser seit vielen Jahren nicht nur deutsche Behörden, sondern auch internationale Organisation bei ihren Beschaffungen berät und ein ausgewiesener Experte der Beschaffungsregeln der EU Institutionen ist.
Junk: Herr Dr. Ortner, teilen Sie den Satz der Kanzlerin?
Ortner: Aus beschaffungsrechtlicher Sicht gebe ich der Kanzlerin recht. Das Vergaberecht ist nicht das Problem, da es sog. Dringlichkeitsvergaben zulässt und diese in Anbetracht der Pandemie auch allenthalben praktiziert werde. Die Europäische Kommission hat dazu schon unlängst in einer Leitlinie von Anfang April letzten Jahres eine Art Freibrief erteilt. Und auch hier handelte es sich um Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb, d.h. quasi um Direktvergaben. Der Preis spielt dann allein aus haushaltsrechtlicher Sicht eine Rolle. Aber auch das Haushaltsrecht sieht natürlich bei solchen Situationen Ausnahmen vor.
Junk: Wo sehen Sie die Probleme?
Ortner: Das eigentliche Problem ist kein rechtliches, sondern ein faktisches und strukturelles. Faktisch, da die ganze Welt den Impfstoff benötigt. Wir haben es mit einem seltenen Gut zu tun, und das ist aus Beschaffersicht eine ungewohnte Situation, hier fehlen dann die Mechanismen. Ein strukturelles Problem ist es dann, wenn bei einer zentral gesteuerten Beschaffung Mitgliedstaaten der Vergabestelle reinreden und somit den Prozess verlangsamen.
Junk: Wie meinen Sie das?
Ortner: Auf dem Papier stehen der EU Kommission oft viele Rechte zu, doch de facto reden im Hintergrund die Mitgliedstaaten mit und die EU Kommission würde sich nicht ohne weiteres über kritische Stimmen solcher Mitgliedstaaten hinwegsetzen, vor allem übrigens nicht von Deutschland. Wenn zum Beispiel ein Mitgliedstaat Einwände gegen eine völlige Haftungsfreistellung in einem Vertrag zur Beschaffung von Vakzinen erhebt, dann wird sich die EU Kommission, die hier als Vergabestelle auftritt, mit solchen Einwänden befassen. Eine auf Konsens ausgerichtete EU ist ja im Grunde auch richtig, hat aber bei Dringlichkeitsvergaben nichts zu suchen.
Junk: Was bedeutet dies dann für den Beschaffer in Deutschland? Bedarf es, wie der Beschaffungsexperte Kerkhoff meint, eines Beschaffungsministers?
Ortner: Zunächst einmal kannte ich Herrn Kerkhoff vor diesen Beiträgen in Handelsblatt oder Capital gar nicht. Ich berate seit 17 Jahren Beschaffer und Herr Kerkhoff hat auf keiner der vielen Beschafferkonferenzen, die ich besucht hab, vorgetragen. Ich kenne den Mann schlicht nicht. Ich finde es daher gefährlich, wenn selbst ernannte Beschaffungsexperten mit wenig fundierten Aussagen um sich werfen. Also nein, wir brauchen keinen Beschaffungsminister. Ein Beschaffungsminister würde jede Beschaffung noch träger machen, als sie ohnehin schon oft sind. Wir haben ja bereits zentrale Beschaffungsstellen, und diese werden von der EU Kommission auch gern gesehen. Meiner Erfahrung nach stellen solche Zentrale Beschaffungsstellen dann aber schnell das Nadelöhr dar. Zentrale Beschaffungsstellen ergeben Sinn, wenn sie sog. Commodities of the Shelf beschaffen, aber nicht, wenn es komplizierter wird. Da ist im Gegenteil die Dezentralisierung das richtige Rezept.
Junk: Und wie sollte es Ihrer Meinung nach bei den Impfstoffen ablaufen?
Ortner: Da ergibt nur eine gemeinsame Beschaffung und eine gemeinsam koordinierte und geregelte Verteilung Sinn. Dass die Zuständigkeit dafür bei der EU liegen muss, ist schon richtig. Jede Insellösung ist Gift für den Kampf gegen das Virus. Denn dort, wo man dem Virus freien Lauf lässt, entstehen Mutanten, gegen die ein aktuelles Vakzin nicht mehr hilft. Siehe Südafrika. Und diese Mutanten können dann auch in den Staat eingeschleppt werden, der sich mit Vakzinen zum Nachteil anderer massiv eingedeckt hat. Der EU Kommission als Beschaffungsbehörde muss daher nicht weniger, sondern mehr Einkaufshoheit bei Notvergaben eingeräumt werden.
Junk: Nun vertrat die Bundesregierung aber bei anderen wichtigen, nicht minder europäischen Themen, die Haltung, dass im nationalen Alleingang zu machen. Nehmen Sie nur die Energiewende oder die Flüchtlingskrise.
Ortner: Das ist richtig, und vor allem bei der Flüchtlingskrise hat sich ja auch gezeigt, dass eine europäische Lösung besser wäre. Dazu müssen aber alle mitmachen. Die EU ist ja keine abstrakte Einrichtung, die von Brüssel aus über unsere Köpfe bestimmt, sondern die EU besteht aus ihren Mitgliedstaaten und jeden Tag sprechen sog. Delegierte miteinander und treffen Entscheidungen. Wenn sie zu keiner Entscheidung kommen und Einstimmigkeit erforderlich ist, dann bleiben nur noch nationale Alleingänge. Beim Impfstoff kam es ja zu einer einheitlichen Entscheidung.
Junk: Herr Kerkhoff vertrat im angesprochenen Handelsblattbeitrag die Auffassung, die EU hätte sich von den Impfstoffherstellern schneller mehr Impfstoffe sichern müssen, egal, zu welchem Preis. Er betont, dass es anderen Ländern offenkundig gelungen sei, mehr Impfstoff für sich zu sichern.
Ortner: Herr Kerkhoff tut so, als sei er bei den Verhandlungen dabei gewesen. Es war und ist allen Beteiligten klar, dass nicht so schnell so viele Impfstoffe produziert werden können, um die ganze Welt schnell zu versorgen. Ich hatte schon den Eindruck, dass die Kommission so viel beschafft hat, wie sie von den Herstellern bekommen konnte. Die EU hat hunderte von Millionen in Forschung und Entwicklung des Impfstoffs investiert und vor Zulassung bestellt. Ich finde es richtig, wenn wir vor diesem Hintergrund auch über den Preis verhandeln. Da einfach von „Vollversagen“ der EU zu sprechen, ist unverständlich. Worin ich der Kritik beipflichte ist, dass es ein strukturelles Problem gibt, wie ich es eben beschrieb. Was Kerkhoff auch unterschlägt ist, dass zum Beispiel Astra Zeneca schon früh mitgeteilt hat, zu Selbstkostenpreisen zu entwickeln. Kerkhoff wiederholt lehrbuchartig, dass allein der unmittelbare Profit die Monopolisten antreibe, und shareholder value, Preisverhandlungen ergo zwecklos seien, ohne dies tatsächlich belegen zu können. Es gibt bereits etliche Hersteller von Impfstoffen und es kommen weitere hinzu, das nenn ich kein Monopol. Wir haben es also nicht mit einem Monopol zu tun, sondern mit einer immensen Nachfrage, die das Angebot klar übersteigt.
Junk: Am Ende zählt, was hinten rauskommt, hat Helmut Kohl gesagt. Was hätte man dann tun sollen? Denn immerhin wurde die Entwicklung des Impfstoffs von BioNTech/Pfizer mit Millionen deutscher Steuermittel gefördert. Fehlte der Mut oder die rechtlichen Instrumente?
Ortner: Zunächst hätte man die Bevölkerung noch stärker aufklären sollen, dass die Produktion von Impfstoffen andauert, es wurden zu schnell falsche Hoffnungen geweckt. Und es gibt rechtliche Instrumente. Die Beschaffungssituation gebietet es zu prüfen, ob die Hersteller zur Herstellung solcher Impfstoffe zu Selbstkostenerstattungspreisen (mit festem Gewinnaufschlag) verpflichtet werden könnten, und auch zur Unterlizenzierung und zur Erhöhung ihrer Kapazitäten. Exportverbote sind ein weiteres solches Instrument, mit dem man aber vorsichtig sein sollte. Solche Instrumente werden nun teilweise – auch auf freiwilliger Basis – umgesetzt. Ich bin zuversichtlich, dass die Produktion in Schwung kommt, es werden immer mehr Impfstoffe zugelassen. Fair und rechtlich geboten wäre es freilich, die Abgabemengen nur reguliert zu verteilen, von der WHO organisiert. Dies wird de facto aber nicht durchgesetzt werden können, so dass wir noch länger die Grenzen zu ärmeren Ländern dieser Welt schließen werden.
Junk: Um die Vorwürfe gegen die EU-Kommission zu entkräften wurde die Verträge mit den Herstellern öffentlich gemacht, allerdings nicht vollständig, sondern in Teilen geschwärzt. Was sagen die nicht geschwärzten Teile über die Beschaffung aus? Da ist von „best-effort“-Klauseln die Rede?
Ortner: Best-effort-Klauseln sind im internationalen Geschäftsverkehr nicht unüblich. Stellen Sie sich vor, sie beschaffen eine Technologie, die es so am Markt noch nicht gibt. Ein Unternehmen wird dem Beschaffer keine Garantie geben können und übrigens stets nach Haftungsfreistellung oder zumindest einer Haftungsbegrenzung streben. Best-effort-Klauseln sind also dort angebracht, wo es technische Risiken bei der Produktion gibt. Bei den Impfstoffen besteht aus Sicht der Hersteller das Risiko, dass sie die gewünschte Menge nicht in der Zeit produzieren können, da der Herstellungsprozess komplex ist, vor allem bei den biologischen Impfstoffen, wie sie Astra Zeneca herstellt. Wenn allerdings ein Hersteller mehrere Verträge mit entsprechenden best-effort-Regeln abschließt, dann aber die Produktionsmenge ungleich verteilt, dann hat das mit dem Sinn und Zweck von best effort nichts zu tun. Das könnte dann gegen eine solche Regel verstoßen und zu Schadensersatz führen. Aber eine Aussage konkret zu Astra Zeneca kann ich nicht treffen, der Jurist sagt da: Das müsste ich erstmal gründlich prüfen. Ich bin zuversichtlich, dass die die Juristen der EU das tun werden, auch wenn das nicht gegen die Impfstoffknappheit helfen wird.
Junk: Wir schaffen es innerhalb der Grenzen Deutschlands nicht einmal, eine homogene Verimpfung sicherzustellen. Je nach Wohnort sind Risikogruppen früher oder später dran oder eben leider zu spät. Warum soll ausgerechnet die EU das besser machen?
Ortner: Die EU kann es nur besser machen, wenn Deutschland diese Kompetenz auch mitträgt, und Deutschland besteht bekanntlich aus 16 Bundesländern. Dem Virus sind die Grenzen der Länder der EU ja völlig egal. Und wenn wir unsere Dienstleistungsfreiheit, Reisefreiheit, den freien Austausch von Waren und Dienstleistungen in der EU, den kulturellen Austausch, den Studienaustausch bewahren wollen, dass muss die EU einheitliche und effiziente Regeln und Mechanismen für den Fall einer Pandemie in der Tasche haben, und das gilt auch für die Herstellung eines Vakzins und dessen Verteilung. Es darf kein Raum für nationale Alleingänge geben, die dann zu völlig unlogischen mit dem einfachen Menschenverstand nicht nachvollziehbaren Situationen führen, die die Bevölkerung nicht mehr versteht, was wiederum brandgefährlich für eine Demokratie sein kann. Wir erleben dies derzeit bei uns vor der Haustür zwischen den Ländern.
Solche Regeln und Mechanismen zu etablieren dürfte eine der wichtigsten Aufgaben der Politik in den nächsten beiden Jahren sein, da man ein neues Virus leider nicht ausschließen kann. Dies sorgt auch für Transparenz und letztlich mehr Akzeptanz. Rechtlich ist dies nach den EU-Verträgen möglich. Es geht nicht an, dass sich ein Staat wegen Weihnachten gegen einen Lockdown entscheidet und dadurch das Virus von Lockdown-Flüchtlingen aus einem anderen Mitgliedstaat anzieht und dann vor riesen Problemen steht – siehe Portugal. Unkoordinierte Maßnahmen führen zu einem ewigen Jojo-Effekt. Das darf sich nicht wiederholen.
Junk: Vielen Dank für das Interview und Ihre Einschätzungen, Herr Dr. Ortner.
Roderic Ortner ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht sowie Fachanwalt für IT-Recht. Er ist Partner in der Sozietät BHO Legal in Köln und München. Roderic Ortner ist spezialisiert auf das Vergabe-, IT und Beihilferecht und berät hierin die Auftraggeber- und Bieterseite. Er ist Autor zahlreicher Fachbeiträge zum Vergabe- und IT-Recht und hat bereits eine Vielzahl von Schulungen durchgeführt.
Der Jurist Marco Junk gründete im Jahr 2007 den Vergabeblog und 2010 gemeinsam mit Dipl.-Betriebsw. Martin Mündlein das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW). Er begann seine berufliche Laufbahn im Jahr 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und war danach als Bereichsleiter Vergaberecht beim Digitalverband bitkom tätig. Im Jahr 2011 leitete er die Online-Redaktion des Verlags C.H. Beck. Von 2012 bis 10/2014 war er Mitglied der Geschäftsleitung des bitkom und danach bis 10/2021 Geschäftsführer des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. Seit 2022 ist Marco Junk zudem als Leiter Regierungsbeziehungen für Eviden tätig. Seine Beiträge geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
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