Wegen des mittlerweile über 2 Jahren dauernden russischen Angriffskriegs möchten Auftraggeber im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich teilweise auf lange Vergabeverfahren verzichten und Aufträge direkt vergeben. Das OLG Düsseldorf hat die „Direktvergabe“ eines Großauftrags über mehr als eine Milliarde Euro überprüft und bestätigt, dass angesichts des Ukraine-Krieges und seinen Auswirkungen auf Deutschlands Sicherheit die Beschaffung der Funkgeräte für die Bundeswehr vergaberechtsfrei war. Um wesentliche Sicherheitsinteressen zu wahren, durften die Funkgeräte als Kriegsmaterial „direkt vergeben“ werden.
§ 107 Abs. 2 GWB, Art. 346 Abs. 1, Abs. 2 AEUV, § 12 Abs. 1 Nr. 1 VSVgV
Im September 2021 schrieb die Bundeswehr Funkgeräte europaweit im Wege eines Verhandlungsverfahrens mit Teilnahmewettbewerb aus.
Noch vor Abschluss des Teilnahmewettbewerbs griff Russland im Februar 2022 die Ukraine an. Nach interner Prüfung kam das Verteidigungsministerium mit der Bundeswehr überein, dass die geänderte Bedrohungsanalyse erhebliche Auswirkungen auf die Einsatzverpflichtungen der Bundeswehr und damit den Beschaffungsbedarf habe.
Die Bundeswehr entschied das Verhandlungsverfahren aufzuheben und die Funkgeräte direkt bei einem deutschen Unternehmen zu beschaffen.
Im Vergabevermerk dokumentierte die Bundeswehr, dass für den Einkauf der Funkgeräte eine Ausnahme vom Vergaberecht nach § 107 Abs. 2 Nr. 2 GWB i.V.m. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV bestehe.
Zur Wahrung der wesentlichen Sicherheitsinteressen seien die konkreten Modalitäten (unter anderem Auftragsvolumen und Anzahl der Funkgeräte) des direkt zu vergebenden Auftrags geheim zu halten. Den Vergabevermerk sowie die Vergabeakte stufte die Bundeswehr konsequent größtenteils als geheim ein.
Zudem dokumentierte die Bundeswehr, dass ein (wettbewerbliches) Verfahren nach der VSVgV nicht gleichermaßen geeignet sei, die konkreten Modalitäten des Auftrags geheim zu halten und damit wesentlichen Sicherheitsinteressen Deutschlands zu wahren.
Ein französischer Konkurrenzanbieter leitete wegen der „Direktvergabe“ ein Nachprüfungsverfahren ein. Im Wesentlichen trug er vor, dass die Beschaffung nicht in den Anwendungsbereich der Ausnahmevorschrift des § 107 Abs. 2 GWB falle. Die wesentlichen Informationen zur geforderten Beschaffenheit und Funktion der Funkgeräte seien bereits in dem Teilnahmewettbewerb des aufgehobenen Verhandlungsverfahrens bekanntgemacht.
Darüber hinaus lägen auch die Voraussetzungen für ein Verhandlungsverfahren mit nur einem einzigen Unternehmen nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 VSVgV nicht vor. Weder sei eine Dringlichkeit nach § 12 I Nr. 1 lit. b) VSVgV noch eine Alleinstellung aufgrund der Anforderungen an die Abhörsicherheit der Funkgeräte nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) VSVgV gegeben.
Die VK Bund hatte den Nachprüfungsantrag als unbegründet zurückgewiesen und sich hierbei auf eine Alleinstellung nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) VSVgV gestützt. Nach Auffassung der VK Bund fiel die Beschaffung jedoch nicht unter die Ausnahmen vom Vergaberecht nach § 107 Abs. 2 GWB. Beide Varianten des § 107 Abs. 2 GWB i. V. m. Art 346 Abs. 1 AEUV setzten voraus, dass zum Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen der Verzicht auf ein Vergabeverfahren auch wirklich erforderlich sein müsse. Das sei nicht der Fall, da die Bundeswehr auch befugt gewesen sei, den Auftrag im Wege eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb direkt nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) VSVgV zu vergeben.
Gegen die Entscheidung der VK Bund legte der Konkurrenzanbieter sofortige Beschwerde beim OLG Düsseldorf ein und führte vertiefend aus, dass einer Direktvergabe wegen einer Alleinstellung nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) VSVgV bereits die der ursprünglichen (aufgehobenen) Ausschreibung entspringende Selbstbindung entgegenstünde.
Ohne Erfolg! Das OLG Düsseldorf bestätigt, dass die Direktvergabe wirksam ist.
Der Vergabesenat weicht jedoch von der durch die VK Bund vertretenen Auffassung ab und erläutert, dass die Beschaffung der Funkgeräte bereits nach § 107 Abs. 2 Nr. 2 GWB i.V.m. Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV vom Vergaberecht ausgenommen sei.
Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV sehe vor, dass jeder Mitgliedstaat Maßnahmen ergreifen könne, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich seien, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen. Die Ausnahmevorschrift stelle zwar besonders hohe Anforderungen an die Erforderlichkeit der Maßnahme. Ein Vergabeverfahren nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) VSVgV aufgrund eines (ggf. vermeintlichen) Alleinstellungsmerkmals sei aber eben keine mildere Maßnahme. Wettbewerb bestehe so oder so nicht.
Für die Einschätzung, ob die Maßnahme (wie hier die vom Vergaberecht ausgenommene Vergabe) für die Wahrung wesentlicher Sicherheitsinteressen erforderlich sei, sei das Vorliegen bzw. die Prüfung eines Alleinstellungmerkmals daher unerheblich.
Im Einzelnen:
Die Funkgeräte seien als elektronisches Material für militärische Zwecke in der in Art. 346 Abs. 2 AEUV in Bezug genommenen und vom Rat am 15. April 1958 aufgestellten Warenliste aufgeführt (vergl. Entscheidung zur Festlegung der Produkte Waffen, Munition und Kriegsmaterial, Dok. 255/58).
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (etwa Urteil v. 7.06.2012, C-615) und nach Auffassung der EU-Kommission sei für die Einordnung als Kriegsmaterial maßgeblich, dass es sich bei dem zu beschaffenden Gegenstand um Material handele, das in objektiver Hinsicht spezifische militärische Eigenschaften aufweise.
Die Funkgeräte seien speziell zu militärischen Zwecken konzipiert. Unverzichtbare und besondere Voraussetzung für den militärischen Einsatz sei die Abhörsicherheit durch Verschlüsselung und Härtung mittels Störfestigkeit gegen elektromagnetische Angriffe. Zudem seien die Funkgeräte mit einer Vielzahl von Wellenformen kompatibel, die eine lage- und auftragsabhängige Nutzbarkeit ermöglichten, um etwa die Funktionssicherheit der Kommunikation lageabhängig zu sichern, selbst wenn feindliche Kräfte mit elektronischer Kampfführung störten oder ungünstige äußere Bedingungen vorhanden seien.
Die Bundeswehr habe innerhalb ihres Einschätzungsspielraums nachvollziehbar dargelegt, dass gerade die konkrete Beschaffung der Funkgeräte wesentliche Sicherheitsinteressen berühre. Sie dienten der kriegs- bzw. einsatzentscheidenden Kommunikation der Heereskräfte und seien damit für die Verteidigungsfähigkeit elementar. Damit beträfen sie wesentliche Sicherheitsinteressen.
Nachgewiesen habe die Bundeswehr auch, dass der Verzicht auf die Anwendung europäischer Vergaberegeln erforderlich sei, um wesentlichen Sicherheitsinteressen zu wahren.
Ein milderes Mittel sei nicht ersichtlich. Sie habe dokumentiert, dass zur Wahrung wesentlicher Sicherheitsinteressen bei der Beschaffung ein hohes Maß an Vertraulichkeit erforderlich sei. Deshalb sei der Anbieterkreis für die digitalen Funkgeräte auf ein Unternehmen zu beschränken.
Ein wettbewerbliches Verfahren nach der VSVgV biete keinen hinreichenden Schutz. Der für diese Verfahren in § 6 Abs. 3 VSVgV und § 7 VSVgV geregelte Schutz der Vertraulichkeit sei bei der aktuellen Krisensituation und der Sensibilität der Informationen für die Verteidigungsfähigkeit nicht ausreichend.
Der Vergabesenat erläutert, dass entgegen der Auffassung der VK Bund für die Erforderlichkeit der Vergaberechtsfreiheit unerheblich sei, ob die Voraussetzungen nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 lit. c) VSVgV vorliegen.
Nach Erwägungsgrund 17 der der VSVgV zugrundeliegenden Richtlinie 2009/81/EG sei bei der Erforderlichkeit zwar zu prüfen, ob andere (ebenso effektive) Maßnahmen den Wettbewerb weniger behindern.
In Verfahren, in denen nach dem sonst einschlägigen Vergaberecht mit nur einem Bieter verhandelt werde, bestehe aber ebenfalls kein Wettbewerb. Solche Verfahren seien in diesem Kontext daher keine milderen Mittel und stünden einer Ausnahme nach § 107 Abs. 2 GWB i.V.m. 346 Abs. 1 AEUV nicht entgegen. Der Rechtsschutz anderer Unternehmen sei für die Annahme der Vergaberechtsfreiheit irrelevant, werde aber auch nicht verkürzt. Andere Unternehmen dürften auch hier überprüfen lassen, ob die Voraussetzungen für die Vergaberechtsfreiheit (nicht) vorliegen.
Die aufgehobene Ausschreibung habe hier schließlich auch nicht zu einer Selbstbindung der Bundeswehr geführt. Der russische Angriffskrieg stelle eine „Zeitwende“ dar und erforderte damit einen zusätzlichen Schutz der Geheimhaltungsinteressen, um das Erspähen militärisch sensibler Informationen so gering wie möglich zu halten. Es sei auch nicht ersichtlich, dass die sensiblen Informationen bereits der Öffentlichkeit zugänglich gewesen seien.
Der Entscheidung ist vollkommen zuzustimmen. Insbesondere die von der VK Bund abweichende Auffassung des OLG Düsseldorf ist systematisch korrekt und spiegelt die in den Erwägungsgründen niedergelegte Intention des Richtliniengebers wider.
Erwägungsgrund 27 der Richtlinie 2009/81/EG unterstreicht, dass einige Aufträge so sensibel sind, dass eine Anwendung der Richtlinie (und damit der VSVgV) trotz der Spezialität bei besonders sensiblen Beschaffungen, die ein äußerst hohes Maß an Vertraulichkeit fordern, unangebracht wäre. Das gilt ausdrücklich insbesondere im Zusammenhang mit nachrichtendienstlichen Tätigkeiten und Verschlüsselungen.
Der Einkauf von Elektrotechnik mit spezifischen militärischen Eigenschaften dürfte angesichts der zunehmend angespannten Weltlage immer häufiger den hohen Anforderungen an eine Vergaberechtsfreiheit nach § 107 Abs. 2 GWB i.V.m. Art. 346 Abs. 1 AEUV genügen.
Auftraggeber sind weitgehend frei darin, ihre wesentlichen Sicherheitsinteressen zu bestimmen. Es leuchtet auch ein, dass der Wettbewerb hinter wesentliche Sicherheitsinteressen tritt.
Welche Maßnahmen zur Wahrung dieser Interessen erforderlich sind, beurteilt sich losgelöst davon, ob das andernfalls einschlägige Vergaberecht ebenfalls den Verzicht auf ein wettbewerbliches Verfahren erlauben würde.
Auch bei Technik, die Auftraggeber früher noch in einem wettbewerblichen Verfahren beschafften, ist ein Kurswechsel zulässig. Das gilt insbesondere in Zeiten, in denen Spionage- und Abhörskandale (vornehmlich von chinesischer und russischer Seite) durch die Decke schießen.
Von überragender Bedeutung bleibt aber wie bei jeder Beschaffung eine ordnungsgemäße Dokumentation.
Auftraggeber müssen sich trotz der Erleichterungen vergegenwärtigen, dass die Vorgaben des Vergaberechts, vor allem wettbewerbliche Verfahren, nicht bloß Selbstzweck sind. Die beste Lösung entspringt in den meisten Fällen dem Wettbewerb. Mit einem größeren Anbieterkreis lassen sich Risiken bei der Auftragsausführung besser erkennen und ausmerzen.
Dass die beschafften Funkgeräte sich nicht in die Fahrzeuge einbauen oder aufladen lassen (etwa https://www.tagesschau.de/inland/bundeswehr-funkgeraete-100.html), sorgt immer wieder für Verwunderung und Schlagzeilen.
Trotz der Vergaberechtsfreiheit müssen Auftraggeber solchen Risiken bei der Auftragsausführung entgegenwirken. Denkbar wäre etwa eine vorbereitende Markterkundung, an der lediglich besonders streng vorgeprüfte (ausschließlich deutsche bzw. europäische) Unternehmen beteiligt sind. Mit einer ordnungsgemäßen Konzeption eines solchen Verfahrens ließen sich gegebenenfalls die Vorteile des Wettbewerbs und ein hohes Maß an Vertraulichkeit – auch im Zeitalter der Informationskriege – vereinen.
Machmud Gadjisade ist Rechtsanwalt in der Sozietät BHO Legal in Köln. Er ist seit Beginn seiner anwaltlichen Tätigkeit in einer Großkanzlei auf das Vergabe-, Verwaltungs- und IT-Recht spezialisiert und berät hierin Auftraggeber und Bieter. Er ist Autor in einem Praxiskommentar zum Vergaberecht und hat bereits eine Vielzahl von Schulungen durchgeführt
Ich kenne Sie von ihrer Podcast-Episode „Schon Vergeben?“ und schätze ihren Input seitdem sehr.
Auch hier haben Sie nicht enttäuscht. Vielen Dank.