Das BayObLG hat sich in seiner Entscheidung mit gewichtigen Aspekten der Zuverlässigkeit eines Bieterunternehmens, den Anforderungen an eine Auskömmlichkeitsprüfung sowie dem Beurteilungsspielraum des öffentlichen Auftraggebers befasst. Die Ausführungen des Gerichts zu diesem „Potpourri“ haben für künftige Beschaffungsvorhaben sowohl für das Vergabeverfahren als auch hinsichtlich des vergaberechtlichen Rechtsschutzes Relevanz.
§§ 124 Abs. 1, 127 Abs. 1 u. 4 GWB; § 60 VgV
Leitsätze (nicht amtlich)
- „Schwere Verfehlungen“ sind – schuldhaft begangene – erhebliche Rechtsverstöße, die geeignet sind, die Zuverlässigkeit eines Bewerbers grundlegend in Frage zu stellen. Sie müssen bei wertender Betrachtung vom Gewicht her den zwingenden Ausschlussgründen des § 123 GWB zumindest nahekommen. Außerdem muss eine solche Verfehlung die Integrität des Unternehmens in Frage stellen. Dem öffentlichen Auftraggeber steht diesbezüglich ein Beurteilungsspielraum zu. Wirbt ein Bieterunternehmen Mitarbeiter eines Konkurrenten ab, ist dies in der Regel nicht als schwere Verfehlung zu qualifizieren. Ein Auftraggeber kann nicht pauschal von einer schweren Verfehlung auf die Unzuverlässigkeit eines Bieters schließen.
- Wird eine sog. Aufgreifschwelle überschritten, ist der öffentliche Auftraggeber grundsätzlich verpflichtet, den Angebotspreis zu überprüfen (Auskömmlichkeitsprüfung). Bezugspunkt ist der prozentuale Abstand zum nächsthöheren Angebot. Die Höhe der maßgeblichen Aufgreifschwelle wird in der vergaberechtlichen Rechtsprechung unterschiedlich eingeschätzt. Bei einem Preisabstand von unter 10 % zum nächsthöheren Angebot ist die Vergabestelle jedenfalls nicht gehalten, den betreffenden Preis aufzuklären.
- Bei der Angebotswertung nach § 127 Abs. 1 Satz 2 GWB steht dem öffentlichen Auftraggeber ein Entscheidungsspielraum zu, der nur eingeschränkt überprüfbar ist.
Sachverhalt
Die Auftraggeberin (und spätere Antragsgegnerin) initiierte ein offenes Vergabeverfahren, um Objektschutz-, Alarm- und Interventionsdienstleistungen zu beschaffen. Maßgebliches Zuschlagskriterium war neben Qualitätskriterien der Endpreis des Angebotes. Die Preise (Einzelpreise und Endpreis) konnten intern in ein Preisblatt eingetragen werden. Dieses war erst auf Nachfrage der Auftraggeberin vom Bieter vorzulegen. Die Antragstellerin reichte im Rahmen des Vergabeverfahrens ein Angebot ein. Sie erreichte jedoch nicht die höchste Punktzahl, was ihr die Auftraggeberin im Rahmen eines Informationsschreibens nach § 134 GWB mitteilte. Die Antragstellerin rügte daraufhin, die (später beigeladene) Zuschlagsdestinatärin sei auszuschließen. Diese habe nachweislich schwere Verfehlungen aufgrund wettbewerbswidrigen Verhaltens begangen. Demnach hätten Mitarbeiter der Beigeladenen versucht, während der Arbeitszeit Mitarbeiter der Antragstellerin an deren Arbeitsstelle abzuwerben. So seien Visitenkarten überreicht worden. Die Beigeladene wolle auch weitere Mitarbeiter der Antragstellerin ab Auftragsbeginn übernehmen. Die Antragstellerin folgerte daraus, die Beigeladene verfüge nicht über ausreichend Personal, um den Auftrag ausführen zu können.
Ferner rügte die Antragstellerin u. a., die Auftraggeberin habe es unterlassen, das Preisblatt anzufordern und zu überprüfen. Das Angebot der Beigeladenen sei nicht auskömmlich. Außerdem seien die Angebote (abstrakt betrachtet) nicht vergleichbar, da es an Informationen gefehlt habe, wie einzelne Preisblattpositionen zu kalkulieren seien.
Nachdem die Auftraggeberin den Rügen nicht abhalf, stellte die Antragstellerin – im Ergebnis erfolglos – einen Nachprüfungsantrag bei der VK Südbayern. Nach Ansicht der Vergabekammer (B. v. 10.02.2021 – AZ.: 3194.Z3-3-01-20-39) sei der Antrag insbesondere offensichtlich unbegründet. Die Beigeladene sei weder selbst nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB als unzuverlässig noch ihr Angebot gemäß § 60 Abs. 3 Satz 1 VgV auszuschließen.
Daraufhin legte die Antragstellerin gegen diese Entscheidung sofortige Beschwerde ein und beantragte, die aufschiebende Wirkung bis zur Entscheidung gemäß § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB zu verlängern.
Sie vertrat u. a. die Ansicht, die Beigeladene sei gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB wegen eines Wettbewerbsverstoßes vom Vergabeverfahren auszuschließen. Indem diese versuchte habe, Mitarbeiter der Antragstellerin während der Arbeitszeit abzuwerben, sei der Geschäftsbetrieb massiv gestört worden. Zudem sei das Angebot der Beigeladenen nicht auskömmlich. Die Auftraggeberin habe zu Unrecht das Angebot der Beigeladenen nicht überprüft.
Die Entscheidung
Der Vergabesenat des BayObLG lehnte den Antrag auf Verlängerung der aufschiebenden Wirkung der sofortigen Beschwerde nach § 173 Abs. 2 Satz 1 GWB ab. So überwiegen – nach Ansicht des Gerichts – die nachteiligen Folgen einer verzögerten Vergabe die mit der sofortigen Beschwerde verbundenen Vorteile. Insbesondere habe das Rechtsmittel nach summarischer Prüfung keinen Erfolg. Die Entscheidung der Vergabekammer sei in der Sache rechtlich nicht zu beanstanden.
Die Beigeladene sei zunächst nicht als unzuverlässig gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB vom Vergabeverfahren auszuschließen gewesen. „Schwere Verfehlungen“ seien erhebliche Rechtsverstöße, die geeignet seien, die Zuverlässigkeit eines Bewerbers grundlegend in Frage zu stellen. Insbesondere müssen diese schuldhaft begangen worden sein. Mit Verweis auf die Rechtsprechung des EuGHs definiert der Vergabesenat den Begriff „Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ als jedes fehlerhafte Verhalten, das Einfluss auf die berufliche Vertrauenswürdigkeit des betreffenden Unternehmens habe. Werde hingegen „nur“ gegen berufsethische Regeln des entsprechenden Berufsstandes verstoßen, sei dies nicht ausreichend. Eine schwere Verfehlung müsse – so das Gericht – vom Gewicht her den zwingenden Ausschlussgründen des § 123 GWB zumindest nahekommen. Übertragen auf den streitigen Sachverhalt stellte das BayObLG fest, dass die Mitarbeiterwerbung durch Konkurrenten in der Regel nicht als schwere Verfehlung in diesem Sinne zu qualifizieren sei. Erforderlich sei zusätzlich, dass die Verfehlung die Integrität des Unternehmens in Frage stelle. Es müssen nachvollziehbare sachliche Gründe bestehen, demnach der zu vergebende Auftrag nicht integer abgewickelt werden könne. Insoweit stehe der Vergabestelle für die Prognoseentscheidung ein Beurteilungsspielraum zu. Entsprechende Gründe seien vorliegend jedoch nicht ersichtlich. Zwar ließ das Gericht im konkreten Fall offen, ob das Abwerben ein wettbewerbswidriges Verhalten darstellt. Jedenfalls sei die Negativprognose der Auftraggeberin nicht zu beanstanden.
Ferner habe die Auftraggeberin nicht gegen § 60 Abs. 1 VgV verstoßen. Demnach sei der öffentliche Auftraggeber verpflichtet, aufzuklären, wenn der Preis oder die Kosten eines Angebotes im Verhältnis zu der ausgeschriebenen Leistung ungewöhnlich niedrig erscheinen. Maßgebliche Indizwirkung entfalten die Höhe des beanstandeten Preises und der Abstand zum eigenen bzw. zum nächstgünstigen Angebot. Die Vergabesenate haben diesbezüglich sog. Aufgreifschwellen entwickelt. Bezugspunkt sei die prozentuale Abweichung zum nächsthöheren Angebot. Die konkrete Höhe der maßgeblichen Aufgreifschwelle werde in der vergaberechtlichen Rechtsprechung unterschiedlich eingeschätzt. Der Vergabesenat stellt auf einen Abstand von mehr als 20 % zwischen dem Angebot des bestplatzierten und dem Angebot des zweitplatzierten Bieters ab. Ein Abstand von unter 10 % zum nächsthöheren Angebot gebe keinen Anlass, den Preis aufzuklären. Werde die Schwelle überschritten, sei der öffentliche Auftraggeber verpflichtet, den Angebotspreis aufzuklären. Daneben sei dies auch dann geboten, wenn der Preis oder die Kosten eines Angebotes eine qualifizierte Kostenschätzung oder sonstige Erfahrungswerte des Auftraggebers erheblich unterschreiten. Auf den konkreten Fall bezogen, seien – nach Ansicht des Gerichts – die o. g. 20 %-Schwelle nicht überschritten sowie auch sonst Preisansätze nicht unzulässig verlagert. Sonstige Umstände seien nicht ersichtlich. Insbesondere sei das Vorgehen der Auftraggeberin zulässig, im aktuellen Verfahren die (End-)Preise der Beigeladenen mit deren (End-)Preisen aus vorangegangenen Vergabeverfahren zu vergleichen.
Daneben sei die Auftraggeberin nicht gehalten gewesen, das Preisblatt nachzufordern. Insofern habe diese auch nicht – wie von der Antragstellerin gerügt – gegen § 127 Abs. 4 GWB i. V. m. §§ 56 Abs. 1, 58 VgV verstoßen. Das betreffende Preisblatt habe keine kalkulationsrelevanten Angaben für den (hier ausschließlich maßgeblichen) Endpreis enthalten. In dem Zusammenhang sei hinsichtlich der Zuschlagskriterien der große Gestaltungsspielraum des Auftraggebers zu berücksichtigen. Dieser erfasse sowohl die Kriterien als auch die Bewertungsmethodik. Außerdem sei das Preisblatt nicht erforderlich, um die Preise rechnerisch zu überprüfen. Es handele sich dabei lediglich um ein (internes) Instrument zur Preisüberprüfung. Ausweislich des Leistungsverzeichnisses sei das Preisblatt lediglich auf Nachfrage vom Bieter vorzulegen.
Schließlich folgt der Vergabesenat auch nicht der Rüge der Antragstellerin, demnach die Auftraggeberin nicht lediglich auf die Zusage der Beigeladenen hinsichtlich der geforderten Mitarbeiterqualifikation vertrauen dürfe. Im Rahmen der nach § 127 Abs. 1 Satz 2 GWB vorzunehmenden Angebotswertung stehe der Vergabestelle ein – gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer – Entscheidungsspielraum zu. So sei der Auftraggeber nicht verpflichtet, Bieterangaben zu verifizieren. Er dürfe wertungsrelevante Leistungsversprechen eines Bieters ungeprüft akzeptieren. Etwas anderes gelte nur bei konkreten Umständen, die darauf hindeuten, der Bieter könne seine Angaben nicht einhalten. Der Vergabesenat argumentiert mit dem Wortlaut der maßgeblichen Vorschriften. Auf den konkreten Fall übertragen, habe die Antragstellerin derartige konkrete Tatsachen nicht angezeigt.
Der Auftragnehmer müsse ferner in der Regel erst bei Auftragsbeginn über die eignungsrelevanten Mittel verfügen und das benötigte Personal einstellen.
Rechtliche Würdigung
Die Entscheidung des BayObLG fügt sich konsequent in die bisherige Entscheidungspraxis ein.
1. Schwere Verfehlung i. S. d. § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB
Im Mittelpunkt stehen die vom Vergabesenat – unter Verweis auf die EuGH-Rechtsprechung – definierten Voraussetzungen des § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB. Das Gericht legt den Begriff der „schweren Verfehlung“ restriktiv aus. Dies ist konsequent: Bei der Vorschrift handelt es sich – nachdem weitere Ausschlussgründe in den § 124 GWB hinzugefügt wurden – lediglich um einen Auffangtatbestand (siehe nur BT-Drs. 18/6281, Seite 105). Der nationale Gesetzgeber setzte dabei den Art. 57 Abs. 4 Satz 1 lit. c RL 2014/24/EU um. Der Begriff der „schweren Verfehlung“ ist – da er die Tatbestands- und nicht die Rechtsfolgenseite betrifft – von den Nachprüfungsinstanzen voll überprüfbar (Summa, in: Heiermann/Zeiss/Summa [Hrsg.], jurisPK-Vergaberecht, 5. Auflage [Stand: 24.06.2021], § 124 GWB Rn. 46).
Richtigerweise liegt eine Verfehlung i. S. d. § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB nur dann vor, wenn grundlegend fraglich ist, ob der entsprechende Bieter zuverlässig ist (vgl. Kling, in: Immenga/Mestmäcker [Hrsg.], Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2021, § 124 Rn. 36). Das ist der Fall, wenn gesetzliche oder vertragliche Pflichten so erheblich verletzt werden, dass der öffentliche Auftraggeber „berechtigterweise“ daran zweifeln darf, dass das Unternehmen nicht integer ist (BT-Drs. 18/6281, Seite 105). Nichts anderes ergibt sich aus der maßgeblichen Richtlinie 2014/24/EU. Nach dem Erwägungsgrund 101 Abs. 1 stellt schwerwiegendes berufliches Fehlverhalten die Integrität eines Wirtschaftsteilnehmers infrage. In der Folge kann dieser – auch wenn er ansonsten technisch und wirtschaftlich leistungsfähig ist, den Auftrag auszuführen – ungeeignet sein. Dennoch hat der Ausschluss des Unternehmens verhältnismäßig zu sein, vgl. Erwägungsgrund 101 Abs. 3 RL 2014/24/EU. Ausweislich des Wortlauts („können“) normiert § 124 GWB im Gegensatz zu § 123 GWB fakultative Ausschlussgründe. Daraus folgt, dass (einmalige) kleinere Unregelmäßigkeiten und Verstöße noch nicht dazu führen sollten, den Bieter auszuschließen. Insofern ist dem Vergabesenat des BayObLG zuzustimmen, dass § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB einen erheblichen Verstoß voraussetzt, welcher vom Gewicht her den zwingenden Ausschlussgründen des § 123 GWB zumindest nahekommt (siehe noch zur alten Rechtslage OLG Düsseldorf, B. v. 09.04.2008 – AZ.: VII Verg 2/08). Wirbt der Bieter Mitarbeiter von einem Konkurrenzunternehmen ab, mag dies berufsethisch verwerflich sein und ggf. §§ 3 Abs. 1, 4 Nr. 4, 8 Abs. 2 UWG zuwiderlaufen (vom BayObLG im konkreten Fall offengelassen). Verstöße gegen berufsethische Regelungen des entsprechenden Berufsstandes haben jedoch keinen so erheblichen Einfluss auf die berufliche Glaubwürdigkeit des betreffenden Bieters (vgl. EuGH, U. v. 18.12.2014 – Rs. C-470/13 [„Generali-Providencia Biztosító“]; U. v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 [„Forposta und ABC Direct Contact“]).
Beispiele für schwere Verfehlungen sind etwa die Urkundenfälschung eines Geschäftsführers zum Steuerbetrug (OLG Düsseldorf, B. v. 18.04.2018 – AZ.: VII Verg 28/17), die Teilnahme am Vergabeverfahren als Teil einer Bietergemeinschaft trotz wirksamen Wettbewerbsverbots (VK Thüringen, B. v. 28.02.2020 – AZ.: 250-4004-630/2020-E-002-EF) oder der Aufruf an staatliche Stellen, einen ausländischen Mitbewerber zu diskriminieren (OLG Jena, B. v. 16.07.2007 – AZ.: 9 Verg 4/07). Relevant können außerdem berufsbezogene Straftaten sein, vgl. hierzu das Formblatt 124 des Vergabehandbuches des Bundes (VHB) Ausgabe 2017, Stand 2019. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich um eine Straftat des betreffenden Unternehmens handeln muss. Aus diesem Grund verweist § 124 Abs. 1 Nr. 3 2. HS GWB – mangels Unternehmensstrafbarkeit in Deutschland – auf die Zurechnungsnorm des § 123 Abs. 3 GWB. Daneben können auch Verstöße gegen tarifrechtliche Vorgaben eine schwere Verfehlung im Sinne eines fakultativen Ausschlussgrundes darstellen (siehe Erwägungsgrund 39 RL 2014/14/EU; ferner Summa, in: Heiermann/Zeiss/Summa [Hrsg.], jurisPK-Vergaberecht, 5. Auflage [Stand: 24.06.2021], § 124 GWB Rn. 45).
Liegt ein Grenzfall vor, hat der Auftraggeber im Rahmen einer Prognose festzustellen, ob der Bieter resp. Bewerber den Auftrag integer und ordnungsgemäß ausführen kann (so auch OLG Karlsruhe, B. v. 30.10.2018 – AZ.: 15 Verg 6/18. Wie schon das BayObLG ausführt, sind die Umstände des Einzelfalles zu eruieren. Dem Auftraggeber steht ein entsprechendes – wenn auch kein „absolutes“ – Ermessen zu. In jedem Fall dürfen – so der EuGH – die Ziele und Grundsätze der fakultativen Ausschlussgründe nicht verzerrt werden (vgl. EuGH, U. v. 19.06.2019 – Rs. C-41/18 [„Meca Srl/Comune di Napoli“]).
2. Auskömmlichkeitsprüfung und Aufgreifschwelle
Nach § 60 Abs. 2 VgV hat der öffentliche Auftraggeber, wenn der Preis oder die Kosten eines Angebots im Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung ungewöhnlich niedrig erscheinen, das Angebot zu überprüfen. Nach § 60 Abs. 3 VgV darf der öffentliche Auftraggeber, sofern er die geringe Höhe des angebotenen Preises nicht aufklären kann, den Zuschlag auf dieses Angebot ablehnen. Ähnliches gilt – zumindest auf Ebene der Angebotswertung – bei einem unangemessen hohen Angebotspreis (vgl. § 16d Abs. 1 Nr. 1 VOB/A-EU; OLG Karlsruhe, B. v. 27.07.2009 – AZ.: 15 Verg 3/09; ferner Opitz, in: Burgi/Dreher [Hrsg.], Beck’scher Vergaberechtskommentar, 3. Auflage 2019, § 16d VOB/A-EU Rn. 22).
Ziel der Auskömmlichkeitsprüfung ist es, den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit zu gewährleisten: Unangemessen niedrige Angebote können ein wirtschaftliches Risiko für den öffentlichen Auftraggeber bergen. Nach Ansicht der Rechtsprechung kommt der sog. Auskömmlichkeitsprüfung (auch) eine drittschützende Wirkung zu (BGH, B. v. 31.01.2017 – AZ.: X ZB 10/16; OLG München, B. v. 21.05.2010 – AZ.: Verg 2/10).
Ein solcher Drittbieterschutz besteht insbesondere bei einem unangemessenen Abstand des angebotenen Preises zum nächsthöheren Angebot. Es bestehen unterschiedliche Einschätzungen darüber, ab welchem Prozentwert der Preisabstand als unangemessen klassifiziert werden kann. Das BayObLG hat sich in der vorliegenden Entscheidung hierzu nicht eindeutig festgelegt, sondern gibt insbesondere die bisherige Entscheidungspraxis wieder: Ein großer Teil der Rechtsprechung geht von einer 20 %-Schwelle aus (OLG Düsseldorf, B. v. 25.04.2012 – AZ.: Verg 61/11; B. v. 23.03.2005 – AZ.: VII Verg 77/04; VK Niedersachen, B. v. 02.05.2017 – AZ.: VgK-08/2017; OLG Frankfurt, B. v. 30.03.2004 – AZ.: 11 Verg 4/04). Vereinzelt wird eine unangemessene Preisabweichung bereits bei einem Prozentsatz von 10 % angenommen (OLG Karlsruhe, B. v. 27.09.2009 – AZ.: 15 Verg 3/09). Jedenfalls erscheint ein Preisabstand von über 30 % zum nächsthöheren Angebot als hinreichend um den Auftraggeber zu einer Auskömmlichkeitsprüfung zu veranlassen (BGH, B. v. 31.01.2017 – AZ.: X ZB 10/16).
Wichtig ist, dass eine Unauskömmlichkeit auch dann besteht, wenn im Zusammenspiel mit einer zu knappen Kalkulation Leistungsdefizite zu befürchten sind. Nach der Rechtsprechung des BGH ist jedenfalls dem Mitbewerber ein Anspruch auf eine Auskömmlichkeitsprüfung einzuräumen. Erst eine Akteneinsicht ermöglicht es ihm, Informationen zu gewinnen, die zum richtigen Ausgang des Nachprüfungsverfahrens beitragen und damit auch zu einem vergaberechtskonformen Zuschlag führen (vgl. BGH, B. v. 31.01.2017 – AZ.: X ZB 10/16).
Des Weiteren geht das BayObLG auf sonstige Umstände ein, da der Abstand zum nächsthöheren Angebot lediglich Indizwirkung entfaltet. Vielmehr kann ein Preis ebenfalls unangemessen sein, wenn er augenfällig von in vergleichbaren Vergabeverfahren oder sonst erfahrungsgemäß verlangten Preisen abweicht (BGH, B. v. 31.01.2017 – AZ.: X ZB 10/16; OLG München, B. v. 21.05.2010 – AZ.: Verg 2/10.).
Ferner hat der Auftraggeber nur bei einem konkreten Anlass, Preisblätter (die nicht Teil des Angebotes sind) nachzufordern. Nach Ansicht des OLG Koblenz könne das Angebot demnach nicht mit der Begründung ausgeschlossen werden, der Bieter habe unzureichend bei der – überflüssigen – Preisaufklärung mitgewirkt (OLG Koblenz, B. v. 19.01.2015 – AZ.: Verg 6/14). Außerdem sei der öffentliche Auftraggeber nicht verpflichtet, solche Preisblätter nachzufordern – selbst, wenn er sich dies im Vorfeld vorhalten habe (OLG Koblenz, a. a. O.)
3. Entscheidungsspielraum des Auftraggebers im Rahmen der Angebotswertung
Schließlich bestätigt das BayObLG das Bestimmungsrecht des öffentlichen Auftraggebers bei der Auswahl der Zuschlagskriterien und der Wertungsmethode (vgl. EuGH, U. v. 26.03.2015 – Rs. C-601/13 [„Ambisig“]; OLG Düsseldorf, B. v. 08.02.2017 – AZ.: VII Verg 31/16; B. v. 14.12.2016 – AZ.: VII Verg 15/16; B. v. 03.03.2010 – AZ.: VII Verg 48/09). Dieser Ermessensspielraum unterliegt nur den Schranken, die sich – unmittelbar oder mittelbar – aus den vergaberechtlichen Prinzipien sowie aus dem Zweck der festgelegten Kriterien ergeben (OLG Düsseldorf, B. v. 08.02.2017 – AZ.: VII Verg 31/16; B. v. 03.03.2010 – AZ.: VII Verg 48/09; ferner Wagner, in: Heiermann/Zeiss/Summa [Hrsg.], jurisPK-Vergaberecht, 5. Auflage [Stand: 27.05.2021], § 127 GWB Rn. 56). In dem Zusammenhang verweist der Vergabesenat im Hinblick auf die Preisblätter zu Recht darauf, es handele sich vorliegend lediglich um Instrumente der Preisprüfung (vgl. OLG Koblenz, a. a. O.).
Ebenfalls steht dem öffentlichen Auftraggeber im Rahmen der konkreten Angebotswertung ein weiter Entscheidungsspielraum zu, der nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar ist (siehe nur Kling, in: Immenga/Mestmäcker [Hrsg.], Wettbewerbsrecht, 6. Auflage 2021, § 127 Rn. 27 m. w. N.). In dem Zusammenhang kann der Auftraggeber auf das wertungsrelevante Leistungsversprechen des jeweiligen Bieters vertrauen. Er ist grundsätzlich nicht verpflichtet, die Leistung zu überprüfen (OLG Düsseldorf, B. v. 15.01.2020 – AZ.: VII Verg 20/19; B. v. 15.07.2015 – AZ.: VII Verg 11/15; ferner Opitz, in: Burgi/Dreher [Hrsg.], Beck’scher Vergaberechtskommentar, Bd. 1, 3. Auflage 2017, § 127 GWB Rn. 116). Hierzu lässt sich der Wortlaut der maßgeblichen EU-Richtlinien heranziehen: Nur „im Zweifelsfall“ überprüfen die öffentlichen Auftraggeber, ob die von den Bietern beigebrachten Informationen und Nachweise richtig sind, vgl. Art. 67 Abs. 4 Satz 3 RL 2014/24/EU und Art. 82 Abs. 4 Satz 3 RL 2014/25/EU. Nichts anderes ergibt sich aus dem nationalen Recht: Gemäß § 127 Abs. 4 Satz 1 GWB muss die wirksame Überprüfung der Angebote hinsichtlich der Zuschlagskriterien lediglich „möglich“ sein. Der öffentliche Auftraggeber ist nur dann zur Überprüfung verpflichtet, wenn Leistungsversprechen eines Bieters konkret als nicht nachvollziehbar erscheinen (OLG Düsseldorf, B. v. 15.01.2020 – AZ.: VII Verg 20/19; B. v. 15.07.2015 – AZ.: VII Verg 11/15). Das ist etwa bei Erklärungen wider besseres Wissen der Fall (BGH, B. v. 26.09.2006 – AZ.: X ZB 14/06).
Auf den vergaberechtlichen Rechtsschutz übertragen, gilt deshalb allein die sog. subjektive Wahrhaftigkeit von Behauptungen: So darf der Bieter behaupten, was er für wahrscheinlich oder möglich hält. Bloße Behauptungen „ins Blaue hinein“ sind dagegen unzulässig (BGH, B. v. 26.09.2006 – AZ.: X ZB 14/06; U. v. 25.04.1995 – AZ.: VI ZR 178/94).
Ferner führt das BayObLG richtig aus, der Auftragnehmer müsse in der Regel erst zum Zeitpunkt der Leistungserbringung über die eignungsrelevanten Mittel verfügen und das benötigte Personal einstellen (OLG Düsseldorf, B. v. 12.06.2019 – AZ.: VII Verg 52/18; B. v. 26.07.2018 – AZ.: VII Verg 28/18).
Praxishinweis
1. Aus Sicht der öffentlichen Auftraggeber lässt sich der Entscheidung des BayObLG insbesondere entnehmen, dass Bieter gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB nur bei erheblichen Verstößen ausgeschlossen werden können, die die Integrität des Unternehmens beeinträchtigen. Bloße Verstöße gegen berufsethische Vorgaben sind nicht ausreichend. Vielmehr kommt der fakultative (!) Ausschlussgrund nur dann in Betracht, wenn der Verstoß vom Gewicht her den zwingenden Ausschlussgründen des § 123 GWB zumindest nahekommt. Der öffentliche Auftraggeber hat im Zweifelsfall eine entsprechende Prognose durchzuführen. Ihm steht hierzu ein Ermessen zu.
Im Hinblick auf die Auskömmlichkeitsprüfung ist eine solche grundsätzlich bei einer Aufgreifschwelle von 20 % geboten. Das BayObLG legt sich hierzu zwar nicht endgültig fest, sondern gibt vielmehr die bisherige Rechtsprechungspraxis wieder. Diese sollte man als öffentlicher Auftraggeber jedoch kennen. Jedenfalls entfaltet der Abstand zum nächsthöheren Angebot lediglich eine Indizwirkung. Es sind auch weitere Umstände zu berücksichtigen (Vergleich mit ähnlichen Vergabeverfahren, Erfahrungssätze). Außerdem ist der öffentliche Auftraggeber nicht verpflichtet, (nicht zum Angebot gehörende) Preisblätter nachzufordern – selbst, wenn er sich dies im Vorfeld vorhalten hat.
Dem öffentlichen Auftraggeber steht ein weiter Ermessensspielraum hinsichtlich der Wahl der Zuschlagskriterien, der Wertungsmethode und der Angebotswertung selbst zu. Dieser ist nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar. In jedem Fall sind die Vergabegrundsätze und die aufgestellten Kriterien zu beachten. Hierzu empfiehlt es sich, die wesentlichen Aspekte transparent in den Vergabeunterlagen darzustellen und zu dokumentieren.
Es besteht grundsätzlich keine Pflicht, Leistungsversprechen der Bieter zu überprüfen. Dennoch kann es u. U. sinnvoll sein, bestimmte Angaben zu verifizieren. Beispielsweise können Arbeitsproben/-muster, Teststellungen oder Präsentationen im Rahmen eines Vergabeverfahrens gefordert bzw. durchgeführt werden. Insbesondere hinsichtlich der Präsentationen hat die Vergabestelle ausschließlich auftragsbezogene Aspekte zu bewerten. Die Ergebnisse können u. a. als Teil der Zuschlagskriterien (etwa als Unterkriterien der „Qualität“) in die Angebotswertung einfließen.
Im Zweifelsfall empfiehlt es sich, anwaltlichen Rat einzuholen. Es ist stets der Einzelfall und die konkrete Situation bzw. Beschaffung maßgeblich, so dass es keine „Universal-Strategie“ gibt.
2. Aus Sicht der Bieter ist zu berücksichtigen, dass – unabhängig von der Entscheidung des BayObLG – die Mitarbeiterabwerbung im Einzelfall einen Wettbewerbsverstoß darstellen kann.
Die Auskömmlichkeitsprüfung entfaltet eine drittschützende Wirkung. Der Bieter hat zunächst nur zu beweisen, dass er eine Rüge fristgerecht erhoben hat und den Umständen entsprechend begründet. Detaillierte Fragen hinsichtlich der Auskömmlichkeitsprüfung kann nur eine Akteneinsicht beantworten, welche beantragt werden sollte.
Hintergrund ist, dass die Beweislast im Vergabeverfahren aufgrund der dem öffentlichen Auftraggeber obliegenden Dokumentationspflichten – im Gegensatz zu den allgemein geltenden Beweisregeln der ZPO – ungleich verteilt ist: Der öffentliche Auftraggeber muss in seiner Dokumentation nachweisen, dass er die im Rahmen der Verhältnismäßigkeit gebotenen Schritte unternommen hat. So muss er darlegen, dass er die Angebote auf formelle Fehler, fehlende Eignung der Bieter und unangemessen niedrige Preise überprüft hat. Aus der Dokumentation muss sich ebenfalls die transparente und diskriminierungsfreie Behandlung aller Bieter ergeben. Dokumentationsmängel wirken sich stets zu Lasten des öffentlichen Auftraggebers aus. Mit anderen Worten: Der öffentliche Auftraggeber – und nicht der Bieter – trägt im Wesentlichen die Darlegungs- und Beweislast. Erst nachrangig gilt der allgemeine zivilprozessrechtliche Grundsatz, dass derjenige, der aus einem bestimmten Sachverhalt rechtliche Ansprüche ableitet, diesen Sachverhalt auch zu beweisen hat.
Dennoch ist auch der Bieter gehalten, keine Angaben „ins Blaue hinein“ zu tätigen. Zu den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Rüge siehe den Beitrag des Verfassers in: Vergabeblog.de vom 14/12/2020, Nr. 46003.
Sven Müller
Sven Müller ist Rechtsanwalt im Berliner Büro von Dentons. Sein Tätigkeitsschwerpunkt liegt in der Beratung zu allen Aspekten der öffentlichen Auftragsvergabe, einschließlich der Begleitung von Vergabeverfahren und Vertretung in Nachprüfungsverfahren. Er verfügt über mehrjährige Erfahrung im Vergaberecht und war als Mitarbeiter in internationalen Wirtschaftskanzleien in diesem Rechtsgebiet tätig.
Schreibe einen Kommentar