Bei dem nach deutscher Rechtspraxis bereits seit vielen Jahren bemühten Rechtsinstitut der Interimsvergabe war der Blick bis zum 6. Dezember 2023 Richtung Luxemburg gerichtet. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte diesbezüglich den EuGH mittels Vorabentscheidungsersuchen angerufen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Februar 2023, Verg 9/22). Nachdem die Antragstellerin die sofortige Beschwerde in dem Hauptsacheverfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf zurückgenommen und der Vergabesenat dies gegenüber dem EuGH angezeigt hatte, wurde die Rechtssache im Register des Gerichtshofs nach erfolgtem Streichungsbeschluss des EuGH gestrichen (EuGH, Streichungsbeschluss vom 6. Dezember, C-128/23 – Müller Reisen).
Das hat für die Vergabepraxis weitreichende Folgen. Eine Entscheidung aus Luxemburg wird es vorerst nicht geben. Mehr denn je kommt es auf eine vertiefte Auseinandersetzung der zuständigen Nachprüfungsinstanzen mit dem Rechtsinstitut der Interimsvergabe an. Dabei bedarf es insbesondere einer dezidierten Auseinandersetzung mit der Argumentationslinie des Oberlandesgericht Düsseldorf.
Der Beitrag setzt sich mit der aktuellen Gesetzeslage und Rechtsprechung zur Interimsvergabe – wobei die kritische Auseinandersetzung mit dem Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgericht Düsseldorf im Vordergrund steht – auseinander, um darauf aufbauend für die sich derzeit scheinbar in einer Konfliktlage befindlichen Nachprüfungsinstanzen konkrete Ableitungen vorzunehmen und Handlungsvorschläge zu unterbreiten.
Darüber hinaus möchte der Autor den Beitrag als Appell an den Gesetzgeber verstanden wissen, dieses praxisrelevante Thema im Rahmen der derzeit laufenden Konsultation zur Transformation des Vergaberechts nicht nur zu berücksichtigen, sondern möglichst ausgewogen unter Abwägung aller berechtigten Interessen in EU-rechtskonformer Weise einer gesetzlichen Neuregelung zuzuführen.
1. Einleitung
Öffentliche Auftraggeber können öffentliche Aufträge gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das Offene und das Nichtoffene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind und die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sind („Dringlichkeitsvergabe“).
Die Interimsvergabe soll wiederum dann als Legitimationsgrundlage fungieren, wenn die Voraussetzungen der Dringlichkeitsvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zwar nicht vorliegen, weil der öffentliche Auftraggeber die mit den äußerst dringlichen, zwingenden Gründen im Zusammenhang stehenden Ereignisse hätte voraussehen müssen und/oder die angeführten Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit in die Verantwortungssphäre des öffentlichen Auftraggebers fallen, aber eine kontinuierliche Aufgabenerfüllung im Bereich der Daseinsvorsorge sichergestellt werden muss („Interimsvergabe“).
Wie zahlreiche aktuelle Entscheidungen der vergaberechtlichen Judikatur und ein lebhafter Diskurs in der Vergabepraxis belegen, ist die Interimsvergabe höchst praxisrelevant. Die Auseinandersetzung mit den hiermit verbundenen Rechtsfragen kulminierte zuletzt in einem Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgericht Düsseldorf an den EuGH. Da allerdings die sofortige Beschwerde in der Hauptsache zurückgenommen wurde, ist eine die derzeitige Rechtspraxis stützende oder diese kassierende Entscheidung des EuGH in naher Zukunft nicht zu erwarten.
Eine die Interimsvergabe kassierende Entscheidung des EuGH hätte der Vergabepraxis zahlreiche Folgefragen erspart. Sofern man an dem Rechtsinstitut der Interimsvergabe festhält, ist auf Tatbestandsebene zu klären, ob es einer zeitlichen Befristung des interimsweise vergebenen Auftrags bedarf und wie verbindlich diese auszugestalten ist, ob eine Akzessorietät zwischen Interimsauftrag und einem bereits laufenden oder bevorstehenden Vergabeverfahren zur Beschaffung des eigentlichen Bedarfs erforderlich ist und ob bzw. wie eine Umgehungsabsicht resp. ein Bestreben zur Umgehung bestandskräftiger Beschlüsse einer Nachprüfungsinstanz ausgeschlossen werden kann und muss (vgl. dazu VK Südbayern, Beschluss vom 26. Juni 2023, 3194.Z3-3_01-23-9).
Gleichfalls unklar bleibt, ob die Interimsvergabe zur Durchführung eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb unter Berücksichtigung des in § 51 Abs. 2 VgV definierten Mindestmaßes an Wettbewerb durch Beteiligung von regelmäßig mindestens drei Bewerbern (so KG Berlin, Beschluss vom 10. Mai 2022, Verg 1/22) oder zu einer Direktvergabe legitimiert, ob Letzteres per se der Fall ist oder sich als ultima ratio lediglich aus der konkreten Dringlichkeitssituation (mit oder ohne Berücksichtigung des individuellen Verschuldensgrades) ergeben kann (so OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 24. November 2022, 11 Verg 5/22; OLG Rostock, Beschluss vom 9. Dezember 2020, 17 Verg 4/40).
Darüber hinaus wäre zu klären, ob (wie im Falle einer Dringlichkeitsvergabe) gemäß § 134 Abs. 3 S. 1 GWB eine Befreiung von der Informations- und Wartepflicht (ablehnend die VK Niedersachsen, Beschluss vom 6. Februar 2018, VgK 42/2017) und (wie im Falle einer Dringlichkeitsvergabe) gemäß § 17 Abs. 15 VgV eine Befreiung von der Pflicht zur elektronischen Kommunikation besteht und ob Verstöße auf Rechtsfolgenebene – d.h. Beanstandungen in Bezug auf die Ausgestaltung des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb (Mindestmaß an Wettbewerb) – vor den zuständigen Nachprüfungsinstanzen beanstandet werden können (so OLG Rostock, Beschluss vom 9. Dezember 2020, 17Verg4/40; ablehnend BayObLG, Beschluss vom 20. Januar 2022, Verg 7/21).
Eng verwoben mit der Frage, ob Beanstandungen in Bezug auf die Ausgestaltung des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb grundsätzlich justiziabel sind, ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen im Rahmen der Auftragswertschätzung – die insbesondere für das Erreichen oder Überschreiten der Schwellenwerte aus § 106 GWB relevant ist – der Wert des Interimsauftrags mit dem vorangegangenen Vertragswert zu kumulieren oder isoliert zu ermitteln ist (beide Varianten je nach Umständen des Einzelfalls in Betracht ziehend: OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 24. November 2022, 11 Verg 5/22) oder ob im Rahmen der Auftragswertschätzung der sich anschließende Hauptauftrag miteinzukalkulieren ist (so VK Südbayern, Beschluss vom 29. Oktober 2013, Z3-3-3194-1-25-08/13).
Schließlich wäre zu klären, ob eine unter Berufung auf das Rechtsinstitut der Interimsvergabe legitimierte Auftragsvergabe (wie im Falle einer Dringlichkeitsvergabe) gemäß Art. 28 Abs. 4 Verordnung (EU) 2022/2560 aus dem Anwendungsbereich der Foreign Subsidies Regulation führt und/oder gemäß § 6 Abs. 1 S. 3 WRegG von der Abfragepflicht im Wettbewerbsregister befreit.
All diese Fragen werden in der Praxis meist nur unzureichend berücksichtigt und durch die Rechtsprechung bisweilen höchst unterschiedlich behandelt. Hätte der EuGH – der Auffassung des Autors folgend – festgestellt, dass die Interimsvergabe mit geltendem EU-Recht nicht in Einklang zu bringen ist, hätte sich der Fokus der Nachprüfungsinstanzen zwangsläufig auf die Rechtsfolgenseite verschoben, die es ermöglicht, alle Interessen ausgewogen zu berücksichtigen.
2. Kritische Auseinandersetzung mit dem Vorlagebeschluss des Oberlandesgericht Düsseldorf
Die Interimsvergabe ist nach Auffassung des Autors – in Einklang mit der Rechtsauffassung des Oberlandesgericht Düsseldorf – mit dem eindeutigen und eng auszulegenden Wortlaut des Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU nicht vereinbar (vgl. dazu unter lit. a.).
Darüber hinaus kommt auch keine Korrektur der Richtlinienvorschrift im Lichte des EU-primärrechtlichen Funktionsgewährleistungsanspruchs aus Art. 14 AEUV, wie das Oberlandesgericht Düsseldorf sie wegen eines angenommenen Spannungsverhältnisses zwischen EU-Primär- und Sekundärrecht erwägt, in Betracht (vgl. dazu unter lit. b.).
Der Vergabesenat hatte in seinem Vorlagebeschluss an den EuGH zunächst hervorgehoben, dass die tatbestandsreduzierende (und damit den Ausnahmetatbestand erweiternde) Auslegung der Dringlichkeitsvergabe aus § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV mit dem klaren Wortlaut des Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU nicht in Einklang zu bringen sei (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Februar 2023, Verg 9/22).
Das Oberlandesgericht Düsseldorf sah sich gleichwohl veranlasst, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob die EU-rechtliche Vorschrift des Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU im Lichte des EU-Primärrechts so auszulegen ist, dass das nach deutscher Rechtspraxis bereits seit vielen Jahren bemühte Rechtsinstitut der Interimsvergabe trotz des entgegenstehenden Wortlauts und trotz des Gebots einer restriktiven Auslegung legitimiert werden kann.
Konkret hat das Oberlandesgericht Düsseldorf die Frage vorgelegt, ob
„Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU mit Rücksicht auf Art. 14 AEUV einschränkend dahingehend auszulegen [ist], dass die Vergabe eines der Daseinsvorsorge dienenden öffentlichen Auftrags bei äußerster Dringlichkeit auch dann im Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung erfolgen kann, wenn das Ereignis für den öffentlichen Auftraggeber voraussehbar und die angeführten Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit ihm zuzuschreiben sind?“.
Der Senat hat es für möglich erachtet, dass Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU, sofern er aufgrund eines Spannungsverhältnisses zu Art. 14 AEUV einschränkend auszulegen sein sollte, trotz seines eindeutigen Wortlauts von § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV Raum für die Zulässigkeit der Interimsvergabe belassen könnte.
Aus Sicht des Autors ist es begrüßenswert, dass das Oberlandesgericht Düsseldorf die EU-rechtliche Problematik zum Anlass genommen hat, dem EuGH eine entsprechende Frage zur Auslegung im Lichte des EU-Primärrechts vorzulegen. Eine Positionierung zur Interimsvergabe bleibt dem EuGH nach dem Streichungsbeschluss allerdings vorerst verwehrt. Mehr denn je kommt es daher auf eine vertiefte Auseinandersetzung der zuständigen Nachprüfungsinstanzen mit dem Rechtsinstitut der Interimsvergabe an.
Zwar hatten sich bereits im Jahr 2022 weitere Obergerichte mit diesem Problemkreis befasst (OLG Bremen, Beschluss vom 1. April 2022, 2 Verg 1/21; KG Berlin, Beschluss vom 10. Mai 2022, Verg 1/22; BayObLG, Beschluss vom 31. Oktober 2022, VERG 13.22 V; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 24. November 2022, 11 Verg 5/22), allerdings war die Frage der EU-rechtlichen Zulässigkeit der Interimsvergabe jeweils nicht entscheidungserheblich (und damit auch nicht vorabentscheidungsfähig).
Der Autor ist davon überzeugt, dass der EuGH das Rechtsinstitut der Interimsvergabe, wäre es nicht zum Streichungsbeschluss gekommen, für EU-rechtswidrig erklärt hätte.
a. Unvereinbarkeit der Interimsvergabe mit Wortlaut des Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU
Nach Auffassung des Autors kann das Rechtsinstitut der Interimsvergabe nicht unter dem eng auszulegenden Ausnahmetatbestand der Dringlichkeitsvergabe legitimiert werden. Eine derart extensive Auslegung ist weder mit dem Wortlaut aus § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV noch mit demjenigen aus Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU vereinbar.
Auch der Vergabesenat aus Düsseldorf sieht sich
„[…] durch Art. 32 Abs. 2 lit. c der Vergaberichtlinie 2014/24/EU an einer entsprechend einschränkenden Anwendung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV gehindert. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung von den nationalen Trägern öffentlicher Gewalt, alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht […]. Der Senat erachtet den Wortlaut der Richtlinie als dahingehend eindeutig, dass er eine Außerachtlassung der Aspekte der Zurechenbarkeit und Vorhersehbarkeit nicht gestattet“ (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Februar 2023, Verg 9/22).
Ähnlich kritisch wurde dies bereits durch die Vergabesenate in Bremen und Berlin beurteilt (OLG Bremen, Beschluss vom 1. April 2022, 2 Verg 1/21; KG Berlin, Beschluss vom 10. Mai 2022, Verg 1/22; a.A.: BayObLG, Beschluss vom 31. Oktober 2022, VERG 13.22 V; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 24. November 2022, 11 Verg 5/22).
Die Rechtsauffassung der genannten Obergerichte ist damit auf Linie der bisherigen Rechtsprechung aus Luxemburg. Der EuGH hat bereits in einer früheren Entscheidung klargestellt, dass
„Mitgliedstaaten […] weder in der Richtlinie 93/36 [Vorgängerrichtlinie zur Richtlinie 2014/24/EU] nicht geregelte Tatbestände für den Rückgriff auf das Verhandlungsverfahren vorsehen noch die dort ausdrücklich geregelten Tatbestände um neue Bestimmungen ergänzen [können], die den Rückgriff auf das Verhandlungsverfahren erleichtern, da sie sonst die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beseitigen würden“ (EuGH, Urteil vom 8. April 2008, C-337/05).
Hinzutritt, dass sowohl die Organe der Europäischen Union als auch die Mitgliedstaaten gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV gehalten sind, den im EU-rechtlichen Rangverhältnis zwischen Primär- und Sekundärrecht anzusiedelnden (und damit auch gegenüber nationalen Regelungen Vorrang genießenden) Regelungsgehalt des Art. 13 Abs. 1 lit. d WTO Agreement on Government Procurement – der wortlautidentisch zu Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU (und damit auch zu § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV) gefasst ist – zu berücksichtigen.
b. Kein Spannungsverhältnis zwischen Art. 14 AEUV und Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU
Nach Ansicht des Verfassers fehlt es auch – und dies ist entscheidend für die Prognose einer abschlägigen Entscheidung aus Luxemburg – aus gleich mehreren Gründen an besagtem Spannungsverhältnis zwischen Art. 14 AEUV (dasselbe gilt für Art. 36 EU-Grundrechtecharta in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EUV) und Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU:
(1) Der generell-abstrakte Regelungsgehalt des EU-Vergaberechts steht der Wahrnehmung von Aufgaben der Daseinsvorsorge nicht entgegen. Im Gegenteil gewährleistet das grundsätzlich geltende Postulat zur Durchführung wettbewerblicher Vergabeverfahren eine hohe Qualität der zu beschaffenden Leistungen und so auch der hiermit korrelierenden Aufgabenwahrnehmung im Bereich der Daseinsvorsorge. Eine qualitativ hochwertige Erfüllung von Aufgaben der Daseinsvorsorge ist ausweislich Art. 1 Protokoll Nr. 26 über die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Anhang zum AEUV) sogar Bestandteil der gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse.
Art. 14 AEUV soll gewährleisten, dass „die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste [von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse] so gestaltet sind, dass [die Mitgliedsstaaten] ihren Aufgaben nachkommen können.“
Art. 106 Abs. 2 AEUV stellt flankierend zu Art. 14 AEUV klar, dass die EU-wettbewerbsrechtlichen Regelungen aus Art. 101 ff. AEUV nur gelten, soweit ihre Anwendung die Wahrnehmung von Aufgaben der Daseinsvorsorge nicht verhindert. Auf Basis dieser Vorschrift hat die Europäische Kommission aufsetzend auf der Altmarktrans-Entscheidung (EuGH, Urteil vom 24. Juli 2003, C-280/00) das sog. DAWI-Paket bestehend aus der DAWI-Mitteilung, der De-minimis-Verordnung für DAWI, dem DAWI-Beschluss und dem DAWI-Rahmen (vgl. dazu den DAWI-Leitfaden der Europäischen Kommission) erlassen, das die eigentlich gegen geltendes EU-Beihilferecht verstoßende Subventionierung von Tätigkeiten im Bereich der Daseinsvorsorge bei Einhaltung bestimmter Voraussetzungen auf Tatbestands- oder Rechtfertigungsebene legitimiert.
Die Regelungen des EU-Vergaberechts bedürfen keiner vergleichbaren Ergänzung. Im Gegenteil sind die verfahrensbezogenen Vorgaben des DAWI-Pakets – insbesondere die Durchführung offener, transparenter und diskriminierungsfreier Bieterverfahren als Referenzmechanismus für die Gewährung einer dem Erforderlichkeitsprinzip entsprechenden Ausgleichszahlung – mit denjenigen des EU-Vergaberechts vergleichbar. In beiden Fällen werden auf EU-rechtlicher Ebene Spielregeln definiert, deren Regelungsgehalt der Wahrnehmung und Durchführung von Aufgaben der Daseinsvorsorge nicht entgegensteht.
(2) Dementgegen kann – nicht auf abstrakt-genereller, sondern auf konkret-individueller Ebene – ein im Einzelfall in die Verantwortungssphäre des öffentlichen Auftraggebers fallender Verstoß gegen geltendes Vergaberecht die für eine Aufgabewahrnehmung im Bereich der Daseinsvorsorge erforderliche Beschaffung zeitlich verzögern bzw. für einen bestimmten Zeitraum verhindern. Ein solch konkret-individueller Verstoß vermag aber kein Spannungsverhältnis zu dem Funktionsgewährleistungsanspruch aus Art. 14 AEUV zu begründen.
Der Funktionsgewährleistungsanspruch aus Art. 14 AEUV soll sicherstellen, dass die (abstrakt-generell gerade nicht aufgabenverhindernd wirkenden) gesetzlichen und regulatorischen Vorgaben der EU – nicht jedoch ein konkret- individuelles Verhalten auf mitgliedsstaatlicher Ebene – einer kontinuierlichen, unterbrechungsfreien Aufgabenwahrnehmung nicht entgegenstehen.
Dieselbe Regelungslogik greift auch im EU-Beihilferecht. Sofern die oben dargestellten Regelungen aus dem DAWI-Paket – mit dem das durch die abstrakt-generelle Regelung des Beihilfeverbots hervorgerufene Spannungsverhältnis zu Art. 14 AEUV und Art. 106 Abs. 2 AEUV aufgelöst werden soll – im Einzelfall nicht eingehalten werden, kann der konkret-individuelle Verstoß nicht unter Verweis auf den Funktionsgewährleistungsanspruch aus Art. 14 AEUV resp. Art. 106 Abs. 2 AEUV legitimiert werden.
Sofern es im konkreten Einzelfall also bspw. an einem den EU-beihilferechtlichen Anforderungen nicht genügenden Betrauungsakt mangelt oder dem Erforderlichkeitsprinzip weder durch Vorlage eines Wertgutachtens noch durch ein offenes, transparentes und diskriminierungsfreies Bieterverfahren entsprochen wird, verstößt die Subventionierung der betreffenden Aufgabe der Daseinsvorsorge gegen das EU-Beihilfeverbot aus Art. 107 Abs. 1 AEUV und kann mittels Unvereinbarkeitsbeschluss der Europäischen Kommission und bei Verstoß gegen das in Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV niedergelegte Durchführungsverbot durch Urteil eines mitgliedsstaatlichen Gerichts zur Rückforderung der Zahlungen zzgl. Zinsen führen.
Selbst wenn man entgegen vorstehender Argumentationslinie aber ein aus den vergaberechtlichen Ausschreibungsobliegenheiten erwachsendes Spannungsverhältnis mit Aufgaben der Daseinsvorsorge grundsätzlich annehmen wollte, hätte der Europäische Gesetzgeber dieses Spannungsverhältnis rechtsfolgenseitig bereits vollständig aufgelöst.
Gemäß Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass
„die […] Nachprüfungsstelle einen Vertrag nicht als unwirksam erachten kann, selbst wenn der Auftrag in nicht legitimierter Weise ohne vorherige Bekanntmachung und damit rechtswidrig vergeben wurde, wenn […] zwingende Gründe eines Allgemeininteresses es rechtfertigen, die Wirkung des Vertrags zu erhalten“.
Nachprüfungsinstanzen dürfen nach derzeit geltender Gesetzeslage auf EU-Ebene also auf die grds. gebotene Sanktion der „Unwirksamkeit“ – die der Aufgabenwahrnehmung in Abgrenzung zur festgestellten und anderweitig sanktionierten „Rechtswidrigkeit“ in Konstellationen eigens verschuldeter und/oder verantworteter Dringlichkeit entgegenzustehen vermag – im Bereich der Daseinsvorsorge verzichten, wenn alternative Sanktionen verhängt werden, Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG.
Die alternativ zu verhängenden Sanktionen nach Art. 2e Abs. 2 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG – d.h. die Verhängung von Geldbußen/-strafen gegen den öffentlichen Auftraggeber oder die Verkürzung der Laufzeit des Vertrags – konfligieren regelmäßig auch nicht mit der Kontinuität der Leistungserbringung. Die unter Verstoß gegen geltendes Vergaberecht erfolgte Beschaffung wird in gebotenem Maß „sanktioniert“ aber nicht verhindert.
Der Kreis schließt sich bei Betrachtung des Zuwendungsvergaberechts, im Rahmen dessen eine unter Berufung auf das Rechtsinstitut der Interimsvergabe erfolgte Direktvergabe resp. ein draufgestütztes Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach Auffassung des Autors gegen geltendes Vergaberecht verstößt und – sofern in den Zuwendungsbedingungen die Einhaltung EU-vergaberechtlichen Regelungen zur Auflage nach § 36 Abs. 2 Nr. 4 des jeweils einschlägigen Verwaltungsverfahrensgesetzes gemacht wurde – einen Verstoß gegen Förderbedingungen impliziert.
Eine Korrektur der im zuwendungsrechtlichen Kontext drohenden Rechtsfolge in Form eines (Teil-)Widerrufs der Zuwendungsbescheids und der (Teil-)Rückforderung der Zuwendungen zzgl. Zinsen wäre – anders als im Falle einer in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren drohenden Unwirksamkeit des öffentlichen Auftrags – von Anfang nicht angezeigt, da zwar die die Tätigkeit subventionierende Zuwendung rückwirkend entfiele, die hier im Vordergrund stehende Wahrnehmung von Aufgaben der Daseinsvorsorge im Rahmen einer retrospektiven Fördermittelprüfung aber nicht mehr verhindert werden kann.
Soweit argumentiert wird, dass eine rechtsfolgenseitige Lösung nicht ausreiche, da die fehlende tatbestandliche Legitimation und die dadurch bedingte „Rechtswidrigkeit“ der in einer eigens verschuldeten/verantworten Dringlichkeitssituation erforderlichen Beschaffung den öffentlichen Auftraggeber resp. die für ihn handelnden Personen aufgrund des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung aus Art. 20 Abs. 3 GG davon abhalten könne, die Beschaffung zu tätigen (so Pauka, VergabeR 2023, 475), vermag diese ebenfalls nicht zu überzeugen.
Hierbei handelt es sich um ein Zirkelschlussargument. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung soll die Verantwortlichen anhalten, sich an geltende Gesetze – d.h. auch an geltendes EU-Vergaberecht – zu halten. Es dient gerade nicht dazu, einen in die eigene Verantwortungssphäre fallenden Verstoß – nur in diesen Fällen scheidet eine Legitimation über die Dringlichkeitsvergabe gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV aus – im Nachgang zu legitimieren.
Gleiches gilt im zuwendungsrechtlichen Kontext. Sofern der Einsatz von Zuwendungen in Bezug auf eine vergaberechtlich nicht legitimierbare Interimsvergabe bereits befürchten lässt, dass der betreffende Zuwendungsbescheid (zumindest teilweise) widerrufen und die Zuwendungen zzgl. Zinsen (zumindest teilweise) zurückgefordert werden, wäre der Interimsauftrag aus Eigenmitteln zu finanzieren und in gebotenem Umfang von den übrigen durch Zuwendungen finanzierten Folgebeschaffungen – wobei je nach Einzelfall eine dahingehende Abstimmung mit dem Zuwendungsgeber sinnvoll erscheint – abzugrenzen.
Auch der Umstand, dass der deutsche Gesetzgeber den auf EU-Ebene gewährten Umsetzungsspielraum – mit Ausnahme für die Beschaffung von Militärausrüstung zur unmittelbaren Stärkung der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr (§ 3 Abs. 4 und 5 BwBBG) und für die Beschaffung von Infrastruktur für LNG-Terminals (§ 9 Abs. 1 Nr. 4 und 6 LNGG) – bisher nicht genutzt hat, muss bei der rein EU-rechtlich zu vollziehenden Beurteilung eines kolportierten Spannungsverhältnisses zwischen EU-Primärrecht (Art. 14 AEUV) und EU-Sekundärrecht (Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU) unberücksichtigt bleiben.
Es fehlt daher aus gleich mehreren Gründen an dem durch das Oberlandesgericht Düsseldorf erwogenen Spannungsverhältnis zwischen EU-Sekundär- und EU-Primärrecht. Eine einschränkende Auslegung des Art. 32 Abs. 2 lit. c Richtlinie 2014/24/EU über seinen eindeutigen Wortlaut hinaus kommt nicht in Betracht, so dass das Rechtsinstitut der Interimsvergabe auch unter Berücksichtigung des Funktionsgewährleistungsanspruchs aus Art. 14 AEUV nicht legitimiert werden kann.
3. Ableitungen für die Praxis und Ausblick
Es erstaunt, dass die Regelung des Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG – obwohl das KG Berlin einen rechtsfolgenseitigen Lösungsansatz sogar in Betracht gezogen hat (KG Berlin, Beschluss vom 10. Mai 2022, Verg 1/22) – bisher in keiner obergerichtlichen Entscheidung zur Interimsvergabe berücksichtigt wurde.
Dies gilt umso mehr als die spezialgesetzlichen Regelungen in § 3 Abs. 4 und 5 BwBBG sowie § 9 Abs. 1 Nr. 4 und 6 LNGG den von Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG eröffneten Umsetzungsspielraum bereits ausschöpfen und sich die VK Bund in einer rechtskräftigen Entscheidung zu Art. 60 Abs. 3 der Richtlinie 2009/81/EG – der zu Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG inhaltsgleich gefasst ist – explizit positioniert sowie eine aus Sicht des Autors fundiert hergeleitete Entscheidung getroffen hat, in der sie die im Bereich der Daseinsvorsorge erforderliche Korrektur allein auf Rechtsfolgenseite vornimmt (VK Bund, Beschluss vom 19. September 2022, VK 2-80-22).
Nach Auffassung des Autors ist es daher bereits gegenwärtig möglich, den EU-rechtlichen Handlungsspielraum unter richtlinienkonformer Auslegung des § 135 Abs. 1 GWB auszuschöpfen. Die VK Bund erachtet das in § 135 Abs. 1 GWB angeordnete Unwirksamkeitsverdikt als in seiner Absolutheit nicht zwingend und hält es für möglich, dass ein Vertrag – sofern er in Einklang mit § 139 BGB und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf der Zeitschiene teilbar ist – ab einem bestimmten Zeitpunkt für unwirksam erklärt wird (VK Bund, Beschluss vom 19. September 2022, VK 2-80-22).
Alternativ könnte diese Rechtsfolge – gleichfalls in Einklang mit den EU-vergaberechtlichen Vorgaben – auch auf § 168 Abs. 1 GWB gestützt werden (so VK Niedersachsen, Beschluss vom 21. Juli 2023, VgK-16/2023, allerdings unter tatbestandlicher Legitimation des bis zur Überschreitung des erforderlichen Zeitraums vergebenen Teils des öffentlichen Auftrags).
Aus Sicht des Autors wäre es begrüßenswert, wenn die Bereitschaft extensiver Auslegung auf Tatbestandsebene einer lösungsorientierten Auslegung auf Rechtsfolgenseite weicht. Nur auf diese Weise wird zugleich höherrangigem EU-Recht entsprochen, der Kontinuität der Leistungserbringung im Bereich der Daseinsvorsorge Rechnung getragen und die general-präventive Wirkung effektiver Nachprüfungsmechanismen im Vergaberecht aufrechterhalten.
Die Pflicht zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes – auch und insbesondere – im Bereich der Daseinsvorsorge bei eigens verantworteten und vermeidbaren Verstößen gegen vergaberechtliche Ausschreibungsobliegenheiten folgt bereits aus dem Effektivitätsgrundsatz gemäß Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, der infolge „unvollständiger“ EU-Gesetzgebung (und im Gleichlauf mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 47 Abs. 1 EU-Grundrechtecharta und dem „Fair Trial“-Grundsatz aus Art. 6 EMRK als Individualschutz) von den mitgliedsstaatlichen Gerichten und Behörden eine möglichst effektive Rechtsdurchsetzung EU-rechtlicher Bestimmungen verlangt, und in Art. 2 Abs. 8 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG, wonach „die Mitgliedstaaten [sicherzustellen haben], dass die Entscheidungen der Nachprüfungsstellen wirksam durchgesetzt werden können“, für die Zwecke des Vergaberechts konkretisiert wurde.
Unabhängig davon, dass die VK Bund bereits einen Weg für eine Übergangslösung auf Basis der derzeit geltenden Gesetzeslage aufgezeigt hat, bedarf es mittelfristig legislativer Anpassungen, die – nach Kenntnisstand des Autors – bereits im Rahmen der derzeit laufenden Transformationsbestrebungen des Vergaberechts diskutiert und analysiert werden.
Aus Sicht des Autors bietet es sich an, die Regelungsmechanik des § 135 GWB – der im Rahmen der letzten Vergaberechtsreform bereits um die bis dahin nicht umgesetzte Möglichkeit zur Vornahme einer Ex-ante-Bekanntmachung ergänzt wurde – für den Bereich der Daseinsvorsorge um eine Ausnahmeregelung von dem derzeit absolut formulierten Unwirksamkeitsverdikt samt dann erforderlicher Möglichkeit zur Verhängung alternativer Sanktionen nach Art. 2 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG zu erweitern.
Anders als im Rahmen der in § 3 Abs. 4 und 5 BwBBG und § 9 Abs. 1 Nr. 4 und 6 LNGG bereits erfolgten Umsetzung sollte der in Art. 2d Abs. 3 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG vorgesehene Regelungsgehalt nicht lediglich wortlautidentisch übernommen, sondern innerhalb des EU-rechtlich gewährten Umsetzungsspielraums eine möglichst alle Interessen berücksichtigende Regelung geschaffen werden.
Den Nachprüfungsinstanzen sollte dabei grundsätzlich ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt werden, um alle relevanten Faktoren wie die Schwere des Verstoßes, das Nachverhalten des öffentlichen Auftraggebers und den Umfang, in dem der Vertrag seine Gültigkeit behalten soll, berücksichtigen zu können.
Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf die alternativen Sanktionen nach Art. 2e Abs. 2 Richtlinie 89/665/EWG in der Fassung der Richtlinie 2007/66/EG – d.h. die Verhängung von Geldbußen/-strafen gegen den öffentlichen Auftraggeber oder die Verkürzung der Laufzeit des Vertrags – gelegt werden. Die durch das EU-Recht vorgegebenen Alternativsanktionen sind – anders als bei Umsetzung des BwBBG und LNGG geschehen – nicht nahezu wortlautidentisch zu übernehmen, sondern unter Wahrung des Bestimmtheits- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu konkretisieren. Darüber hinaus bedarf es einer dezidierten Auseinandersetzung mit den durch die Alternativsanktionen hervorgerufenen Schnittstellenfragen. Während sich bei der Verkürzung der Vertragslaufzeit insbesondere zivil- und vertragsrechtliche Abgrenzungsfragen stellen, unterfiele die Verhängung von Geldbußen/-strafen gegen den öffentlichen Auftraggeber (mangels Existenz eines Unternehmensstrafrechts) der Regelungsmechanik des Ordnungswidrigkeitenrechts.
Bei dieser Gelegenheit sollte auch Fragen der Vollstreckung Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dies gilt insbesondere für die derzeit fehlende Vollstreckbarkeit des tenorierten Unwirksamkeitsverdikts (samt Einordnung desselben als Gestaltungs- oder Feststellungstenor), die damit korrelierende Erforderlichkeit zur Erweiterung des Tenors um ein Tun, Dulden oder Unterlassen (unter gleichfalls gebotener Wahrung der Beschaffungsautonomie des öffentlichen Auftraggebers). So hat etwa die VK Rheinland neben dem Tenor aus § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB die weitere Ausführung des öffentlichen Auftrags durch das per unzulässiger Direktvergabe bezuschlagte Unternehmen untersagt sowie dem öffentlichen Auftraggeber aufgegebenen, die Fortsetzung entsprechender Arbeiten vor Ort zu verhindern und (bei fortbestehender Beschaffungsabsicht) den Auftrag in dem Umfang, in dem die Leistungen noch nicht ausgeführt waren (unter Beachtung der Rechtsauffassung der Vergabekammer) zu vergeben (VK Rheinland, Beschluss vom 11. Mai 2023, VK – 9/2023-B).
Gleichfalls relevant ist der Umgang mit Rückabwicklungspflichten, die nach Auffassung des Autors (derzeit) eigentlich nicht Gegenstand des Vergaberechts (so aber tenorierend: VK Südbayern, Beschluss vom 26. Juni 2023, 3194.Z3-3_01-23-9; nicht tenorierend, aber in den Gründen feststellend: VK Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16. Dezember 2022, VK 1 – 4/22), sondern allein des Haushaltsrechts sind (vgl. bspw. § 59 Abs. 1 BHO). Diese und weitere Aspekte der Vollstreckung sind sowohl mit der Regelfolge des Unwirksamkeitsverdikts als auch mit den in Ausnahmefällen in Betracht kommenden Alternativsanktionen untrennbar verbunden und aufgrund der in der Praxis zunehmenden Fälle bestehender Beharrungstendenz, in denen rechtskräftige Beschlüsse der zuständigen Nachprüfungsinstanzen ignoriert werden von Relevanz (vgl. dazu bspw. VK Südbayern, Beschluss vom 26. Juni 2023, 3194.Z3-3_01-23-9).
Unabhängig von den die Interimsvergabe betreffenden Fragestellungen und Folgeimplikationen und den weitreichenden Auswirkungen auf die Vergabepraxis bietet die derzeit geführte Diskussion zur tatbestandlichen Einordnung des Rechtsinstituts der Interimsvergabe auch Chancen für die Weiterentwicklung des Vergaberechts. Im Idealfall dient die Debatte also nicht nur als Beleg für die Diskursfähigkeit der Vergabepraxis, sondern auch als Nachweis für die Reflexions- und Transformationsfähigkeit des Vergaberechts und der mit ihm eng verbundenen Akteure.
Somit erwachsen aus der verstrichenen Möglichkeit einer Klarstellung offener Rechtsfragen durch den EuGH neue Chancen, die derzeit geführte Diskussion zur tatbestandlichen Einordnung des Rechtsinstituts der Interimsvergabe für die Weiterentwicklung der Vergabepraxis zu nutzen und die Reflexions- und Transformationsfähigkeit des Vergaberechts unter Beweis zu stellen.
Sebastian Schnitzler, LL.M.
Sebastian Schnitzler leitet vom Hamburger Standort aus den Bereich EU/Public Procurement von Deloitte Legal in Deutschland. Er ist zugelassener Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht und Mediator. Mit seinem Team widmet er sich mit großer Passion und Leidenschaft EU-vergaberechtlichen Fragestellungen aller Couleur. Er führt regelmäßig Seminare und Workshops durch, beteiligt sich durch Vorträge und Fachpublikationen am wissenschaftlichen Diskurs und ist Autor eines Online-Kommentars zum Vergaberecht.
Schreibe einen Kommentar