Das geltende EU-Vergaberecht enthält in Art. 2d Abs. 4 der Richtlinie 89/665/EWG (Rechtsmittelrichtlinie) mit der sog. „Freiwilligen ex-ante-Transparenz“ eine Möglichkeit für Auftraggeber, das zeitliche Risiko der Unwirksamkeitsfeststellung eines geschlossenen Vertrages über einen öffentlichen Auftrag deutlich zu reduzieren. Eine Regelung, die der Gesetzgeber in der Bundesrepublik Deutschland nicht umgesetzt hat, obwohl sie nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Generalanwalts beim EuGH zwingende Vorschrift in allen Mitgliedstaaten ist.
Art. 2d Abs. 4 Richtlinie 89/665/EWG, § 101b GWB
Leitsatz (aus dem Italienischen)
Art. 2d Abs. 4 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge, geändert durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 11. Dezember 2007 ist dahin auszulegen, dass die Bestimmung für den Fall, dass eine öffentliche Auftragsvergabe ohne vorherige Veröffentlichung einer Vergabebekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union erfolgt, ohne dass dies gemäß der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge zulässig war, ausschließt, dass der entsprechende Vertrag für unwirksam erklärt wird, sofern die Voraussetzungen der Vorschrift tatsächlich vorliegen, was das vorlegende Gericht überprüfen muss.
Sachverhalt
Die Abteilung für öffentliche Sicherheit des italienischen Innenministeriums hatte 2003 einen Vertrag mit Telecom Italia zur Entwicklung seiner Telekommunikationsdienste geschlossen, den die Parteien in der Folge mehrfach bis zum 31.12.2011 verlängerten. In Anbetracht des herannahenden Auslaufens des Vertrages stellte der Auftraggeber Überlegungen an, ob der Vertrag nunmehr ausgeschrieben werden müsste. Er kam zum Ergebnis, dass nur ein Wirtschaftsteilnehmer – nämlich Telecom Italia – in der Lage sei, den Auftrag auszuführen, und zwar aufgrund technischer Erwägungen und da Telecom Italia einige zur Auftragsdurchführung erforderliche Exklusivrechte besitze. Gestützt auf Art. 28 Abs. 1 lit. e der Richtlinie 2009/81/EG nahm der Auftraggeber deshalb an, er könne den Auftrag im Verhandlungsverfahren ohne Vergabebekanntmachung vergeben. Am 12.12.2011 forderte der Auftraggeber sicherheitshalber noch ein Gutachten des staatlichen Rechtsamtes an, welches ihm am 20.12.2011 „grünes Licht“ für die beabsichtigte Vorgehensweise gab. Am gleichen Tag veröffentlichte der Auftraggeber eine „Freiwillige ex-ante-Transparenzbekanntmachung“ im Amtsblatt der Europäischen Union; drei Tage später lud er Telecom Italia zu den Vertragsverhandlungen ein, die am 31.12.2011 im Vertragsschluss über die Lieferung elektronischer Kommunikationsdienstleistungen mit einer Laufzeit von sieben Jahren im Wert von 521,5 Mio. EUR mündeten. Am 16.02.2012 veröffentlichte der Auftraggeber daraufhin die ex-post-Bekanntmachung über die Auftragsvergabe im Amtsblatt der Europäischen Union. Erst diese rief den Telecom Italia-Konkurrenten Fastweb auf den Plan, welcher das Vergabeverfahren vor dem zuständigen Verwaltungsgericht anfocht.
Fastweb machte in diesem Nachprüfungsverfahren geltend, dass die vom Auftraggeber angeführten Gründe für die Direktvergabe nicht stichhaltig seien. Fastweb forderte darüber hinaus die Erklärung der Unwirksamkeit des Vertrages. Das Verwaltungsgericht teilte die Auffassung von Fastweb, dass die Voraussetzungen für die Vergabe des Auftrages im Verhandlungsverfahren ohne Bekanntmachung nicht vorlagen. Aufgrund der Veröffentlichung der „Freiwilligen ex-ante-Transparenzbekanntmachung“ sah das Verwaltungsgericht aber nicht die Voraussetzungen für die „automatische“ Erklärung der Unwirksamkeit des geschlossenen Vertrages gegeben. Stattdessen machte das Verwaltungsgericht von einer Bestimmung der italienischen Verwaltungsprozessordnung Gebrauch, die ihm eine Ermessensentscheidung über die Erklärung der Unwirksamkeit des Vertrages einräumte, und erklärte den Vertrag für ab dem 31.12.2013 unwirksam.
Auftraggeber und Telecom Italia fochten das Urteil vor dem Staatsrat an. Dieser bestätigte einerseits die Auffassung von Fastweb und dem Verwaltungsgericht, dass entgegen der Ansicht des Auftraggebers die Voraussetzungen für eine Direktvergabe nicht vorlagen und es insbesondere keine technischen Gründe oder Exklusivrechte zugunsten von Telecom Italia gab, die einen Wettbewerb über die Durchführung des Auftrages per se ausschlossen. Der Staatsrat bezweifelte aber, dass ein Nachprüfungsorgan den zwischen Auftraggeber und Telecom Italia geschlossenen Vertrag nach erfolgter „Freiwilliger ex-ante-Transparenzbekanntmachung“ noch für unwirksam erklären könne, und wandte sich an den EuGH mit der Frage, ob Art. 2d Abs. 4 Rechtsmittelrichtlinie eine solche Möglichkeit zulässt.
Die Entscheidung
Antwort: Nein. Der EuGH stellt klar, dass die Nachprüfungsinstanz nach der Veröffentlichung der „Freiwilligen ex-ante-Transparenzbekanntmachung“ gemäß Art. 2d Abs. 4 Rechtsmittelrichtlinie einen Vertrag nicht mehr für unwirksam erklären kann, sofern die drei in der Bestimmung hierfür vorgesehenen Bedingungen vorliegen (Rn. 42 des Urteils), nämlich:
- Der Auftraggeber ist der Ansicht, dass die Auftragsvergabe ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union gemäß der Richtlinie 2004/18/EG zulässig ist.
- Der Auftraggeber hat im Amtsblatt der Europäischen Union eine Bekanntmachung veröffentlicht, wie sie in Artikel 3a Rechtmittelrichtlinie beschrieben ist und mit der er seine Absicht bekundet, den Vertrag abzuschließen.
- Und der Vertrag wurde nicht vor Ablauf einer Frist von mindestens zehn Kalendertagen, gerechnet ab dem Tag nach der Veröffentlichung dieser Bekanntmachung, abgeschlossen.
Liegen diese drei Voraussetzungen vor, kann die Nachprüfungsinstanz den Vertrag nicht mehr für unwirksam erklären, selbst wenn sich im Laufe des Nachprüfungsverfahrens herausstellt, dass die Annahme des Auftraggebers, dass er den Auftrag im Verhandlungsverfahren ohne Vergabebekanntmachung vergeben kann, nicht zutreffend war. Der EuGH stellt allerdings auch klar, dass die 1. Voraussetzung nur dann als gegeben angesehen werden kann, wenn
- die Gründe, die den Auftraggeber zur Ansicht verleitet haben, der Auftrag könne im Verhandlungsverfahren ohne Bekanntmachung vergeben werden, aus der „Freiwilligen ex-ante-Transparenzbekanntmachung“ (Art. 3a Rechtsmittelrichtlinie) hervorgehen, und
- der Auftraggeber mit Sorgfalt vorging und so annehmen durfte, dass tatsächlich die Voraussetzungen für die Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Bekanntmachung vorliegen.
Rechtliche Würdigung
Der EuGH stellt klar, dass die Rechtswirkung der rechtskonformen Veröffentlichung einer „Freiwilligen ex-ante-Transparenzbekanntmachung“ in der unumstößlichen Wirksamkeit des Vertrages besteht.
Dies hat schwerwiegende Auswirkungen auf den Bieterrechtsschutz – auch im nationalen Recht. Laut § 114 Abs. 2 GWB kann ein wirksam erteilter Zuschlag nicht mehr aufgehoben werden. Nach Veröffentlichung der rechtskonformen „Freiwilligen ex-ante-Transparenzbekanntmachung“ und dem Ablauf der zehntätigen Stillhaltefrist gemäß Art. 2d Abs. 4 Rechtsmittelrichtlinie verliert ein übergangener Bewerber somit jede Aussicht auf einen erfolgreichen Nachprüfungsantrag, der auf die Feststellung der Unwirksamkeit des geschlossenen Vertrages zielt und damit jede Chance auf Erteilung des dann bereits anderweitig vergebenen Auftrages. Die fehlende Umsetzung des Art. 2d Abs. 4 Rechtsmittelrichtlinie in nationales Recht stellt ein Umsetzungsdefizit dar, das durch unmittelbare Anwendung der Vorschrift im nationalen Recht bzw. richtlinienkonforme Auslegung von § 101b GWB zu beseitigen ist. Das in der Vorschrift den öffentlichen Auftraggebern eindeutig eingeräumte Recht kann im Wege nationaler Umsetzung nicht abgeschnitten werden.
Der EuGH stellt zudem klar, dass eine Nachprüfungsinstanz Europarecht verletzt, wenn sie einen Vertrag trotz einer rechtskonform veröffentlichten „Freiwilligen ex-ante-Transparenzbekanntmachung“ für unwirksam erklärt (Rn. 42 des Urteils).
Praxistipp
Trotz der fehlenden nationalen Umsetzung des Art. 2d Abs. 4 Rechtsmittelrichtlinie können sich öffentliche Auftraggeber auch in der Bundesrepublik Deutschland der Möglichkeit und Privilegierung einer „Freiwilligen ex-ante-Transparenzbekanntmachung“ bedienen, um sich bei der Vergabe von Aufträgen im Verhandlungsverfahren ohne Bekanntmachung rechtlich abzusichern und frühzeitig mit kurzen „Einspruchsfristen“ Klarheit hinsichtlich der Bestandkraft geschlossener Verträge zu schaffen.
Potentiell übergangene Wettbewerber eines Konkurrenten, der im Wege der „Direktvergabe“ beauftragt werden soll, sind gut beraten, die Veröffentlichungen im Amtsblatts der Europäischen Union nicht nur hinsichtlich Bekanntmachungen über zu vergebende und vergebene Aufträge, sondern auch hinsichtlich möglicher „Freiwilliger ex-ante-Transparenzbekanntmachungen“ zu beobachten und zu prüfen. Im Falle von „Freiwilligen ex-ante-Transparenzbekanntmachungen“ ist dabei schnelles Handeln geboten, um Rechtspositionen und insbesondere anderweitige Beauftragungen effektiv zu verhindern.
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