In kaum einem Beschaffungsbereich wie dem der digitalen Alarmierung für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr (Feuerwehr, Rettungsdienste, Zivil- und Katastrophenschutz) ist es derzeit so schwierig, die Ertüchtigung oder die Einführung der Infrastruktur zielgerichtet zu beauftragen. Hintergrund ist, dass es sich zum einen um ein komplexes technisches (digitales) Gewerk handelt und zum anderen in jüngerer Zeit neue Anbieter und Verschlüsselungsmethoden auf den Markt gekommen sind.
So stehen den öffentlichen Auftraggebern bei der Beschaffung mittlerweile die drei Verschlüsslungsverfahren AES-128, Boskrypt oder DiCAl-Idea zur Auswahl, wobei DiCal-Idea zurzeit als De-facto-Standard bei den deutschen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) gelten kann. Hinzu kommen neue Anbieter für die digitalen Alarmumsetzer (DAU) und die Notwendigkeit der Einhaltung der Datenschutzgrundverordnung auch im Bereich der Alarmierung.
Vor diesem Hintergrund hat sich ergeben, dass viele europaweite Vergabeverfahren deutschlandweit angegriffen, gerügt und Nachprüfungsanträge gestellt wurden. Zahlreiche Verfahren mussten aufgehoben werden. Gegenstand der vergaberechtlichen Auseinandersetzungen waren stets eine (vermeintlich) unterbliebene Losaufteilung und bestimmte produktspezifische Vorgaben sowie die Kriterien für die Eignung der Bieter und die Zuschlagsmethodik.
Mittlerweile liegen erste Entscheidungen des OLG Düsseldorf (Beschl. v. 16.10.2019, VII-Verg 66/18) und der Vergabekammer Baden-Württemberg (Beschl. v. 29.10.2019, 1 VK 53/19) vor, die sich als richtungsweisend für öffentliche Auftraggeber herausstellen dürften. Diese Entwicklung in der Rechtsprechung entfaltet außerdem erhebliche Relevanz für Vergabeverfahren in anderen technisch geprägten Märkten (Maßnahmen der Digitalisierung der Verwaltung, IT-Vergaben, Technologieprojekte, etc.).
Maßgeblicher Ausgangspunkt ist dabei immer, ob es sich um die Ertüchtigung der bestehenden Infrastruktur der digitalen Alarmierung handelt oder ob eine gänzlich neue Infrastruktur „auf der grünen Wiese“ errichtet werden soll.
Das Gebot der Losaufteilung
Öffentliche Auftraggeber müssen nach § 97 Abs. 4 S. 2 GWB das Gebot der Losaufteilung beachten. Danach sind Leistungen der Menge nach aufgeteilt (Teillose) und getrennt nach Art oder Fachgebiet (Fachlose) zu vergeben. Damit sollen die mittelständischen Interessen gefördert werden, also ein erleichterter Zugang für kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) zu öffentlichen Aufträgen geschaffen werden. Diese Berücksichtigung erfolgt vornehmlich durch Teilung der Aufträge in Fach- und Teillose.
Von diesem Gebot der Losaufteilung darf der öffentliche Auftraggeber aber nach § 97 Abs. 4 S. 3 GWB abweichen, sofern hierfür technische oder wirtschaftliche Gründe sprechen.
Erforderlich ist hierfür nach der Rechtsprechung, dass der öffentliche Auftraggeber im Rahmen der ihm obliegenden Entscheidung die widerstreitende Belange (Gründe für eine Gesamtlosvergabe vs. Mittelständische Interessen) umfassend abwägt. Hierbei müssen aber im Ergebnis die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden Gründe nicht nur anerkennenswert sein, sondern auch überwiegen.
Im Hinblick auf die Beschaffung der Fernmeldeempfänger kommt daher beispielsweise eine Aufteilung der Menge in Teillose in Betracht. Hinsichtlich der Infrastruktur wäre eine Aufteilung beispielsweise in digitale Alarmumsetzer (DAU), Antennenbau und Service- und Wartungsvertrag denkbar. In der Regel wollen die Aufgabenträger die Leistungen jedoch „aus einer Hand“ haben, um so in Bezug auf die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben ein Höchstmaß an Betriebssicherheit zu gewährleisten. Dieses Abweichen vom Gebot der Losaufteilung aus technischen Gründen wird nun obergerichtlich anerkannt.
So stellt das OLG Düsseldorf in seiner Entscheidung fest, dass das ausgeschriebene Alarmierungssystem keine bloße Ansammlung von Einzelkomponenten darstellt, sondern ein Gesamtsystem; in dem verschiedene digitale Komponenten aufeinander abgestimmt sein müssen. Die Erbringung aller Leistungsschritte „aus einer Hand“ diene dem legitimen Ziel des Antragsgegners, ein Höchstmaß an Betriebssicherheit zu gewährleisten, welches gerade bei Systemen zur Abwehr von Gefahren für Leib und Leben eine Gesamtvergabe rechtfertigen kann. Nach Ansicht des OLG durfte daher angesichts der Bedeutung des Gesamtsystems für die Gefahrenabwehr besonderer Wert auf die Gesichtspunkte Systemsicherheit und Funktion gelegt werden. Zusätzlich durfte bei der Interessenabwägung auch berücksichtigt werden, dass die Verwendung von Komponenten unterschiedlicher Lieferanten die „Fehlersuche“ und die Behebung etwaiger Störungen erschweren. Das Risiko, dass sich bei Alarmierungsfehlern die Fehlersuche wegen unklarer Verantwortlichkeiten verschiedener Lieferanten erschwert und verzögert, ist ein berechtigtes Interesse des Auftraggebers, welches durch die gesamthafte Vergabe ausgeschlossen werden kann.
Diese Gesichtspunkte und Voraussetzungen für eine vergaberechtlich zulässige gesamthafte Vergabe vor dem Hintergrund des Schutzes von Leib oder Leben sind daher besonders bei der Interessensabwägung zu berücksichtigen. Diese konzeptionellen Überlegungen sind umfassend in der Vergabeakte zu dokumentieren und rechtfertigen dann in der Regel eine Abweichung vom Gebot der Losaufteilung.
Gebot der Produktneutralität
Das Gebot der Produktneutralität dient der Wettbewerbsstärkung. In der Leistungsbeschreibung darf daher nicht auf eine bestimmte Produktion oder Herkunft oder ein besonderes Verfahren, das die Erzeugnisse oder Dienstleistungen eines bestimmten Unternehmens kennzeichnet, verwiesen werden, wenn dadurch bestimmte Unternehmen oder bestimmte Produkte begünstigt oder ausgeschlossen werden. Ziel des Gebots der Produktneutralität ist daher, dass keine einzelnen Bieter bevorzugt werden.
Denkbar ist beispielsweise der Fall, dass ein Aufgabenträger aufgrund guter Erfahrungen in der Vergangenheit ein Interesse daran hat, nicht den Hersteller der Meldeempfänger wechseln zu müssen oder selbst bei einer Neuerrichtung der notwendigen Infrastruktur für die digitale Alarmierung den bisherigen Anbieter behalten zu wollen.
Ähnlich wie bei Losproblematik gilt auch in diesem Zusammenhang, dass kein vergaberechtlicher Verstoß gegen das Gebot der Produktneutralität (§ 31 Abs. 6 VgV) vorliegt, wenn der Auftraggeber aus sachlichen Gründen von diesem Gebot abweicht.
Eine Produktvorgabe aus technischen Gründen ist daher beispielsweise sachlich gerechtfertigt, wenn im Interesse der Systemsicherheit und Funktion eine wesentliche Verringerung von Risikopotentialen (Risiko von Fehlfunktionen, Kompatibilitätsproblemen) bewirkt wird. Eine solche produktspezifische Ausschreibung wird aber grundsätzlich nur bei einer Ertüchtigung der Infrastruktur oder der Beschaffung von Meldeempfängern im bestehenden System möglich sein.
Bei dem Aufbau der digitalen Infrastruktur „auf grüner Wiese“ sind dagegen kaum Gründe denkbar, welche eine produktspezifische Ausschreibung vergaberechtlich rechtfertigen können.
Dem öffentlichen Auftraggeber bleibt es aber unbenommen, im Rahmen seines Leistungsbestimmungsrechts hohe Anforderungen an das System zu stellen, sofern er den Markt nicht ohne sachlichen Gründe einengt.
Dokumentation
Eine besondere Herausforderung ist die von den Gerichten inzwischen sehr streng kontrollierte umfassende Dokumentation des Vergabeverfahrens. Daher müssen zwingend bereits vor der Einleitung des Verfahrens alle wesentlichen Entscheidungen nachvollziehbar im Vergabevermerk dokumentiert sein. Dies umfasst insbesondere eine aussagekräftige Interessensabwägung, falls vom Gebot der Losaufteilung abgewichen werden soll, aber auch die sachlichen Erwägungsgründe für eine ggf. erfolgende produktspezifische Ausschreibung.
Kontribution
Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Rechtsanwalt Dr. Schildknecht verfasst.
Der Autor Dr. Markus Schildknecht ist Rechtsanwalt bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Er ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.
Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Herr Dr. Ott berät und vertritt bundesweit in erster Linie öffentliche Auftraggeber umfassend bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsvorhaben. Auf der Basis weit gefächerter Branchenkenntnis liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Gestaltung effizienter und flexibler Vergabeverfahren. Daneben vertritt Herr Dr. Ott die Interessen der öffentlichen Hand in Nachprüfungsverfahren. Er unterrichtet das Vergaberecht an der DHBW und der VWA in Stuttgart, tritt als Referent in Seminaren auf und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichen. Er ist einer der Vorsitzenden der Regionalgruppe Stuttgart des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW).
0 Kommentare