Der EuGH verlangt von öffentlichen Auftraggebern die Angabe einer Höchstgrenze bei der Vergabe von Rahmenvereinbarungen.
Art. 49 RL 2014/24/EU; Art. 33 RL 2014/24/EU; Art. 18 Abs. 1 RL 2014/24/EU; Art. 2d Abs. 1 lit. a RL 89/665/EWG
Bereits im Jahr 2018 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) bezüglich der Vergabe von Rahmenvereinbarungen entschieden, dass eine Höchstgrenze zu benennen ist (EuGH, Urteil vom 19.12.2018 – Rs. C-216/17). Grundlage des damaligen Urteils war allerdings noch die Richtlinie 2004/18/EG. In der Folge wurde diskutiert, inwiefern diese Entscheidung auf die aktuelle Rechtslage übertragbar ist (Schröder, Vergabeblog.de vom 28.01.2019, Nr. 39655). Die Vergabekammer des Bundes lehnte eine Übertragbarkeit ab (VK Bund, Beschluss vom 19.07.2019 – Az. VK1-39/19). Sie führte mit Verweis auf Art. 49 i.V.m. Anhang V Teil C Nr. 10a) der Nachfolgerichtlinie 2014/24/EU aus, dass der Wert oder die Größenordnung der zu vergebenden Rahmenvereinbarung nur noch „soweit möglich“ anzugeben sei. Auch das Kammergericht in Berlin kam in einem Beschluss zum Sektorenvergaberecht zu dem Ergebnis, dass eine Pflicht zur Angabe einer verbindlichen Höchstabnahmemenge dem europäischen Recht nicht zu entnehmen sei (KG, Beschluss vom 20.03.2020 – Az. Verg 7/19*).
Nunmehr hat sich der EuGH mit dieser Thematik auf Grundlage der aktuellen Rechtslage befasst.
Sachverhalt
Mit Auftragsbekanntmachung vom 30.04.2019 leiteten zwei dänische Regionen ein offenes Verfahren mit dem Ziel ein, eine Rahmenvereinbarung über den Erwerb von Ausrüstung für die künstliche Ernährung über Sonden zu schließen.
Die Auftragsbekanntmachung enthielt weder Angaben zum geschätzten Wert der Beschaffungen auf Grundlage der Rahmenvereinbarung noch zum Höchstwert der Rahmenvereinbarung oder zur geschätzten Menge oder Höchstmenge der nach der Rahmenvereinbarung zu beschaffenden Waren.
Den Vergabeunterlagen waren allerdings Schätzungen in Gestalt von erwarteten Verbrauchsmengen zu entnehmen. Zugleich wurde in den Vergabeunterlagen aber klargestellt, dass der tatsächliche Verbrauch höher oder niedriger sein könne. Überdies sollte die Rahmenvereinbarung nicht exklusiv sein, sodass eine Beschaffung ähnlicher Waren von anderen Unternehmen möglich bleiben sollte.
Ein Unternehmen hielt die Ausgestaltung des Vergabeverfahrens für rechtswidrig und wandte sich an den zuständigen Beschwerdeausschuss in Dänemark. Nach Auffassung des Unternehmens war die Angabe einer Höchstmenge der über die Rahmenvereinbarung abrufbaren Waren oder die Angabe des Höchstwerts der Rahmenvereinbarung erforderlich.
Der angerufene Beschwerdeausschuss setzte das Verfahren daraufhin aus und legte die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.
Die Entscheidung
Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass die Angabe einer Höchstgrenze bei der Vergabe von Rahmenvereinbarungen erforderlich sei. Dieser Pflicht könne ein öffentlicher Auftraggeber durch Nennung einer Höchstmenge oder eines Höchstwertes nachkommen.
Zur Begründung verweist das Gericht auf die in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24/EU genannten Grundsätze der Gleichbehandlung und der Transparenz sowie die allgemeine Systematik der Richtlinie. Es sei nicht hinnehmbar, dass öffentliche Auftraggeber keine Angaben zu einer Höchstgrenze der abrufbaren Waren machen. Eine solche Angabe habe erhebliche Bedeutung, da die Unternehmen mithilfe dieser Information beurteilen können, ob sie zur Erfüllung der Verpflichtungen aus der Rahmenvereinbarung in der Lage sein werden. Ein öffentlicher Auftraggeber müsse deshalb neben der Schätzmenge und/oder dem Schätzwert auch eine Höchstmenge und/oder einen Höchstwert nennen.
Klarstellend weist das Gericht darauf hin, dass die Nennung nicht zwingend in der Auftragsbekanntmachung zu erfolgen habe. Die erforderliche Angabe könne auch in die Vergabeunterlagen aufgenommen werden.
Ferner arbeitet der EuGH heraus, dass nicht nur eine Höchstgrenze genannt werden müsse, sondern dass diese auch verbindlich gelte. Wäre die Angabe nicht rechtlich verbindlich, könnten sich öffentliche Auftraggeber über diese Höchstgrenze einseitig hinwegsetzen. Dann könnte beispielsweise ein Zuschlagsempfänger wegen Nichterfüllung der Rahmenvereinbarung vertraglich haftbar gemacht werden, wenn er die vom öffentlichen Auftraggeber geforderten Mengen nicht liefern kann, selbst wenn diese Mengen die bekanntgemachte Höchstgrenze überschreiten. Dies würde den in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24/EU verankerten Transparenzgrundsatz verletzen.
Hinsichtlich der Rechtsfolge, die bei Erreichen der Höchstgrenze eintritt, führt der EuGH ohne nähere Begründung aus, dass dann die Rahmenvereinbarung „ihre Wirkung“ verliere.
Des Weiteren hat sich das Gericht mit der Frage befasst, ob bei der Beteiligung mehrerer öffentlicher Auftraggeber für jeden Auftraggeber eine eigene Höchstgrenze und/oder eine Gesamthöchstgrenze zu benennen sei. Hier hält der EuGH eine Gesamtangabe für ausreichend. Eine solche Angabe genüge den Anforderungen der Transparenz und der Gleichbehandlung. Zugleich weist das Gericht aber auch auf die Möglichkeit der Bereitstellung weitergehender Informationen hin.
Im Übrigen stellt der Gerichtshof fest, dass zwar die bloße Nennung einer Schätzmenge und/oder eines Schätzwertes in den Vergabeunterlagen bei gleichzeitig fehlender Nennung einer Höchstmenge und/oder eines Höchstwertes einen Vergabeverstoß darstelle. Dieser Verstoß sei jedoch nicht so schwerwiegend, um in die Kategorie der (schwebend) unwirksamen De-facto-Vergaben zu fallen. Im Gegensatz zu der De-facto-Vergabe, bei der gar keine Auftragsbekanntmachung erfolge, könne hier der Wirtschaftsteilnehmer, der ein Angebot abgeben möchte, den betreffenden Vergabeverstoß bemerken und sei deshalb als gewarnt anzusehen.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung des EuGH bezüglich der Pflicht zur Nennung einer Höchstgrenze ist insbesondere in Anbetracht des Transparenzgebots vertretbar. Die Nennung einer Höchstgrenze in der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen führt zweifelsohne zu einer höheren Transparenz. Durch eine solche Angabe wird für die Bieter eine gewissen Planungssicherheit geschaffen. Sie können vor der Angebotsabgabe besser abschätzen, ob sie in der Lage sein werden, bis zu der angegebenen Höchstgrenze Leistungen zu erbringen.
Sollte ein öffentlicher Auftraggeber dennoch keine Höchstgrenze benennen, dürfen Bieter, die ihre Rechte wahren wollen, in Anbetracht der Präklusionsvorschrift in § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und 3 GWB auch nach der EuGH-Entscheidung nicht ohne weiteres untätig bleiben. Nach der vorgenannten Norm müssen erkennbare Vergabeverstöße spätestens bis zum Ablauf der Angebotsfrist gerügt werden. Sollte ein Bieter auf eine solche Rüge verzichten und zunächst die Mitteilung über das Wertungsergebnis in Gestalt des Vorabinformationsschreibens nach § 134 GWB abwarten, dürfte ein späterer Nachprüfungsantrag regelmäßig auf der Zulässigkeitsebene an der vorgenannten Präklusionsvorschrift scheitern. Dementsprechend wies das KG eine sofortige Beschwerde zu einem Verfahren zurück, bei dem die Antragstellerin erst nach Abgabe des finalen Angebots und nach Erhalt des Vorabinformationsschreiben die Angabe einer Höchstgrenze gefordert hat (KG, Beschluss vom 20.03.2020 – Az. Verg 7/19). Zur Begründung verwies das KG zutreffend auf den Sinn und Zweck der Präklusionsvorschrift. Es soll vermieden werden, dass von vornherein aufgrund der Vergabeunterlagen erkennbare Verstöße erst nach Ablauf der Angebotsfrist mit der dann erheblich erschwerten Fehlerkorrektur gerügt werden. Zugleich soll vermieden werden, dass erkennbare Vergaberechtsverstöße in der Hoffnung, dennoch den Zuschlag zu erhalten, zurückgehalten und erst dann angebracht werden, wenn nach Prüfung der Angebote einem anderen Bieter der Zuschlag erteilt werden soll. Daran hat sich auch durch die EuGH-Entscheidung nichts geändert.
Im Übrigen bleiben bezüglich der Durchführung der Rahmenvereinbarung noch einige Fragen offen:
– So wird unter anderem zu klären sein, wie weit die Schätzmenge und die Höchstmenge konkret auseinander liegen dürfen.
– Des Weiteren bleibt abzuwarten, inwiefern eine Auftragsänderung nach § 132 GWB bei einem absehbaren Erreichen der Höchstgrenze zulässig ist. Im Jahr 2019 ging die Vergabekammer des Bundes noch davon aus, dass bereits ein Überschreiten der Schätzmenge eine wesentliche Änderung im Sinne von § 132 Abs. 1 GWB darstellt, die grundsätzlich zur Pflicht einer Neuausschreibung führt (VK Bund, Beschluss vom 29.07.2019 – Az. VK 2-48/19). Diese Auffassung dürfte nach der EuGH-Entscheidung nicht mehr vertreten werden, da der Gerichtshof ausdrücklich zwischen der Schätzmenge und der Höchstmenge unterscheidet. Insofern müssen Leistungsabrufe oberhalb der Schätzmenge unproblematisch sein, solange sie unterhalb der Höchstmenge liegen.
– Ferner stellt sich die Frage, wie der EuGH bezüglich des Satzes zu verstehen ist, dass eine Rahmenvereinbarung mit Erreichen der Höchstgrenze „ihre Wirkung“ verliere. Dieser Frage dürfte zwar bei einer einseitig verbindlichen Rahmenvereinbarung keine praktische Relevanz zukommen, wenn man die Auffassung vertritt, dass gesonderte Einzelvergaben „an der Rahmenvereinbarung“ vorbei möglich sind (VK Rheinland, Beschluss vom 23.06.2020 – Az. VK 15/20). Denn in solchen Fällen kann es dahinstehen, ob die Höchstgrenze bereits vor Ablauf der vereinbarten Laufzeit erreicht ist. Ein öffentlicher Auftraggeber kann dann seinen Bedarf einfach über gesonderte Einzelvergaben decken, selbst wenn das Ende der vereinbarten Laufzeit noch nicht erreicht ist. Deutlich relevanter dürfte die Frage jedoch sein, wenn man die Auffassung vertritt, dass mit Abschluss der Rahmenvereinbarung eine Sperrwirkung für die erneute Vergabe desselben Auftragsgegenstands eintritt (Müller-Wrede, VergabeNavigator, Sonderausgabe 2019). In diesem Fall wird man prüfen müssen, ob mit Erreichen der Höchstgrenze vor Ablauf der ursprünglich vereinbarten Laufzeit die Rahmenvereinbarung automatisch endet oder ob es einer gesonderten Kündigung bedarf.
Im Ergebnis ist davon auszugehen, dass trotz der klarstellenden EuGH-Entscheidung auch in Zukunft über die konkrete Ausgestaltung von Vergabeverfahren für Rahmenvereinbarungen diskutiert werden wird.
Praxistipp
Für öffentliche Auftraggeber liegt es auf der Hand, dass sie spätestens ab jetzt bei der Vergabe von Rahmenvereinbarungen einen Schätzwert und/oder eine Schätzmenge sowie einen Höchstwert und/oder eine Höchstgrenze benennen. Ein solches Vorgehen ist in der Regel in Anbetracht der vorzunehmenden Auftragswertschätzung mit keinem überdurchschnittlichen Aufwand verbunden.
Des Weiteren sollte ein öffentlicher Auftraggeber darüber nachdenken, ob er vorsorglich das Erreichen der Höchstmenge als auflösende Bedingung in die Vertragsunterlagen aufnimmt.
Bietern dürfte wiederum zu empfehlen sein, sich bei der Prüfung von Vergabeunterlagen zu Rahmenvereinbarungen möglichst frühzeitig die Frage zu beantworten, ob eine Höchstgrenze fehlt und ob eine solche Höchstgrenze Auswirkungen auf die Kalkulation hätte. Sofern sich ein Bieter beide Fragen mit „ja“ beantwortet, spricht einiges für eine Rüge gegenüber dem Auftraggeber.
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* Der Autor war Verfahrensbevollmächtigter in dem betreffenden Nachprüfungsverfahren, KG, Beschluss vom 20.03.2020 – Az. Verg 7/19.
Fabian Winters, LL.M., ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht und Partner bei LEXTON Rechtsanwälte. Er berät vornehmlich öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung und Durchführung von Vergabeverfahren zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen. Darüber hinaus vertritt er die öffentliche Hand in Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern, den Vergabesenaten der Oberlandesgerichte und sonstigen Nachprüfungsstellen. Des Weiteren berät er Bieter bei der Angebotserstellung und Durchsetzung ihrer Rechte sowie nationale und internationale Unternehmen im IT- und Datenschutzrecht sowie bei baurechtlichen Fragestellungen.
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