Der EuGH hat im Zusammenhang mit wesentlichen Auftragsänderungen einerseits entschieden, dass eine Auftragsänderung auch ohne Vorliegen einer ausdrücklichen schriftlichen Vereinbarung gegeben sein kann und andererseits wenig überraschend festgestellt, dass der Umstand, dass ein gewöhnliches Wetter herrscht, nicht zur Verlängerung vertraglich vereinbarter Ausführungsfristen berechtigt. Praktische Konsequenzen für öffentliche Auftraggeber lassen sich trotzdem daraus ableiten.
Sachverhalt
Die Auftraggeberin, die bulgarische Gemeinde Razgrad, führte 2018 ein offenes Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags über den Bau einer Sporthalle in einem Berufsgymnasium dieser Gemeinde, finanziert mit Mitteln aus den ESI-Fonds, durch. In dem Verfahren wurde nur ein Angebot eingereicht. Laut Vertrag waren die Bauarbeiten bis zum 30.11.2019 abzuschließen.
Der Auftragnehmer setzte die Arbeit wetterbedingt und aus Gründen der Neugestaltung des Investitionsvorhabens mehrmals aus. Die tatsächliche Ausführung dauerte 525 Tage. Die vom Auftragnehmer vorgetragenen Gründe erstreckten sich nicht auf den gesamten Zeitraum der Verzögerung. Für die Verzögerung vom 30.01.2020 bis 24.02.2020 wurde weder eine Begründung vorgetragen noch berechnete der Auftraggeber eine Vertragsstrafe wegen Verzuges.
Als Sanktion hat der Leiter der Verwaltungsbehörde entschieden, „auf die Gemeinde Razgrad eine finanzielle Berichtigung in Höhe von 25 % der im Rahmen der ESI‑Fonds förderfähigen Kosten im Sinne von Art. 1 Abs. 2 des Gesetzes über die Verwaltung der ESI‑Fonds wegen Verstoßes gegen das Gesetz über die Vergabe öffentlicher Aufträge anzuwenden.“ Nach Ansicht des Leiters der Verwaltungsbehörde sei die Laufzeit des Vertrages eines seiner wesentlichen Elemente. Die Höchst-Ausführungsdauer hätte nicht überschritten werden dürfen, zumal die Ausführungsdauer Bewertungsgegenstand im Vergabeverfahren gewesen sei. Eine Überschreitung dieser Ausführungsfristen ohne objektive Rechtfertigung und ohne Bemerkungen des öffentlichen Auftraggebers beziehungsweise ohne Geltendmachung von Vertragsstrafen stelle eine rechtswidrige Änderung der Bedingungen des öffentlichen Auftrags dar.
Die Gemeinde erhob dagegen Klage beim Verwaltungsgericht Razgard. Das Gericht gab der Gemeinde mit der Begründung Recht, ein Vertrag über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags könne nur durch eine schriftliche Vereinbarung geändert werden. Vielmehr läge hier lediglich eine nicht ordnungsgemäße Erfüllung eines Vertrages vor. Dafür sei auch unerheblich, ob der Vertrag eine Vertragsstrafe wegen Verzuges vorsehe, die nicht angewandt worden sei.
Gegen dieses Urteil hat der Leiter der Verwaltungsbehörde Kassationsbeschwerde beim Obersten Verwaltungsgericht Bulgarien eingelegt.
Zusammen mit dem oben dargestellten Sachverhalt hat das Oberste Verwaltungsgericht einen zweiten, ähnlich gelagerten Sachverhalt dem EuGH zur Entscheidung vorlegt. Im zweiten Fall hatte die Gemeinde Balchik die Gestaltung der Küstenpromenade dieser Gemeinde nach einem offenen Verfahren mit zwei Bietern beauftragt. Auch hier war eine Ausführungsfrist vorgegeben, die erheblich überschritten worden ist. Ursache für die Verzögerung waren in diesem Fall einerseits ungünstige, allerdings gewöhnliche Wetterbedingungen und andererseits ein zum Zeitpunkt des Auftragsvergabe bestehendes gesetzliches Verbot, „in den nationalen Badeorten der Schwarzmeerküste während der Tourismussaison vom 15. Mai bis 1. Oktober Bau- und Installationsarbeiten durchzuführen“.
Das Oberste Verwaltungsgericht hat dem EuGH folgenden Vorlagefragen 1 und 2 vorgelegt:
„Steht Art. 72 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2014/24 in Verbindung mit dessen Abs. 4 Buchst. a und b einer nationalen Regelung oder einer Praxis der Auslegung und Anwendung dieser Regelung entgegen, wonach ein Verstoß gegen die Vorschriften über eine wesentliche Änderung des öffentlichen Auftrags nur dann angenommen werden kann, wenn die Parteien eine schriftliche Vereinbarung/einen Anhang zur Änderung des Auftrags unterzeichnet haben?
Falls die erste Frage verneint wird: Steht Art. 72 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2014/24 in Verbindung mit dessen Abs. 4 Buchst. a und b einer nationalen Regelung oder einer Praxis der Auslegung und Anwendung dieser Regelung entgegen, wonach eine rechtswidrige Änderung öffentlicher Aufträge nicht nur durch eine von den Parteien unterzeichnete schriftliche Vereinbarung, sondern auch durch gegen die Vorschriften über die Auftragsänderung verstoßende gemeinsame Handlungen der Parteien erfolgen kann, die in der Kommunikation und deren schriftlichen Spuren (wie denen im Ausgangsverfahren) zum Ausdruck kommen, aus denen auf einen übereinstimmenden Willen bezüglich der genannten Änderung geschlossen werden kann?“
Die Vorlagefragen 3 bis 5 der Rechtssache 443/22 betrafen insbesondere die notwendige Sorgfalt gem. Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/24, die ein Auftraggeber bei der Gestaltung eines Vergabeverfahrens aufwenden muss, um Umstände vorherzusehen, die später zu einer Verzögerung führen können, wie gewöhnliche Wetterbedingungen und gesetzliche Verbote.
Der EuGH hat über die Vorlagefragen als Rechtssachen C‑441/22 und C‑443/22 entschieden.
Die Entscheidung
Der EuGH hat die o.g. Fragen 1 und 2 wie folgt beantwortet (EuGH, Urteil vom 07.12.2023 Rs. C-441/22 und C-443/22, Rdn. 65):
„Somit ist auf die Fragen 1 und 2 in den Rechtssachen C‑441/22 und C‑443/22 zu antworten, dass Art. 72 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen ist, dass, um eine Änderung eines Vertrags über einen öffentlichen Auftrag als „wesentlich“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen, die Vertragsparteien keine schriftliche Vereinbarung unterzeichnet haben müssen, deren Gegenstand diese Änderung ist, wenn sich ein übereinstimmender Wille, die betreffende Änderung vorzunehmen, auch aus u. a. anderen schriftlichen Äußerungen dieser Parteien ableiten lässt.“.
Die Fragen 3 bis 5 der Rechtssache 443/22 hat der EuGH wie folgt beantwortet (EuGH, Urteil vom 07.12.2023 Rs. C-441/22 und C-443/22, Rdn. 73):
„Nach alledem ist auf die Fragen 3 bis 5 in der Rechtssache C‑443/22 zu antworten, dass Art. 72 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen ist, dass die Sorgfalt, die der öffentliche Auftraggeber an den Tag gelegt haben muss, um sich auf diese Bestimmung berufen zu können, u. a. erfordert, dass der öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung des betreffenden öffentlichen Auftrags die Risiken berücksichtigt hat, die sich für die Einhaltung der Frist für die Ausführung dieses Auftrags aus den gewöhnlichen Wetterbedingungen sowie aus den vorab bekannt gegebenen, während eines Zeitraums, der in den der Auftragsausführung fällt, geltenden gesetzlichen Verboten der Durchführung von Bauleistungen ergeben; dabei können derartige Wetterbedingungen und gesetzliche Verbote, wenn sie nicht in den das Vergabeverfahren regelnden Unterlagen vorgesehen waren, die Ausführung von Arbeiten, die die in diesen Unterlagen und dem ursprünglichen Vertrag über einen öffentlichen Auftrag festgelegte Frist überschreitet, nicht rechtfertigen.“
Rechtliche Würdigung
Nach deutschem Recht betrifft das Urteil hinsichtlich der Rechtssache C‑441/22 die Frage, ob eine wesentliche Änderung eines öffentlichen Auftrags gem. § 132 Abs. 1 GWB tatbestandlich vorliegen kann, wenn der Inhalt der Änderung nicht in einer ausdrücklichen schriftlichen Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien niedergelegt ist.
Explizit befasst sich die Antwort auf die Fragen 1 und 2 mit der Auslegung von Art. 72 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 4 der Richtlinie 2014/24, in dem geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen die Änderung eines Auftrags oder einer Rahmenvereinbarung als wesentlich anzusehen ist.
Die Fragen 3 bis 5 der Rechtssache C-443/22 betreffen nach deutschem Recht die Sorgfaltspflicht in Bezug auf die Vorhersehbarkeit von Umständen gem. § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB.
Den Feststellungen des EuGH ist zuzustimmen.
Das gilt einerseits für die Antworten auf die Fragen 1 und 2, dass es für die vergaberechtliche Würdigung einer möglichen Auftragsänderung nicht darauf ankommen kann, ob die Auftragsänderung ausdrücklich schriftlich vereinbart worden ist oder der ausdrückliche Wille beider Vertragsparteien, eine Auftragsänderung praktisch umzusetzen, durch andere schriftliche Äußerungen der Vertragsparteien erkennbar wird.
Das gilt ferner auch für die Antwort auf die Fragen 3 bis 5. Dass die rechtliche Begründung des EuGH für die Antwort auf die Fragen 3 bis 5 unter Verweis auf Erwägungsgrund 109 der Richtlinie 2014/24 knapp ausfällt (Rdn. 66 ff.), überrascht nicht, wenn man sich bewusst macht, dass der öffentliche Auftraggeber die Verzögerung nach Zuschlag einerseits durch den Hinweis auf gewöhnliches Wetter und andererseits durch Hinweis auf ein gesetzliches „Bau- und Installationsverbot“, das bereits zum Zeitpunkt der Auftragsvergabe bestanden hat, zu rechtfertigen versucht hat. Man möchte ausrufen „Oh, welch ein unvorhersehbarer Umstand: Heute ist Wetter!“.
Praxistipp
So wie die Feststellungen des EuGH als Binsenweisheiten erscheinen, wirken auch die Schlussfolgerungen für die Praxis öffentlicher Auftraggeber:
Prüfen Sie die möglichen Risiken der auszuschreibenden Leistung sorgfältig und bilden Sie die Risiken authentisch in den Vergabeunterlagen ab!
Bevor Sie diese Aussage als trivial abtuen: Gerade in Bezug auf Zeitpläne drohen Auftraggebern „systemimmanente Abweichungen“ der Realität von Planannahmen durch
- Zeitvorgaben eines Fördermittelbescheides, die optimale Bedingungen in Bezug auf das Vergabeverfahren und die Leistungserbringung unterstellen,
- Verzögerungen des Vergabeverfahrens durch „eigentlich steuerbare“ Umstände,
- Verzögerungen der Leistungserbringung durch Umstände, die eigentlich vorhersehbar im Sinne des § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB und zumindest beeinflussbar sind.
Die gute Nachricht: Macht sich der Auftraggeber diese Risiken zu Beginn der Erstellung der Vergabeunterlagen so konkret wie möglich bewusst, versetzt er sich selbst in die Lage, diese mit den Instrumenten des Vergaberechts bestmöglich zu begrenzen und das Vergabeverfahren effektiv auszugestalten. Folgende Instrumente stehen dem öffentlichen Auftraggeber in Bezug auf den Zeitbedarf insbesondere zur Verfügung:
- Substantiierung des Zeitbedarfs durch eine Markterkundung
- Lösungsbeiträge der Bieter zur Minimierung von zeitlichen Risiken
- Zusagen zu Ausführungsterminen als gewerteter Angebotsinhalt
- Flankierende Konzepte als gewerteter Angebotsinhalt, sofern Zeitplan-Einhaltung komplexen steuerbaren Einflüssen unterliegt (also nicht: Wetter!)
- Bewertung von Erfahrungswissen des Bieterpersonals (§ 58 Abs. 2 Nr. 2 VgV), sofern Zeitplan-Einhaltung steuerbaren Einflüssen unterliegt
- Bewusste Ausgestaltung erwartbarer Plan-B-Szenarien
- Angemessene Vertragsstrafen bei Verzug
- Modellierung von Überprüfungsklauseln im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 GWB (vgl. dazu EuGH vom 07.12.2023 Rdn. 71)
- Verlängerungsmöglichkeiten in Bezug auf die Vertragslaufzeit
Dem Urteil des EuGH sind zumindest mittelbar Anregungen in Bezug auf das Verhältnis Öffentlicher Auftraggeber ./. Fördermittelgeber zu entnehmen: Wenn der EuGH Öffentliche Auftraggeber indirekt und richtigerweise auffordert, Risiken der Leistungserbringung authentisch in den Vergabeunterlagen abzubilden, sollten Öffentliche Auftraggeber im Bedarfsfall vor der Auftragsbekanntmachung Risiken auch gegenüber dem Fördermittelgeber thematisieren, um Spielräume zu klären.
Da Fördermittel wohl niemals Selbstzweck sind, sondern einem bestimmten angestrebten Zweck dienen, liegt es nahe, über die Erreichbarkeit des Zwecks eine gemeinsame Einschätzung unter Berücksichtigung der aktuellen Sachlage und absehbaren Risiken zu treffen. Ein Vergabeverfahren, das u.a. dem Sorgfaltsmaßstab des Erwägungsgrundes 109 der Richtlinie 2014/24 Rechnung trägt, braucht Zeit für die Erstellung qualitativ hochwertiger Vergabeunterlagen.
Es dürfte Fälle geben, in denen die Verlängerung der Ausführungsfrist durch den Fördermittelgeber die richtige Antwort ist. Gründe dafür wären etwa, dass die Erstellung der Vergabeunterlagen mehr Zeit beansprucht als vom Fördermittelgeber modelliert oder dass der Auftraggeber berechtigterweise Risiken abbilden will, die der Fördermittelgeber so nicht gesehen hat. Eine Ausrichtung an den haushaltsrechtlichen Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (§ 7 BHO, § 7 Haushaltsordnungen der Länder) dürfte in vielen Fällen für die Verlängerung der Ausführungsfrist durch den Fördermittelgeber sprechen.
Schließlich ist zu hoffen, dass die nationalen Gerichte das Urteil des EuGH nicht zum Anlass nehmen, den Sorgfaltsmaßstab, den öffentliche Auftraggeber bei der Erstellung der Vergabeunterlagen aufzuwenden haben, über den Wortlaut des Erwägungsgrundes 109 der Richtlinie 2014/24 auszudehnen. Die zunehmende Komplexität der Anforderungen an öffentliche Auftraggeber und die Auswirkungen auf die Gestaltung von Vergabeverfahren dürfte einen Beitrag zur fehlenden Attraktivität von Vergabeverfahren (vgl. Sonderbericht 28 des Europäischen Rechnungshofs : Öffentliches Auftragswesen in der EU, S. 57) leisten. Auch diese Komplexität wirkt somit der Erfüllung der o.g. haushaltsrechtlichen Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entgegen.
Das Urteil des EuGH vom 07.12.2023 – C-441/22 „Obshtina Razgrad“ und C-443/22 „Obshtina Balchik“ gibt jedenfalls keinen Anlass, den Sorgfaltsmaßstab, den öffentliche Auftraggeber bei der Erstellung der Vergabeunterlagen aufzuwenden haben, über den Wortlaut des Erwägungsgrundes 109 der Richtlinie 2014/24 hinaus auszudehnen.
Dr. Andreas Bock
Herr Dr. Andreas Bock ist Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei kbk Rechtsanwälte, Hannover. Er berät insbesondere öffentliche Auftraggeber bei der Beschaffung komplexer IT-Systeme (Hard- und Software), sowohl vertrags- als auch vergaberechtlich. Zu seinen Beratungsfeldern gehören darüber hinaus die Begleitung von Vergabeverfahren für Telekommunikation sowie die Umsetzung von IT-Projekten. Herr Bock ist Autor zahlreicher Fachpublikationen und u.a. Mitautor eines vergaberechtlichen Praxiskommentars.
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