Die Praxis der Vergabe von Rettungsdienstleistungen befindet sich nach wie vor im Fokus des Vergaberechts. Nachdem der letzte Beitrag unserer losen Serie zur Vergabe von Rettungsdienstleistungen die Praxis der öffentlichen Auftraggeber (Vergabestellen) beleuchtete (siehe den Beitrag des Autors hier), soll im Folgenden das Schlaglicht auf die aktuelle Praxis der Vergabenachprüfungsinstanzen gerichtet werden.
Hintergrund
Die Organisation des Rettungsdienstes in Deutschland fällt in die Zuständigkeit der Bundesländer und ist dementsprechend unterschiedlich ausgestaltet. In allen Bundesländern besteht derzeit ein bodengebundener Rettungsdienst (Krankentransport und Notfallrettung) in öffentlicher Trägerschaft (öffentlicher Rettungsdienst). Rettungsdienstleistungen werden in den meisten Bundesländern nach dem „Dualen System“ erbracht, das auch „Trennungsmodell“ genannt wird. Dieses Modell beruht auf der Unterscheidung zwischen dem öffentlichen Rettungsdienst, der etwa 70 % aller Rettungsdienstleistungen ausmacht, und der Erbringungen von Rettungsdienstleistungen aufgrund von Genehmigungen nach den einschlägigen Landesgesetzen, deren Anteil am Gesamtaufkommen dieser Dienstleistungen etwa 30 % beträgt.
In aller Regel führen die öffentlichen Träger der Rettungsdienste die notwendigen Dienstleistungen nicht selbst durch, sondern beauftragen Leistungserbringer (zumeist Hilfsorganisationen wie DRK, MHD, Johanniter etc.) mit deren Durchführung. In einigen Bundesländern kommt dabei das Submissionsmodell und in anderen das Konzessionsmodell zur Anwendung. Im Rahmen des Submissionsmodells erhalten die Leistungserbringer das Benutzungsentgelt unmittelbar vom Leistungsträger (dem Kreis oder der kreisfreien Stadt), wohingegen im Konzessionsmodell die Leistungserbringer die Höhe der Benutzungsentgelte mit den Sozialversicherungsträgern vereinbaren.
Durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ist inzwischen geklärt, dass bei der Vergabe von Aufträgen über Rettungsdienstleistungen nach dem Submissionsmodell das europäische Vergaberecht beachtet werden muss (siehe den Beitrag des Autors hier). Demgegenüber muss die Beauftragung von Rettungsdienstleistungen im Wege des Konzessionsmodells nicht im Wege förmlicher Vergabeverfahren erfolgen, weil es sich insoweit um Dienstleistungskonzessionen handelt. Bei der Vergabe von Dienstleistungskonzessionen müssen (lediglich) die Grundsätze des europäischen Primärrechts beachtet werden.
De-facto-Vergaben
Die Entscheidungspraxis der Vergabenachprüfungsinstanzen ist dieser grundlegenden Unterscheidung des EuGH gefolgt. Entscheidungen der Vergabekammern und der Vergabesenate bei den Oberlandesgerichten ergingen seither nur noch in den Bundesländern, in denen gesetzlich das Submissionsmodell vorgesehen ist.
Wenngleich insgesamt eine Kehrtwende in der Praxis der Vergabestellen ebenso wie in der Rechtsprechung der Nachprüfungsinstanzen festzustellen ist, gab es im vergangenen Jahr einige Nachprüfungsanträge, die mit Erfolg gegen sogenannte De-facto-Vergaben gerichtet wurden (vgl. z.B. VK Magdeburg, Beschluss vom 04.10.2011 – 1 VK LSA 17/11). Seit dem Inkrafttreten der letzten GWB-Vergaberechtsreform im April 2009 haben Wettbewerber nach § 101b Abs. 1 Nr. 2 GWB die Möglichkeit, die Unwirksamkeit eines unmittelbar einem Unternehmen erteilten Auftrags in einem Nachprüfungsverfahren feststellen zu lassen. Die Unwirksamkeit muss gemäß § 101b Abs. 2 GWB innerhalb von sechs Monaten nach Vertragsschluss oder – ab Kenntnis des Verstoßes – innerhalb von 30 Kalendertagen geltend gemacht werden.
Anders als in sonstigen Nachprüfungsverfahren, in denen ein Vergaberechtsverstoß nur dann mit Aussicht auf Erfolg geltend gemacht werden kann, wenn zuvor eine förmliche Rüge gemäß § 107 Abs. 3 S. 1 GWB erhoben wurde, bestimmt § 107 Abs. 3 S. 2 GWB dem Wortlaut nach ausdrücklich, dass „Satz 1 nicht bei einem Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrags nach § 101 b Abs. 1 Nr. 2 [also bei De-facto-Vergaben] gilt.“
Gleichwohl hat die Vergabekammer Sachsen vor kurzem die Ansicht geäußert, dass unter bestimmten Voraussetzungen dennoch von einer Rügepflicht des Antragstellers in einem Nachprüfungsverfahren auszugehen ist (Beschluss vom 31.08.2011 – 1/SVK/030-11, 1-SVK/30/11):
„Bei De-facto-Vergaben, bei denen also der öffentliche Auftraggeber kein Vergabeverfahren durchführt, entfällt grundsätzlich zunächst die Rügepflicht zwangsläufig. Führt jedoch der Auftraggeber kein Vergabeverfahren durch und ist der Unternehmer über diesen Umstand seit langem fortlaufend unterrichtet, ist es dem Antragsteller ohne weiteres möglich und zumutbar, dies gegenüber der Vergabestelle geltend zu machen. In diesen Fällen besteht auch ein Vertrauensverhältnis zwischen Vergabestelle und Unternehmen. In diesem Ausnahmefall besteht auch bei einer „De-facto-Vergabe“ eine Rügepflicht.“
Entscheidungen zu Einzelfragen
Da die Frage der Ausschreibungspflichtigkeit von Rettungsdienstleistungen nunmehr geklärt ist, hatte die Rechtsprechung der Nachprüfungsinstanzen in einigen Entscheidungen bereits Gelegenheit, zu Einzelfragen Stellung zu beziehen.
In einer Entscheidung vom 12. Januar 2012 hat das OLG Celle (13 Verg 9/11) ausführlich zu der Frage Stellung genommen, unter welchen Voraussetzungen Kriterien, die die personelle und sachliche Ausstattung der Bieter betreffen als Zuschlagskriterien in Betracht kommen. Instruktiv sind die Ausführungen des Vergabesenats dabei nicht nur für die Vergabe von Rettungsdienstleistungen. Vielmehr ist insoweit ein Problem angesprochen das sich (potenziell) bei nahezu jeder Vergabe von qualifizierten Dienstleistungen stellt.
Das OLG Naumburg hat mit Beschluss vom 22. Dezember 2011 (2 Verg 10/11) festgestellt, dass selbst bei einer Qualifizierung der Sonderrechtsbeziehung zwischen dem Aufgabenträger des bodengebundenen Rettungsdienstes und einem dritten Leistungserbringer als ein öffentlich rechtliches Auftragsverhältnis „eigener Art“ bei der Vergabe von Rettungsdienstleistungen ein öffentlicher Auftrag im Sinne von § 99 Abs. 1 und Abs. 4 GWB in Rede stehe und daher der Rechtsweg zum besonderen vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren nach §§ 104 ff. GWB eröffnet sei.
Nach Ansicht der Vergabekammer Düsseldorf dürfen auch im Bereich des Rettungsdienstwesens die Anforderungen an den potenziellen Auftragnehmer nicht überspannt werden. Mit vergaberechtlichen Grundsätzen nicht in Einklang zu bringen ist die Forderung des öffentlichen Auftraggebers, kostenlos zusätzliches Personal vorzuhalten, um eine adäquate Reaktion bei Großschadenslagen sicherzustellen (Beschluss vom 14.07.2011 – VK 02-2011-L).
Auswirkungen auf Altverträge
Vielen öffentlichen Auftraggebern dürfte sich im Zusammenhang mit der Beauftragung von Rettungsdienstleistungen derzeit außerdem die Frage stellen, ob bestehende – ursprünglich aber direkt vergebene – Verträge wirksam bleiben. Da es die Rechtsprechung bislang abgelehnt hat, eine Kündigungspflicht wegen eines Verstoßes gegen Vergaberecht anzunehmen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30.04.2009 – Verg 50/08) und zudem § 101b Abs. 2 GWB nunmehr Fristen in Bezug auf die Geltendmachung der Unwirksamkeit von De-facto-Vergaben vorsieht, dürften Altverträge regelmäßig wirksam bleiben.
Denkbar bleibt eine Nichtigkeit von Altverträgen nach § 138 Abs. 1 BGB. Eine Sittenwidrigkeit im Sinne dieser Vorschrift kommt nach der Rechtsprechung dann in Betracht, wenn ein öffentlicher Auftraggeber in bewusster Missachtung des Vergaberechts gehandelt hat und er überdies kollusiv (also bewusst und unerlaubt) mit dem Auftragnehmer zusammengewirkt hat.
Eine Verpflichtung zur Neuvergabe kann darüber hinaus durch Änderung eines bestehenden Vertrags begründet werden. Voraussetzung ist nach der Rechtsprechung des EuGH, dass wesentlich andere Merkmale in den Vertrag eingeführt werden und somit der Wille der Vertragsparteien zur Neuverhandlung wesentlicher Bestimmungen des Vertrags erkennbar wird (EuGH, Urteil vom 19.06.2008 – RS.C-454/06- „Pressetext“).
Nachdem durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt ist, dass in den Bundesländern, in denen das Submissionsmodell Anwendung findet, förmliche Vergabeverfahren durchzuführen sind und in den Bundesländern, in denen das Konzessionsmodell gilt, wettbewerbliche Verfahren unter Berücksichtigung des Europäischen Primärrechts erfolgen müssen, verlagert sich die Diskussion in der vergaberechtlichen Spruchpraxis zunehmend hin zu Einzelfragen der Beauftragung von Rettungsdienstleistungen. In dieser Hinsicht kommt es vor allem darauf an, die Anforderungen an die Leistungserbringung präzise vorzugeben. Hohe Bedeutung hat zudem insbesondere die Berücksichtigung der besonderen Erfordernisse eines Dienstleistungssektors im Bereich der Daseinsvorsorge. Bei der Vertragsgestaltung ist – u.a. mit Blick auf eine etwaige Ausschreibungspflicht von Vertragsänderungen – zu berücksichtigen, dass der Umfang der zu erbringenden Leistungen im Voraus regelmäßig nicht abschließend bestimmbar sein wird. Dies erfordert variable Vertragsbestimmungen und Öffnungsklauseln, ohne dass den Bietern die Kalkulation ihres Angebots über Gebühr erschwert wird.
Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Dort berät und vertritt er insbesondere öffentliche Auftraggeber, aber auch Unternehmen, in allen Fragen des Vergaberechts, ein Schwerpunkt liegt hierbei im Dienstleistungsbereich. Mehr Informationen finden Sie in unserem Autorenverzeichnis.
Thema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren.
Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Herr Dr. Ott berät und vertritt bundesweit in erster Linie öffentliche Auftraggeber umfassend bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsvorhaben. Auf der Basis weit gefächerter Branchenkenntnis liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Gestaltung effizienter und flexibler Vergabeverfahren. Daneben vertritt Herr Dr. Ott die Interessen der öffentlichen Hand in Nachprüfungsverfahren. Er unterrichtet das Vergaberecht an der DHBW und der VWA in Stuttgart, tritt als Referent in Seminaren auf und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichen. Er ist einer der Vorsitzenden der Regionalgruppe Stuttgart des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW).
Insbersondere zur kostenlosen Vorhaltung von Personal bei Großschadenslagen beachte jetzt auch die zweitinstanzliche Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 7.3.2012, Verg 82/11, zur schon erwähnten erstinstanzlichen Entscheidung der VK Düsseldorf vom 14.7.2011.
Bernhard Fett, Dresden
Gerade bei Rettungsdienstleistungen zeigt sich die weitverbreitete Unsicherheit vieler Akteure. Hätte der öffentliche Auftraggeber in den erwähnten Fällen keine „kostenlose“ Vorhaltung gefordert, sondern die Möglichkeit geschaffen, hierfür einen Preis anzugeben, wäre die Angelegenheit wohl nicht bei VK/OLG gescheitert.
Eine ähnliche Diskussion gibt es bei der Frage: „Ist Katastrophenschutz ein vergabefremdes Kriterium?“ Diese Frage stellt sich nur, wenn die Vergabestellen Vorhalteleistungen kostenlos erbracht haben wollen.
Wenn die öffentliche Hand Leistungen des Bevölkerungsschutzes haben will, dann muss auch ein Preis dafür angegeben werden können. Dies dient auch einer gewissen Kostentransparenz.
Vermutung (die schon in der Praxis bestätigt wurde): Wenn bislang Vorhalteleistungen ohne umfangreichen Kostenersatz erbracht wurden, wird der bei neuen Ausschreibungen verlangte Preis auch nicht exorbitant sein.