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Dringlichkeitswettbewerb: Immer drei sie sind? (KG Berlin, Beschl. v. 10.05.2022 – Verg 1/22)

EntscheidungDer „Wettbewerb light“ bei Dringlichkeit: eine illustre Figur des Vergaberechts, die ihre Existenz zwar nicht dem Gesetzgeber, dafür aber dem nicht minder relevanten Schöpfungswillen der Rechtsprechung verdankt. Das Kammergericht hat in einer jüngeren Entscheidung nun noch einmal „einen oben draufgelegt“.

§ 178 Satz 3, 4 GWB; § 14 Abs. 4, § 17 Abs. 5 VgV

Leitsatz

1. Auch im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb muss ein Mindestmaß an Wettbewerb gewährleistet sein und es müssen zumindest drei Angebote eingeholt werden.

2. Die für eine Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 14 Abs. 4 VgV bestehenden Voraussetzungen liegen nicht vor, wenn die Interimsvergabe Folge eines fehlerhaft betriebenen Vergabeverfahrens ist.

3. Bei einer unmittelbaren Gefährdung der Versorgungssicherheit im Bereich der Daseinsvorsorge ist § 135 Abs. 1 GWB dahin einschränkend auszulegen, dass zur Gewährleistung der Kontinuität der Versorgungsleistung von der Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrages abgesehen wird. Dies hindert nicht die Feststellung, dass der Vertrag vergaberechtswidrig unter Verstoß gegen § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zustande gekommen ist.

Sachverhalt

Gegenstand der Entscheidung war der Betrieb von Corona-Testzentren für den Monat Dezember 2021 mit Verlängerungsoption für Januar 2021. Die Vergabe erfolgte interimsweise direkt an den Bestandsdienstleister, da ein Nachprüfungsverfahren die eigentliche Ausschreibung verzögert hatte. Der Auftraggeber hatte diese reguläre Ausschreibung allerdings auch erst am 20. September 2021, also nicht einmal drei Monate vor Leistungsbeginn, eingeleitet.

Der im regulären Verfahren ausgeschlossene Bieter griff auch die Interimsvergabe an.

Die Entscheidung

Teilweise mit Erfolg.

Keine Dringlichkeit

Das Kammergericht stellte zunächst fest, dass die Voraussetzungen der Dringlichkeit nicht vorlagen. Die Verzögerung durch das Nachprüfungsverfahren sei dem Auftraggeber zuzurechnen. Erstens habe er den Antragsteller in dem vorangegangenen Verfahren zu Unrecht ausgeschlossen. Die Verzögerung sei daher durch ein fehlerhaft betriebenes Vergabeverfahren verursacht worden.

Zweitens habe der Auftraggeber einen Monat zu spät mit der Ausschreibung begonnen. Und zumindest für den Zeitraum ab Januar 2022 habe er auch noch ein separates, offenes Verfahren durchführen können, dafür reiche ein Zeitraum von sechs Wochen.

Dringlichkeitswettbewerb: mindestens drei Vergleichsangebote

Außerdem hätte der Auftraggeber aus Sicht des Gerichts auch bei einer Dringlichkeitsvergabe ein Mindestmaß an Wettbewerb eröffnen müssen, indem er so wörtlich: „zumindest drei Vergleichsangebote einholt“.

Rechtsfolge: keine Unwirksamkeit im Kontext der Daseinsvorsorge

Das Gericht sah im Ergebnis aber von der Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrags ab, weil es sich um den Bereich der Daseinsvorsorge handelte.

Es legte dabei Wert auf die dogmatische Klarstellung, dass die Vergabe dennoch rechtswidrig sei und zumindest diese Rechtswidrigkeit festgestellt würde. Es distanzierte sich dabei von Entscheidungen des OLG Frankfurt (Beschluss vom 30. Januar 2014 – 11 Verg 15/13) und des OLG Rostock (Beschluss vom 9. Dezember 2020 – 17 Verg 4/20), die im Fall der Daseinsvorsorge unabhängig von der Frage der Zurechnung – stets auch die Dringlichkeit bejaht hätten.

Rechtliche Würdigung

Wer zu spät ausschreibt, ist selber schuld

Im Ergebnis war es im entschiedenen Fall sicher richtig, das Vorliegen der Dringlichkeit zu verneinen.

So, wie sich der Sachverhalt liest, war für den Auftraggeber das Auslaufen des Bestandsvertrags lange vorher absehbar gewesen und da es sich offenbar um eine Folgevergabe handelte, dürfte hier auch nicht viel vorzubereiten gewesen sein. Unter dieser Prämisse beanstandet das Kammergericht zu Recht, dass der Auftraggeber zu lange mit der Folgeausschreibung gewartet hat, da ein Zeitraum von weniger als drei Monaten für ein offenes Verfahren tatsächlich sehr knapp kalkuliert ist.

Allerdings hätte sich die Ausschreibung in gleicher Weise durch ein erfolgloses Nachprüfungsverfahren verzögert. Abgesehen davon darf man dem Auftraggeber auch nur solche Ursachen zurechnen, die im Vorfeld erkennbar waren, was für den späteren Ausgang eines Nachprüfungsverfahrens sicher nicht anzunehmen ist.

Zurechnungsbegründend dürfte daher im Kern der äußerst knappe Ausschreibungsbeginn gewesen sein, der sachlich offenbar durch nichts zu rechtfertigen war.

Wettbewerb durch mindestens drei Vergleichsangebote?

Unklar ist, weshalb das Kammergericht nach dieser Feststellung überhaupt noch ein Wort zum Thema Dringlichkeitswettbewerb  verliert. Noch weniger verständlich erscheint die Behauptung, der Auftraggeber müsse auch bei Dringlichkeit zumindest drei Vergleichsangebote einholen. (Drei Vergleichsangebote? Zusätzlich zu dem eingeholten? Also vier insgesamt?)

Das Kammergericht begründet diese Aussage nicht näher, sondern verweist lediglich auf eine Entscheidung des OLG Rostock (Beschluss vom 9. Dezember 2020 – 17 Verg 4/20) und eine weitere des Bayrischen Oberlandesgerichts (Beschluss vom 20. Januar 2022 – Verg 7/21).

Was sagen andere Gerichte?

Tatsächlich jedoch ergibt sich aus den zitierten Entscheidungen nichts dergleichen. Das OLG Rostock nannte keine Zahl und das Bayrische Oberste Landesgericht erklärte lediglich in Bezug auf den konkret entschiedenen Fall, dass drei Angebote einen ausreichenden Wettbewerb gewährleisteten. Das sagt aber nichts darüber aus, wieviele Angebote in anderen Fällen einzuholen sind.

Im Gegenteil bekräftigt das Bayrische Oberste Landesgericht:

„In diesem Kontext ist die Formulierung „so viel Wettbewerb wie möglich“ dahingehend zu verstehen, dass ein angemessenes Maß an Wettbewerb erforderlich ist. Das Oberlandesgericht Rostock stellt nicht die Forderung auf, bei dringlichen Vergaben so viele Bieter zur Angebotsabgabe aufzufordern wie möglich.“

Es soll also auch nicht erforderlich sein, so viele Angebote möglich einzuholen, sondern nur ein im Einzelfall angemessenes Maß. Wie dieses Maß zu ermitteln sein soll, bleibt offen, aber jedenfalls ist es wohl weniger als das Mögliche.

Kritik

Die Einholung von drei (oder vier?) Angeboten ist weder notwendig, noch hinreichend, um dem Wettbewerbsgrundsatz zu genügen.

Dass es nicht dreier Konkurrenten bedarf, um einen echten Wettbewerb zu erzeugen, sehen wir schon in Sport und Politik. Ob im Fuß-, Hand- oder Volleyball: stets stehen zwei Mannschaften im Wettbewerb. Das gleiche gilt im (Tisch-) Tennis: es gibt zwei Kontrahenten. Ob Demokraten gegen Republikaner, ob tories gegen labour: „it takes two“. Ach ja: Und wieviele Schachduelle zu dritt haben Sie schon gesehen?

Andererseits: auch das Einholen von unzähligen Vergleichsangeboten ist für sich genommen – in keiner Weise geeignet, eine willkürliche Auftragsvergabe zu verhindern oder auch nur zu erschweren. Ohne grundlegende vergaberechtliche Spielregeln, wie etwa eine  transparente, nicht-diskriminierende Leistungsbeschreibung oder ebensolche Zuschlagskriterien kann kein Wettbewerb entstehen.

Natürlich gilt der vergaberechtliche Wettbewerbsgrundsatz als übergeordnetes Prinzip auch im Dringlichkeitsfall. Aber ebenso gilt, dass von öffentlichen Auftraggebern nichts Unmögliches verlangt werden darf. Die Rahmenbedingungen eines funktionierenden Wettbewerbs herzustellen, erfordert aber in aller Regel Zeit. Und die hat der Auftraggeber im (echten) Dringlichkeitsfall gerade nicht.

Die Forderung nach ein bisschen Wettbewerb bei ein bisschen Dringlichkeit ist eine Mogelpackung, die niemandem hilft: nicht den Bietern, denen gerade kein echter Wettbewerb gewährt wird und auch nicht den Auftraggebern, denen suggeriert wird, dass sie zu Krisenzeiten mit drei Angeboten immer auf der sicheren Seite sind.

Umgekehrt wird doch ein Schuh daraus: Wenn Wettbewerb möglich ist, dann liegt auch kein Fall der Dringlichkeit vor. Und wenn Dringlichkeit vorliegt, ist kein Wettbewerb möglich. Dann aber muss es auch zulässig sein, den Auftrag direkt zu vergeben.

Praxistipp

Die Festlegung auf die Zahl drei markiert wohl den vorläufigen Höhepunkt einer zunehmend kreativen Rechtsprechung im Dringlichkeitskontext. Aus Anwendersicht bleibt zu hoffen, dass sich die Spruchpraxis zukünftig wieder weniger schöpferisch betätigt.

Auftraggebern ist zu empfehlen, Dringlichkeitsvergaben auf echte Dringlichkeitsfälle zu beschränken. Gerade dieser Fall zeigt es deutlich: nicht überall, wo Corona draufsteht, ist auch Dringlichkeit drin. Ähnlich sieht es aktuell im Fall des Ukraine-Kriegs aus.


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Über Dr. Valeska Pfarr, MLE

Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte, Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.

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3 Kommentare

  1. LRD Bernhard Fett

    Frau Pfarr lässt leider gut begründete anders lautende Rechtsprechung außer Betracht. So hat das OLG Karlsruhe, Beschluss vom 4.12.2020, 15 Verg 8/20, die Pflicht zur Einholung von drei Angeboten auch im Verhandlungsverfahren ohne EU-Teilnahmewettbewerb eingefordert und mit den rechtlich verankerten Regelungen in § 51 Abs. 1 und insbesondere § 51 Abs. 2 S. 1 VgV begründet, die gerade keine Ausnahme für das Verhandlungsverfahren ohne EU-Teilnahmewettbewerb vorsehen. Dafür spricht auch, dass der Gesetzgeber in der Pandemie 2020/21 zwar § 17 Abs. 6 VgV (30-tägige Angebotsfrist gilt nur noch im Verhandlungsverfahren mit EU-Teilnahmewettbewerb) – angepasst hat, nicht aber § 51 VgV.

    Reply

  2. Anonymous

    … UND RUND DAMIT WIRD ES:

    Dafür spricht zudem auch, dass der Gesetzgeber im neuen § 17 Abs. 15 VgV die Bestimmungen der §§ 9-13, 53 I, 54 und 55 VgV bei äußerst dringlichen Vergabeverfahren nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV dispensiert hat, nicht aber den oben schon angesprochenen § 51 VgV.

    LRD Bernhard Fett

    Reply

  3. Valeska Pfarr

    Sehr geehrter Herr Fett,

    vielen Dank für Ihre Anmerkung! Leider kann mich der Verweis auf § 51 Abs. 2 Satz 1 VgV allerdings nicht überzeugen. Aus zwei Gründen:

    1. Meines Erachtens bezieht sich die in § 51 Abs. 2 Satz 1 VgV vorgesehene Mindestzahl drei recht eindeutig allein auf Verhandlungsverfahren mit EU-Bekanntmachung. Die Vorschrift knüpft an Absatz 1 Satz 2 an. Der regelt u.a., dass Auftraggeber im Falle der Begrenzung der Teilnehmer die vorgesehene Mindestzahl in der Auftragsbekanntmachung (oder einer Aufforderung zur Interessensbestätigung) anzugeben haben. Der Fall eines Verhandlungsverfahrens ohne eine solche Auftragsbekanntmachung ist hier also gar nicht erfasst.

    Deutlicher formuliert dies noch der zugrunde liegende Art. 65 Abs. 2 RL 2014/24/EU:

    „Die öffentlichen Auftraggeber geben in der Auftragsbekanntmachung oder in der Aufforderung zur Interessensbestätigung die von ihnen vorgesehenen objektiven und nichtdiskriminierenden Kriterien oder Vorschriften, die vorgesehene Mindestzahl und gegebenenfalls auch die Höchstzahl der einzuladenden Bewerber an.
    Bei nichtoffenen Verfahren beträgt die Anzahl mindestens fünf Bewerber. Bei Verhandlungsverfahren, wettbewerblichen Dialogen und Innovationspartnerschaften beträgt die Anzahl mindestens drei Bewerber. (…)“

    2. Wenn § 51 Abs. 2 VgV tatsächlich dazu verpflichten würde, in allen Fällen eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 14 Abs. 4 VgV drei Angebote einzuholen, dann müsste dies auch § 14 Abs. 4 Nr. 2 VgV erfassen – also den Fall, in dem überhaupt nur ein Unternehmen die betreffende Leistung erbringen kann?

    Mit freundlichen Grüßen
    Valeska Pfarr

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