In der öffentlichen Verwaltung kollidieren erhebliche Sicherheitsbelange häufig mit den Vergabevorschriften. Die §§ 107 Abs. 2, 117 GWB regeln deshalb entsprechende Vergabeausnahmen. Wenn bspw. wesentliche Sicherheitsinteressen Deutschlands berührt sind, braucht das EU-Vergaberecht nicht angewandt zu werden. Welche öffentlichen Interessen können als wesentliche Sicherheitsinteressen angesehen werden? Welcher Spielraum besteht insoweit und sind ggf. weniger einschränkende Maßnahme nötig? Der EuGH hat die Thematik in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen erörtert.
Art. 15 Abs. 2 u. 3 RL 2014/24 EU; Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV; § 117 Nr. 1, 2 u. 3 GWB.
Leitsatz
Öffentliche Aufträge für die Herstellung persönlicher Dokumente und Identitätskarten von Militärangehörigen, von Dienstausweisen für Polizisten, Bediensteten des Grenzschutzes, des Staatsschutzes, der inneren Sicherheit und der Nachrichtendienste, berühren das wesentliche Sicherheitsinteresse eines Unionsstaates und dürfen deshalb ohne europaweite Ausschreibung direkt vergeben werden.
Sachverhalt
Polen hat Aufträge für die Herstellung einer Vielzahl amtlicher Dokumente (z.B. Personalausweise, Reisepässe, Führerscheine, Dienstausweise von Polizisten und Militärangehörige) sowie für die Lieferung von Computersystemen und Datenbanken, die für diese amtlichen Dokumente erforderlich sind, gesetzlich vom europäischen Vergaberecht ausgenommen. Das wurde mit den wesentlichen Sicherheitsbelangen Polens begründet, die mit der Fertigung dieser Dokumente berührt wären. Dementsprechend beauftragte der polnische Staat direkt, d.h. ohne Durchführung eines europaweiten Vergabeverfahrens, ein staatliches Unternehmen mit der Herstellung dieser amtlichen Dokumente. Die Europäische Kommission (KOM) war dagegen der Meinung, dass die polnischen Ausnahmebestimmungen vergaberechtswidrig seien. Die Liste der Richtlinienausnahmen seien nach der Rechtsprechung des EuGH abschließend und eng auszulegen. Insbesondere genüge nicht allein das Interesse an öffentlicher Sicherheit, um EU-Vergaberecht nicht anwenden zu müssen.
Die Entscheidung
Die Luxemburger Richter erinnern daran, dass die europäische Vergabe-RL 2014/24/EU nur in den Fällen keine Anwendung findet, die dort selbst ausdrücklich und abschließend aufgeführt sind (Rdnr. 70). Solche Vergabeausnahmen sind eng auszulegen (Rdnr. 81).
Nach der in Art. 15 RL 2014/24/EU geregelten Ausnahme ist es Sache der mitgliedstaatlichen Behörden, diejenigen Sicherheitsmaßnahmen zu bestimmen, die zum Schutz der nationalen Sicherheit im Rahmen der zu beschaffenden Leistungen (hier: Herstellung amtlicher Dokumente) erforderlich sind (Rdnr. 76). Der Richtlinienwortlaut und Art. 346 AEUV legen insoweit kein bestimmtes Schutzniveau der wesentlichen Sicherheitsinteressen eines Unionsstaates fest (vgl. Rdnr. 77). Was für den Schutz der wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich ist, liegt deshalb im Ermessen der nationalen Behörden (Rdnr. 82).
Die Wahrung der nationalen Sicherheit umfasst den Schutz der wesentlichen Funktionen eines Staates und der grundlegenden Interessen der Gesellschaft. Daher sind Tätigkeiten zu verhindern, die dazu geeignet sind, die tragenden Strukturen eines Mitgliedstaates im Hinblick auf die Verfassung, Politik, Wirtschaft oder im sozialen Bereich in schwerwiegender Weise zu destabilisieren. Das gilt insbesondere für die unmittelbare Bedrohung der Gesellschaft, Bevölkerung oder des Staates als solchen, wie etwa durch terroristische Aktivitäten (Rdnr. 79).
Allerdings genügt das bloße Interesse an öffentlicher Sicherheit nicht um EU-Vergaberecht nicht anwenden zu müssen (Rdnr. 81). Vielmehr muss nachgewiesen werden, dass mit einem förmlichen Vergabeverfahren, die für den Schutz der wesentlichen Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaates verfolgten Ziele nicht erreicht werden könnten (Rdnr. 82 f.).
Für das hier verfolgte Ziel, die kontinuierliche Versorgung mit amtlichen Dokumenten durch die Direktbeauftragung eines Staatsunternehmens sicherzustellen, hat Polen nicht nachgewiesen, dass das Ziel nicht ebenso durch ein Vergabeverfahren hätte erreicht werden können. Der enge Zusammenhang der meisten amtlichen Dokumente mit der öffentlichen Ordnung und dem institutionellen Funktionieren Polens genügt allein nicht (Rdnr. 85). Vor allem hat Polen nicht nachgewiesen, dass die Versorgungssicherheit durch die Beauftragung anderer Produzenten, vor allem wegen deren möglichen Insolvenz, erheblich höher wäre (Rdnr. 86).
Nach Ansicht der EU-Richter könnten solche unternehmensseitigen Gefahren z.B. durch Vertragsabschlüsse mit mehreren Herstellern und durch Eignungsanforderungen im Vergabeverfahren (Forderung bestimmter Mindestjahresumsätze, Vorlage von Jahresabschlüssen und Berufshaftpflichtversicherungen) ausgeschlossen werden (Rdnr. 88). Den Nachweis der Ungeeignetheit der vorbenannten Maßnahmen hat Polen aber nicht führen können (Rdnr. 89). Ebenso wenig wurde nachgewiesen, dass andere Hersteller weniger leistungsfähig als das Staatsunternehmen wären, um die amtlichen Dokumente rechtzeitig herstellen zu können (Rdnr. 90).
Auch das Ziel, die in den amtlichen Dokumenten enthaltenen Daten und Information zu schützen, steht einem Vergabeverfahren nicht entgegen. Denn die Vertraulichkeit von Daten kann durch Geheimhaltungsvereinbarungen sichergestellt werden (Rdnr. 92, 103 f.). Um ein Durchsickern sensibler Informationen zu verhindern, könnten in den Vergabeunterlagen Geheimhaltungsklauseln aufgenommen werden, die bei Nichtbeachtung zum Verfahrensausschluss und im Rahmen der Vertragsausführung sanktioniert werden (Rdnr. 99). Außerdem könne die Sicherheit durch entsprechende technische Spezifikationen und Eignungskriterien gewährleistet werden (Rdnr. 91 ff.). Weiter könnten durch das nicht offene Verfahren, das Verhandlungsverfahren oder den wettbewerblichen Dialog nur einer begrenzten Anzahl von Bewerbern Zugang zu den betreffenden vertraulichen Informationen gewährt werden (Rdnr. 97). Schließlich sei die strikte Einhaltung der Zuschlagskriterien durch den Auftragnehmer und ihre dauerhafte Überprüfung während der Vertragsausführung grundsätzlich geeignet, Indiskretionen und möglichen internen Missbräuchen vorzubeugen (Rdnr. 105). Den Nachweis, dass ein solches Vergabeverfahren den Datenschutz nicht in vergleichbarer Weise sichern kann wie eine Direktvergabe, hat Polen nicht geführt (Rdnr. 101).
Daraus folge, dass für die Herstellung der meisten amtlichen Dokumente im Hinblick auf die geltend gemachten Ziele Polens die Anwendung der Vergabeausnahme unverhältnismäßig sei (Rdnr. 106). Lediglich für persönliche Dokumente und Identitätskarten von Militärangehörigen, sowie für Dienstausweise von Polizisten, von Bediensteten des Grenzschutzes, Staatsschutzes, der inneren Sicherheit und der Nachrichtendienste, ist davon auszugehen, dass diese einen unmittelbaren und engen Zusammenhang mit dem Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit aufweisen, die höhere Anforderungen an die Vertraulichkeit rechtfertigen (Rdnr. 107). Insbesondere die Identität dieser Personengruppen mache einen verstärkten Schutz gegen Indiskretionen und Fälschungen unerlässlich (Rdnr. 108). Insoweit könne ein Durchsickern solcher Informationen irreparable Folgen für die nationale Sicherheit eines Unionsstaates haben, weil diese von Drittstaaten, kriminellen oder terroristischen Organisationen missbraucht werden könnten (Rdnr. 109). Vertragliche Regelungen können insoweit nicht als hinreichend wirksam angesehen werden, um die Sicherheit dieser Informationen zu gewährleisten (Rdnr. 110 f.), so die Luxemburger Richter.
Rechtliche Würdigung
Im EU-Vergaberecht müssen allgemeine und besondere Ausnahmen eng ausgelegt werden. Dieser in vielen EuGH-Entscheidungen (z.B. Urt. v. 20.3.2018 – C-187/16 KOM/Österreich, Staatsdruckerei, Rdnr. 77) betonte Lehrsatz stellt eine wiederkehrende Herausforderung für Beschaffungspraktiker dar. Vor allem politisch motivierte Auftragswünsche sind nicht automatisch mit dem Vergaberecht vereinbar und lassen sich nicht leicht umsetzen.
Die Entscheidungen des EuGH können mitunter ebenfalls komplex sein. In diesem Fall wurde der rechtliche Prüfungsmaßstab anhand von Art. 15 Abs. 2 u. 3 RL 2014/24/EU i.V.m. Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV angewendet. Diese Artikel enthalten verschiedene, mehr oder weniger ähnliche Ausnahmen. Die Luxemburger Richter scheinen sich zwar hauptsächlich auf Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2014/24/EU zu konzentrieren. Die genaue Reihenfolge der Prüfung ist jedoch nicht offensichtlich. Stattdessen haben die EU-Richter zum einen den Begriff wesentliche Sicherheitsinteressen aus Art. 15 Abs. 2 u. 3 RL 2014/24/EU sowie Artikel 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV als zentral angesehen, da er in diesen Bestimmungen nahezu wortwörtlich verwendet wird. Zum anderen betont der EuGH fortlaufend, dass der öffentliche Auftraggeber nachweisen muss, dass die Ziele, die er mit der direkten Vergabe ohne Wettbewerb verfolgt, nicht ebenso gut durch ein vergaberechtskonformes Verfahren erreicht werden könnten. Dieser Nachweis der hypothetischen Ungeeignetheit eines europaweiten Vergabewettbewerbs im Vergleich zur direkten Vergabe findet seine Grundlage in Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2014/24/EU und prägt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 2 und Abs. 3 RL 2014/24/EU wieder.
Das Urteil zeigt, dass öffentlichen Auftraggebern bei der Festlegung von wesentlichen Sicherheitsinteressen ein erheblicher Spielraum gegeben ist, was in diesem Fall von den Luxemburger Richtern nicht infrage gestellt wurde. Allerdings betont der Gerichtshof, dass nicht alle Beschaffungsmaßnahmen, die in irgendeinem Bezug zu den wesentlichen Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaates stehen, automatisch ohne Rücksicht auf das EU-Vergaberecht durchgeführt werden können. Vielmehr ist eine besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung von entscheidender Bedeutung. Bedauerlicherweise haben die Luxemburger Richter die Gelegenheit verpasst, die genaue rechtliche Struktur von Art. 15 Abs. 2 u. 3 RL 2014/24/EU i.V.m. Art. 346 Abs. 1 Buchst. a AEUV näher zu erläutern.
Praxistipp
Der vom EuGH gewählte sekundärrechtliche Prüfungsmaßstab für Vergaben, die Verteidigungs- oder Sicherheitsaspekte umfassen, ist in Deutschland in der besonderen Ausnahme nach § 117 Nr. 1, 2 u. 3 GWB umgesetzt (BT-Drs. 18/6281, 95 f.). Eine ähnliche Regelung findet sich auch in der allgemeinen Ausnahme gemäß § 107 Abs. 2 GWB. Letztere Vorschrift übernimmt klarstellend die primärrechtlichen Ausnahmen nach Art. 346 Abs. 1 Buchst. a und b AEUV. Sie entspricht der früheren Ausnahme nach § 100 Abs. 6 Nr. 1 u. 2 GWB a.F. Die Ergänzung von § 107 Abs. 2 Satz 2 u. 3 GWB, die den Begriff der wesentlichen Sicherheitsinteressen erläutert bzw. präzisiert, wurde erst später im Gesetz zur beschleunigten Beschaffung im Bereich der Verteidigung und Sicherheit hinzugefügt (BR-Drs. 583/19, 54 f.).
Das Urteil verdeutlicht, dass unabhängig von der anwendbaren Ausnahmeregelung öffentliche Auftraggeber dazu verpflichtet sind, im Einzelfall eine detaillierte Unterscheidung der Leistungen vorzunehmen. Dies dient dazu, Leistungen, die rein im öffentlichen Interesse liegen, von solchen zu trennen, die mit den wesentlichen Sicherheitsinteressen Deutschlands in Verbindung stehen. Diese spezifische Einzelfallprüfung kann nicht durch nationale allgemeine Gesetzesausnahmen, generelle Regelbeispiele oder ähnliches ersetzt werden.
Die Entscheidung unterstreicht auch die Notwendigkeit, dass die betreffenden Leistungen wenigstens ein so hohes Maß an Vertraulichkeit erfordern müssen, das in einem wettbewerblichen Vergabeverfahren nicht gewährleistet werden kann. Dieses Erfordernis dürfte in der Praxis eine erhebliche Begründungsarbeit erfordern, sowohl inhaltlich als auch zeitlich, um eine generelle oder spezielle Vergabeausnahme in einem konkreten Fall zu rechtfertigen. Letztendlich muss nachgewiesen werden, dass das Design eines EU-weiten Beschaffungsverfahrens (zum Beispiel durch die Wahl der Verfahrensart, die Kriterien für Eignung und Zuschlag, die Reduzierung der Bieter, technische Spezifikationen und Geheimhaltungsvereinbarungen) die wesentlichen Sicherheitsinteressen Deutschlands im konkreten Fall nicht ausreichend schützen kann.
Holger Schröder
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss „Fachanwalt für Vergaberecht“ der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.
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