Die EU-Kommission hatte Anfang des Jahres ein „Grünbuch über die Modernisierung der europäischen Politik im Bereich des öffentlichen Auftragswesens – Wege zu einem effizienten europäischen Markt für öffentliche Aufträge“ herausgegeben. Ein Grünbuch dient dem Zweck eine öffentliche und wissenschaftliche Diskussion zu einem bestimmten Thema herbeizuführen, insb. zur Vorbereitung geplanter Verordnungen und Richtlinien. Dazu haben die Kommunalen Spitzenverbände und der Verband Kommunaler Unternehmen e.V. (VKU) nun Stellung bezogen. Der Tenor: Mehr Freiheit bei der Vergabe öffentlicher Aufträge – u.a. durch eine Verdopplung der geltenden Schwellenwerte.
Die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände sowie der VKU begrüßen die Absicht der Kommission, die Vergaberichtlinien zu vereinfachen und zu flexibilisieren. Einer praxisgerechten und effizienten Handhabung des Vergaberechts komme insbesondere aus Sicht der Kommunen sowie der kommunalen Unternehmen eine besondere Bedeutung zu.
Plädoyer für die Kaskade
Die Stellungnahme spricht sich für die Beibehaltung der derzeitige Unterscheidung zwischen Bauarbeiten, Liefer- und Dienstleistungsaufträgen aus. Die kommunale Vergabepraxis habe sich hierauf eingestellt und komme damit gut zurecht. Die Kommission solle aber prüfen, inwieweit bei gemischten Aufträgen klarere Abgrenzungskriterien entwickelt werden könnten. Auch sei eine Präzisierung der Definition des „Bauauftrags“ insoweit nötig, als dass es einer Klarstellung bedürfe, dass die Vergabe eines öffentlichen (Bau-)Auftrags grundsätzlich einen Beschaffungswillen voraussetze.
Verdopplung der Schwellenwerte
Eine Anhebung der Schwellenwerte, hier insbesondere im Bereich der Liefer- und Dienstleistungen sei “dringend erforderlich”. Nicht kleckern, sondern klotzen ist dabei die Devise: “Eine Verdopplung der Schwellenwerte ist wünschenswert.” Eine Wettbewerbsverzerrung befürchtet man dadurch nicht. Auch sei zu beobachten, dass das “äußerst diffizile und komplexe europäische Vergaberecht” dazu geführt habe, dass sich KMU zunehmend nicht mehr an solchen Verfahren beteiligen. Im Rahmen einer Güteabwägung sei daher festzustellen, dass bei einer Erhöhung der Schwellenwerte “die Vorteile eventuelle Nachteile weit überwiegen”.
Mehr Flexibilität
Als “zu detailliert” wird das geltende Vergaberecht bewertet. Dies sollte zugunsten einer größeren Effizienz und Wirtschaftlichkeit zurückgedrängt und durch größere Entscheidungsspielräume der Auftraggeber ersetzt werden. Die bislang vorgesehenen Verfahren ermöglichten diesen nicht immer die Erzielung bestmöglicher Ergebnisse. Die Forderungen gehen weit:
“Beispielhaft sei auf die erforderliche Vorabbekanntmachung von Wertungskriterien hingewiesen. Auch die Gewichtung von Kriterien ist zu nennen. Dies hat in der kommunalen Vergabepraxis zur Folge, dass Entscheidungen, die eigentlich wertenden Charakter haben, in ein mathematisches Schema „gepresst“ werden müssen, obwohl sie einer schematischen Betrachtung eigentlich nicht zugänglich sind. Als weiteres Beispiel kann das Erfordernis der Nennung von Mindestanforderungen für Varianten genannt werden (Art. 24 Abs. 3 RL 2004/18/EG). […] Da bereits kleinste Verstöße gegen diese Vorgaben die Gefahr von vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren nach sich ziehen, gehen die öffentlichen Auftraggeber zur Gewinnung von Rechtssicherheit häufig dazu über, gänzlich auf Varianten (Nebenangebote) zu verzichten.”
Im Hinblick auf eine Erweiterung der Handlungsspielräume für Auftraggeber wie -nehmer sollte es auch einen größeren Spielraum zur Anwendung des Verhandlungsverfahrens mit vorheriger Vergabebekanntmachung geben. Dieses sollte nicht auf einzelne Auftragsgegenstände oder Auftraggeber beschränkt sein. Der Gefahr des Missbrauchs könne mit erweiterten Vorschriften zur Transparenz begegnet werden.
Gut und besser geeignet
Auch beim Dogma “Kein Mehr an Eignung” sollten praxisnah Ausnahmen möglich sein, so die Berücksichtigung früherer Erfahrungen mit einem Bieter.
Unterhalb der Schwellenwerte
…wird kein Handlungsbedarf für Brüssler Legislativ-Aktionismus gesehen. Es bestehe kein Bedürfnis für einen europäischen Regelungsansatz, da ein vergaberechtsfreier Raum im Unterschwellenbereich “faktisch nicht existiert”. Durch die Regelungen der VOB bzw. VOL würden Wettbewerb sowie Transparenz und Nichtdiskriminierung umfänglich im nationalen nationalen Bereich gewährleistet.
Außer oder in-House?
Naturgemäß das kommunale Thema mit Blick auf interkommunale Kooperationen. Wie gewohnt spricht man sich daher dafür aus, dass eine öffentliche Stelle ihre im allgemeinen Interesse liegenden Aufgaben auch in Zusammenarbeit mit anderen öffentlichen Stellen erfüllen können müsse. Auch hier bestehe kein Bedarf einer Regelung, da die jüngste EuGH-Rechtsprechung (C-324/07) diesbzgl. “klar und präzise” sei. Zudem habe der EuGH mit Urteil v. 9. Juni 2009 (C-480/06) festgestellt, dass das Gemeinschaftsrecht den öffentlichen Stellen für die gemeinsame Wahrnehmung ihrer öffentlichen Aufgaben keine spezielle Rechtsform vorschreibe.
Sollte die Kommission gleichwohl der Auffassung sein, hier regelnd tätig werden zu müssen, wird vorgeschlagen, dass in Fällen der vertikalen/ institutionalisierten Zusammenarbeit (z. B. in Form von Zweckverbänden) diese unter folgenden kumulativen Kriterien vergaberechtsfrei sein sollen:
• es handelt sich um die Erbringung einer allen beteiligten Kommunen obliegenden öffentlichen Aufgabe,
• die Aufgabe wird ausschließlich durch öffentliche Stellen, also ohne Beteiligung Privater, wahrgenommen und
• die Tätigkeit wird im Wesentlichen für die beteiligten öffentlichen Stellen verrichtet.
Interessant: Letzeres, im Rahmen der sog. Teckal-Rechtsprechung des EuGH entwickeltes “Wesentlichkeitskriterium” müsse dann nicht erfüllt sein, wenn Kommunen auf vertraglicher Basis miteinander kooperieren (sog. horizontale/nicht institutionalisierte Zusammenarbeit). Grund: Das Wesentlichkeitskriterium sei “allein für Inhouse-Konstellationen entwickelt worden und daher nur für diese Formen einschlägig”.
Hier erscheint die Argumentation doch etwas vom gewünschten Ergebnis getragen. Der EuGH hatte in besagter Rechtsprechung gerade festgestellt, dass allein die Beteiligung der öffentlichen Hand an einer juristischen Person des Privat- oder des öffentlichen Rechts nicht ausreichend, um ein Geschäft dem Anwendungsbereich des Vergaberechts zu entziehen – selbst dann dann, wenn diese Beteiligung dazu führt, dass diese juristische Person selbst als öffentlicher Auftraggeber anzusehen sei: Es gebe keine allgemeine Ausnahme für Verträge mit Auftragnehmern, die selbst den Pflichten des Vergaberechts unterliegen (siehe dazu ausführlich unsere Analyse der Teckal-Rechtsprechung hier).
Bieterwechsel
Ein Recht des Auftraggebers zu Bieterwechsel /Auftragsbeendigung wird befürwortet. Das Recht zur Auftragsbeendigung immer dann, wenn die praktische Ausführung des Auftrags gefährdet erscheint. Dabei sollten spezifische Verfahren für die Auswahl der neuen Bieter vorgesehen werden, z.B. den Zweitplazierten mit der Auftragsausführung zu betrauen oder ein Verfahren mit den Bietern, die ursprünglich am Verfahren teilgenommen haben zu eröffnen.
Unteraufträge
Die Stellungnahme plädiert dafür, den Auftraggebern mehr Möglichkeiten für eine Beeinflussung der Vergabe von Unteraufträgen zu geben, da die Vergabe eines Unterauftrags größeren Umfangs u.U. dazu führen könne, dass die Ausführung des Vertrags gefährdet werde. So wird insbesondere die im Grünbuch aufgeführte Alternative der prozentualen Begrenzung der Unterauftragsvergabe und das Recht des Auftragsgebers auf Ablehnung des Unterauftragnehmers als praxistauglich befürwortet. Letzteres sei zu reglementieren, um Willkür vorzubeugen.
KMU
Hier sieht man keine weitere Notwendigkeit der Förderung, jedenfalls nicht durch eine weitere Stärkung der losweisen Vergabe. Das Vergaberecht sei “bereits hinreichend KMU-freundlich”. Eine stärkere Förderung von KMU, z. B. durch strikte Verpflichtungen, Aufträge in Lose aufzuteilen, würde den Verwaltungsaufwand auf Seiten der Auftraggeber nicht unerheblich erhöhen und “ist daher abzulehnen” – klare Aussage. Auftraggeber sollten im Hinblick auf den konkreten Auftragsgegenstand selbst entscheiden können, ob eine Aufteilung in Lose sinnvoll ist oder nicht.
Termin im Juni
Deutlich mehr Freiheit also und möglichst wenig neue Brüssler Regularien, so lässt sich die Stellungnahme zusammen fassen. Für die Kommunalen Spitzenverbände und den VKU steht die Praxistauglichkeit des Vergaberechts im Vordergrund. Den Vergabestellen wird dabei ein relativ großer Vertrauensvorschluss zugestanden.
Wie sehr man am Ende die europäischen Vergaberichtlinien tatsächlich anpacken wird, ist völlig offen. Nur ein Stum im Wasserglas wird es allerdings wohl nicht sein, denn für den 30. Juni 2011 hat die Kommission eine nach eigenen Angaben “hochrangig besetzten Konferenz über die Reform des öffentlichen Auftragswesens” angesetzt. Dies soll, so wörtlich, “in die Formulierung geeigneter Legislativvorschläge einmünden”.
Die vollständige Stellungnahme der Kommunalen Spitzenverbände und des Verbands Kommunaler Unternehmen e.V. (VKU) finden Sie hier.
Thema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren.
Der Jurist Marco Junk gründete im Jahr 2007 den Vergabeblog und 2010 gemeinsam mit Dipl.-Betriebsw. Martin Mündlein das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW). Er begann seine berufliche Laufbahn im Jahr 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und war danach als Bereichsleiter Vergaberecht beim Digitalverband bitkom tätig. Im Jahr 2011 leitete er die Online-Redaktion des Verlags C.H. Beck. Von 2012 bis 10/2014 war er Mitglied der Geschäftsleitung des bitkom und danach bis 10/2021 Geschäftsführer des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. Seit 2022 ist Marco Junk zudem als Leiter Regierungsbeziehungen für Eviden tätig. Seine Beiträge geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
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